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Kian fand sich hässlich. Seine Nase war zu breit geraten. Sein Kinn stand zu weit vor. Seine Ohren waren zu groß. Im Mund spürte er oft einen leichten Fäulnisgeschmack.

Er musste fast immer grinsen, wenn jemand ihn anblickte. Sein Gesicht verzog sich allein zu einem Grinsen, ohne dass er es wollte. Richtig lachen konnte er nicht. Sein Lachen klang hölzern und sein Mund blieb steif, wenn er lachte, als würde er gurgeln.

Er beobachtete sich genau, deshalb wusste er das. Und er wusste auch, was es bedeutete. Jemand, der nur grinste und nicht lachen konnte, war irgendwie anbiedernd, wie ein geprügelter Hund, der Schutz und Wärme suchte. Und so einer wollte er nicht sein. Dabei stimmte es wahrscheinlich, dass er Schutz und Wärme suchte, auch wenn er selbst darüber grinsen musste. Nur im Halbschatten schien ihm sein Gesicht interessant zu sein. Dann sah es streng aus und ein wenig unheimlich und das gefiel ihm. Es ließ auf Charakter schließen, den er sonst nicht hatte. Sonst zerfloss in ihm alles, was auf ihn eindrang. Er wurde ständig umhergeschoben, von einer Entscheidung zur andern.

So gut kannte er sich schon, dass er das sagen konnte. Er hatte sowieso nicht die Kraft, sich zu ändern. Außerdem wusste er nicht, wie er werden wollte, also hatte es auch keinen Sinn zu überlegen, wie er sich ändern könnte. Höchstens schlimme Veränderungen traute er sich zu.

Sein Kopf pendelte manchmal zwischen Bildern umher, die ihn erschreckten.

Seiner Mutter hatte er einmal alle Finger abgeschnitten. Sie hatte am Küchentisch gesessen und er hatte Brot geschnitten und dabei hatte er sich zusehen können, wie er das Messer hob und sie die Hände still hielt, als er ihr die Finger abschnitt.

Und in der Nacht darauf hatte er geträumt, dass er seinem Vater den Kopf abgeschnitten hätte. Ohne Kopf hatte sein Vater mit ihm geredet. Er hatte seinen Physiklehrer gefragt, der neben ihm stand, wie es möglich sei, dass jemand ohne Kopf reden könne.

- Köpfe sind aus Stoff und Stoff muss nicht sichtbar sein, hatte ihm der Physiklehrer erklärt.

Manchmal stellte er sich vor, dass er während eines Gesprächs jemandem die Augen ausstechen würde. Einfach die Hand auszustrecken, die Finger zu spreizen und zuzustechen, das konnte so schwierig doch nicht sein. Es erstaunte ihn, dass noch niemand auf diese Idee gekommen war.

Dann wieder sah er Würmer über die Gesichter fremder Leute kriechen. Münder öffneten sich und waren voll von dem Getier. Haut platzte und die Tierchen badeten im Blut.

Er dachte, dass es eine Auszeichnung war, die Würmer zu sehen. Bestimmt sah sie nicht jeder. Er konnte sie sehen, obwohl er wusste, dass sie nicht da waren. Er hatte es schwerer als andere, viel schwerer. Er lebte irgendwo am Rand von etwas ganz Schlimmem.

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Außerdem erweiterte sich sein Wissen dadurch. Die vielen schönen Dinge, an die andere glaubten, waren nur harmloses Gerede. Wer sein Wissen hatte, konnte an etwas Schönes gar nicht mehr glauben. Jeder log doch im Grunde, wenn er von schönen Dingen redete. 

Er dachte eben negativ. Er glaubte niemandem eine Schwärmerei oder ein Lob oder etwas dergleichen. Jedes Lob war nur vorgetäuscht, wer lobte, wollte nur zeigen, dass er loben konnte. Jedes Lob lobte nur den Lobenden selber.

Er sah nun einmal schärfer als andere. Andere lebten in den Tag hinein, wie in Daunenbetten, während er über Glasscherben schritt und zwar mit nackten Füßen.

 

Seine Träume bestätigten das.

Einmal hatte er von einem Lexikon geträumt. Das Lexikon lag auf einem Stehpult. Er blätterte darin und las einen Artikel unter dem Stichwort Juden-Fiaker. Er konnte die Worte genau erkennen.

Juden-Fiaker: Ösen in den Mänteln und Kleidern der Juden im Mittelalter, die um Geländer geschweißt oder gepresst waren.

Unter dieser Erklärung war eine Zeichnung: Ein wehender Mantel, stürmisch voranschreitende Füße und in dem Mantel eine Öse, die um ein Geländer geschwungen war. Erst mit dieser Zeichnung verstand er auch den Sinn der Worte. Die Juden durften sich im Mittelalter offenbar nur an Geländern durch die Städte bewegen. 

Und die letzte Bemerkung des Artikels hatte gelautet: Die Juden-F. wurden nur vorübergehend genutzt. Dieser Traum hatte ihn fast noch mehr erschreckt als der über Hitler. Jetzt dachte er sich im Traum also schon Foltermethoden aus. Und Juden kannte er gar nicht. Er kannte nicht einen einzigen Juden.

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Nach dem Aufstehen hatte er im Waschbecken ein Haar seiner Mutter entdeckt.

- Das ist bestimmt ein jüdisches Haar, hatte er gedacht und war auch darüber erschrocken. Den ganzen Vormittag lang waren ihm die Worte Jude und jüdisch nicht aus dem Kopf gekommen.

In einem anderen Traum war er mit einer Machete bewaffnet durch ein Flugzeug gelaufen, das ins Meer gestürzt war. Er wollte die Evakuierung der Fluggäste organisieren. Er ließ Seile aus dem Flugzeug werfen, von denen die Passagiere aus dem Flugzeug klettern sollten. Als ein Mann sich vordrängeln wollte, schlug er ihm mit der Machete die Hand ab. Die anderen Passagiere blickten betreten zur Seite. Der Mann verkroch sich in einem Gebüsch, das Flugzeug stand plötzlich auf einem Hügel. Er sah die Hand des Mannes in einer Plastiktüte. Die Evakuierung gelang aber, auf Skiern fuhren die Passagiere den Hügel hinab, direkt in ein Theater hinein, in dem ein Märchenstück gespielt wurde. Er war noch nie mit einem Flugzeug geflogen und eine Machete kannte er nur aus Abenteuerbüchern und trotzdem träumte er so und das bedrückte ihn.

Sich selbst hatte er im Traum einmal den Penis abgerissen. Er hatte ein langes Stück Haut auf seinem Penis entdeckt, das wie ein Schlauch zur Seite hing, und als er die Haut abziehen wollte, hatte er gleich den ganzen Penis abgerissen. Glücklicherweise hatte er da beim Arzