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Vorwort

Chlada-2004

 

9-15

Wohl kaum jemand hat derzeit einen schlechteren Ruf, als der "Weltverbesserer". Doch will man auf die Verbesserung der Welt keineswegs verzichten. Der schnellere Rechner, die neue Generation des Mobil-Telefons sind durchaus erwünscht. Allein im Universum der Technik darf ungestraft von "Durchbruch", "Vision" und "Revolution" gesprochen werden, kurz: Der Ingenieur liefert das Modell des Weltverbesserers unserer Zeit. An die Stelle der klassischen Utopie, die sich vom technischen Fortschritt eine Entlastung des Menschen erträumte, sind Industrie und Werbung getreten, die uns ein phantastisches und angenehmeres Leben versprechen.

Die Realität sieht freilich anders aus. Nie war der Mensch derart im Stress und von Lärm umgeben, als im Zeitalter der Elektronik. "Lasst das Stille-Virus frei!", heißt es in <Nova Express> (1964) von William S. Burroughs — eine nach wie vor utopische Forderung. 

Die Utopie steht unter dem Verdacht, "totalitär" und "ideologisch" zu sein.  Doch scheint das Unbehagen an der Utopie weniger Resultat einer Furcht vor der Diktatur, als vielmehr die Angst vor ihrer Antwort zu sein auf die Frage, warum wir trotz Plasma-Bildschirm und Internet noch immer nicht im Reich der Freiheit leben. Denn die [Antwort] lautet: ohne sozialen Fortschritt, ist der technische für die Katz’. 

Im Klartext: Technischer Fortschritt unter den Bedingungen des Kapitalismus führt zu sozialem Rückschritt. Wer’s nicht schon weiß, ahnt es bereits. Wie die soziale Realität, bewegt sich die soziale Phantasie auf unsicherem, weil kaum erforschtem Boden. Ihn zu betreten erfordert einen Willen, den die meisten, ohnehin verunsicherten Menschen kaum aufzubringen bereit sind. Wie der Realitätssinn auf das Bestehende, bleibt der "Möglich­keitssinn" (Robert Musil) primär auf die Sehnsucht, den Traum beschränkt, auf das, was im angelsächsischen Sprachraum neben "Utopia" auch als "Eldorado" oder "Shangri-La" bezeichnet wird.

Eine "Groteske in Rosa" hat Emil Cioran die Utopie genannt. Er wusste um die Gefahren, die im utopischen Denken stecken. Dennoch hielt er am Geist der Utopie fest:

"Wenn man diesem Phantasieren ein Ende machte, müsste eine totale Stagnation die Folge sein. Wir handeln nur in der Bezauberung durch das Unmögliche, das heißt soviel wie: eine Gesellschaft, die unfähig ist, eine Utopie zu erzeugen und sich ihrem Dienst zu weihen, ist von Sklerose und Ruin bedroht."

Noch wird phantasiert und geträumt, allerdings abstrakt. "Der Herr der Ringe und die Sehnsucht nach einer anderen Welt", titelte der <Stern>, als die Verfilmung des Tolkien-Stoffes durch Peter Jackson in die Kinos kam. Kritiker sehen im Erfolg der Trilogie nur mehr die Flucht aus der Realität, die Flucht in eine Welt, die übersichtlich ist, in eine Welt, in der Gut und Böse scharf getrennt sind. Tatsächlich ist Tolkiens Universum nicht weniger komplex als die Realität. Es kostet Zeit und Mühe, die Welt von Mittelerde zu erkunden, ihre vielfältigen Völker kennenzulernen, ihre Sprachen zu studieren und sich mit ihren fremden Sitten vertraut zu machen. 

Man kann - ja man muss - diese Welten kritisieren. Doch vorab müssen wir anerkennen, warum diese Welten überhaupt funktionieren, wieso sie die Massen bezaubern. Nämlich darum, weil jeder von uns ein tiefes "Misstrauen gegen die Autorität" (David Brin) in sich trägt. Von <Star Wars> bis <Harry Potter>, vom <Herr der Ringe> bis <Matrix> ist die Denunziation der Macht, einer Macht, die Menschen, Hobbits usw. um ein selbstbestimmtes Leben bringen will, das konstante Thema — so allgemein, dass wir es kaum noch bewusst wahrnehmen.

Der vorliegende Band unternimmt einen Streifzug durch die Welt der süßen Träume und sozialen Phantasien von der Antike bis zur Gegenwart.  

Dabei musste vieles, was im weitesten Sinne der Utopie zugeschlagen werden muss, auf der Strecke bleiben, sei es die Tradition des "Fürstenspiegels" oder die der "Gelehrtenrepubliken"; ebenso der Surrealismus, der wie keine zweite Bewegung der Kunstgeschichte das "Wunderbare" auf seine Fahnen schrieb. Ebenfalls außen vor blieb die breite esoterische Linie, die entweder kräftig aus dem Mythos Atlantis schöpft (z. B. Madame Blavatsky und Rudolf Steiner) oder aus utopischen Texten okkulte Theorien abzuleiten versucht — ein Beispiel dafür wäre die "Vril-Kraft" aus Edward Bulwer-Lyttons Roman Das kommende Geschlecht (org. <The Coming Race>, 1871), die manche Zeitgenossen tatsächlich entdeckt haben wollen. 

Dass uns auf dem Weg durch die Geschichte der Utopie dennoch ab und an Trolle, Drachen und Androiden begegnen, liegt daran, dass im Folgenden zwischen Utopie, Fantasy und Science Fiction nicht getrennt wird, da eine solche Trennung niemals klar und eindeutig verlaufen kann. Dazu kommt, dass nicht wenige AutorInnen, die klassische Utopien schreiben, auch in anderen (nicht weniger utopischen) Genres zu Hause sind (z. B. William Morris und Ursula K. Le Guin). 

Thema dieses Buches ist nicht ein bestimmter Typ von Utopie, wie ihn etwa Richard Saage unter der Voraussetzung genau gefasster Kategorien erforscht, sondern das Wesen der Utopie, die "Sehnsucht nach dem Anderen" (Max Horkheimer). 

Das Andere kann auf verschiedene Weise in Erscheinung treten. Jack London präsentiert uns in seinem Roman <Die eiserne Ferse> (org. The Iron Heel, 1907) beispielsweise das Dokument einer gescheiterten Revolution, das in einer fernen Zukunft veröffentlicht wurde, nachdem die folgende Revolution gelungen war. Wie diese Zukunft aussieht, können wir nur erahnen, indem wir sie aus dem Text "ableiten". 

Darüber hinaus muss das Andere nicht immer den uns bekannten (oder akzeptierten) Regeln entsprechen, sondern kann unsere (gewohnten) Vorstellungen sprengen, wie etwa der intelligente Ozean in Solaris (1961) von Stanislaw Lem.  

 

Aus diesem Grund spürt der vorliegende Band die Utopie in den imaginären Welten der Comic-Strips und des Rollenspiels ebenso auf, wie in den Texten der Zapatistas. Den roten Faden bildet dabei die Geschichte des klassisch-utopischen Denkens, mit dem Ziel, dessen Vielfalt anhand von bekannten und weniger bekannten Texten zur Diskussion zu stellen. 

Diese Geschichte beginnt mit dem Mythos vom Goldenen Zeitalter sowie den zahlreichen Legenden um die "Glückseligen Inseln", welche fröhliche Bilder eines erotischen und sorgenfreien Lebens bereit halten, die von den großen Utopisten, von Lukian bis Marshall McLuhan, immer wieder angeführt werden.

Das, was wir heute "politische Utopie" zu nennen pflegen, hat seinen Ursprung in der (Sozial-) Philosophie der Antike. Mit seiner Schrift Politeia liefert Plato den ersten bedeutenden Entwurf einer rational durchdachten Polis: "Nun wollen wir in Gedanken einen Staat von Anfang an entstehen lassen. Es schafft ihn aber, so glaube ich, unsere eigene Bedürftigkeit." Die Politeia ist der Idee der Gerechtigkeit gewidmet, ein Gedanke, dem die Utopie bis heute verpflichtet bleibt. Ernst Cassirer hat Plato den "Begründer und ersten Verteidiger des Rechtsstaats" genannt und nachdrücklich darauf hingewiesen, dass dessen Idealstaat kein Hier und Jetzt besitzt, sondern vielmehr ein Paradigma, eine Norm und ein Vorbild für menschliches Handeln darstellt.

 

Mit dem Sieg des Christentums bringt das Mittelalter zwei neue Formen der Utopie hervor. Zum einen die Sage vom Schlaraffen­land, eine Art "Volksutopie", welche das Pfaffentum aufs Korn nimmt; zum anderen eine philosophisch-politische, die sich an christlichen Werten abarbeitet. Beispiele dafür wären Dantes Plädoyer für eine universelle Monarchie unter der Voraussetzung einer Trennung von Kirche und Staat, sowie Christine de Pizans Angriff auf die Ansichten der Theologen über das Wesen und die Stellung der Frau in der Gesellschaft. 

Darüber hinaus spielt die Suche nach dem, häufig im Osten lokalisierten, "irdischen Paradies" eine Rolle, die christliche Odyssee des St. Brendan sowie das phantastische Reich des Priesterkönigs Johannes, dem zahlreiche Länder angehören, das der Brahmanen ebenso, wie das der Amazonen: "Unser Land strömt über von Honig", verspricht der legendäre Johannesbrief, der im letzten Drittel des 12. Jahrhunderts in zahlreichen Abschriften die Runde macht, "und hat überall Milch im Überfluss". Noch John Mandeville und Marco Polo werden in ihren Reiseberichten von diesem Märchenland erzählen.

Die Renaissance bringt jenen Text hevor, der dem Genre seinen Namen gab: die Utopia (1516) von Thomas Morus. Der "beste Staat" ist nicht mehr irgendwo im Ideenhimmel oder in einem mystischen Garten Eden aus längst vergangenen Tagen zu suchen, sondern auf einer Insel in der Gegenwart. Im Zuge der Entdeckung und Erkundung der Neuen Welt werden die Klassiker der Antike im Sinne der neuen Ideale transformiert. So setzt etwa Francis Bacon der Atlantis-Erzählung Platos seine Schrift Neu-Atlantis (org. Nova-Atlantis, 1624) entgegen, wobei er Alt- bzw. Groß-Atlantis mit Amerika identifiziert. Dieses Insel-Muster bleibt über lange Zeit hinweg stilbildend bis weit in die Zeit der Aufklärung hinein, mit Ausnahme von Louis-Sébastien Mercier, der 1771 sein utopisches Gemeinwesen im Jahre 2440 ansiedelt.

 

Einen radikalen Bruch im utopischen Denken vollzieht erst wieder H.G Wells mit seinem "Roman" <Jenseits des Sirius> (org. <A Modern Utopia>, 1905), indem er unsere Welt einfach auf eine andere versetzt. Da er dort auf sein "utopisches Ich" trifft, kann er erkunden, wie er sich in einem anderen Milieu entwickelt hat. Selbst stark von Darwin beeinflusst, ist Wells bemüht, gängige Rassentheorien seiner Zeit ad absurdum zu führen, die zur Legitimation des Kolonialismus herangezogen wurden. Der angeblich kriminelle, stinkende, kranke und unterentwickelte Wilde stolziert jenseits des Sirius wohlgenährt durch die Straßen. 

"Er kommt, wie die meisten Utopier, daher, als habe er Grund, auf irgend etwas stolz zu sein und keinen Grund, irgend etwas in der Welt zu fürchten." Um zu demonstrieren, dass es keine "minderwertigen Rassen" gibt, versucht Wells den Nachweis zu führen, dass es keine "höherentwickelten Rassen" geben kann. Auch verwirft Wells sämtliche Utopien, die den modernen Ansichten von Pluralismus und Individualität zuwider laufen; Massen­veranstaltungen und "Herdentrieb" sind jenseits des Sirius unbekannt. Letztlich könne die Utopie nicht mehr auf einer Insel, sondern nur noch global verwirklicht werden.

Das utopische Denken der Moderne, das sich spätestens seit Wells kritisch gegen sich selbst richtet, hat noch einen weiteren Strang hervorgebracht, der die beunruhigenden Tendenzen seiner Zeit weiterspinnt und auskundschaftet: die Dystopie (auch Schwarze, Negative oder Anti-Utopie genannt). Ein berühmtes Beispiel für einen dystopischen Entwurf ist der Roman <1984> von George Orwell aus dem Jahre 1949. Die von Orwell ausgegebenen Parolen des "Neusprech", ursprünglich als Kritik am Stalinismus formuliert, gehören mittlerweile zum festen ideologischen Repertoire westlicher Mediengesellschaften: "Krieg ist Frieden", "Freiheit ist Sklaverei", "Unwissenheit ist Stärke". 

Postmoderne AutorInnen setzen darum auf das, was der amerikanische Literaturwissenschaftler Tom Moylan als "kritische Utopie" bezeichnet hat und heute in der Science Fiction, insbesondere im Cyberpunk, zum Ausdruck kommt: kleine, dezentrale Gegengesellschaften, darauf angelegt, Sexismus, Rassismus und die Diktatur des Kapitals ("Globalisierung") subversiv zu unterlaufen. 

Moylan bezieht sich in seinen Analysen postmoderner Utopien u. a. auf Michel Foucault, der versucht hat, das (inzwischen entstellte) Bild der klassischen Utopie durch die Heterotopie zu ersetzen, reale Orte oder Bewegungen, die auf eine andere Zukunft verweisen, indem sie Elemente aus dieser bereits vorwegnehmen. 

Wenn wir dieser grob skizzierten Linie folgen, dann vor allem immer mit Blick auf die Ränder dieser Entwicklung. Ausschau halten, vom Festland der Gegenwart (reale Welten) auf andere Inseln (phantastische Welten) übersetzen, bleibt eine permanente Aufgabe. Ebenso, die abstrakte Utopie in konkrete zu überführen. Diese Übersetzungen hat Ernst Bloch in Geist der Utopie (1918), Spuren (1930) oder Das Prinzip Hoffnung (1954) in Angriff genommen. 

Er war der erste Philosoph, der das Wesen der Utopie, wie es beispielsweise im Wort "utopisch" zum Ausdruck kommt, bereits in den "schäbigsten Tagräumen" erblickte, der gezeigt hat, dass Utopie sich nicht auf den "Staatsroman" reduzieren lässt. Das Prinzip Hoffnung, diese utopische Enzyklopädie, bleibt nach wie vor Ausgangspunkt (Philosophie) und Instrument (Karte) für die Erkundung fremder, noch unbekannter Welten, auch wenn in postmodernen Zeiten nicht jeder Satz darin unterschrieben werden kann. Allerdings darf Kritik, die immer auch Selbstkritik sein muss, nie dahin kommen, das Bestehende zu legitimieren.

Das Andere ist nie sicher. Unbekanntes Territorium zu erforschen kann auch bedeuten, sich in Gefahr zu begeben. Bereits die Expedition kann scheitern, nicht weniger als das Planspiel und Experiment. Der Gefahr des Scheiterns wegen wollte Hans Jonas das <Prinzip Hoffnung> durch das <Prinzip Verantwortung> (1979) ersetzen. Allerdings bleibt fraglich, ob ein solches Prinzip ausreicht, angesichts der Tatsache, dass die weltweit herrschende Politik und Ideologie unter Verantwortung nur mehr Arbeit, Sozialabbau, Ausschluss, Krieg sowie den permanenten Ausbau öffentlicher wie privater Überwachungs- und Kontrollsysteme versteht. 

Der Dramatiker Heiner Müller hat in dieser Hinsicht mehr Klarsicht bewiesen. Er hat aus dem Prinzip Hoffnung ein weiteres abgeleitet, und diesem an die Seite gestellt, nämlich das Prinzip Zweifel. "Ohne Utopie", so Müller, "kann man nicht leben. Nicht auf Dauer, ohne Schaden zu nehmen. Sicher, man kann mit dem Fickbomber nach Bangkok fliegen, dazu freilich braucht man keine Utopie." 

Marvin Chlada, Isckar, 2004  

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Chlada, Marvin, Der Wille zur Utopie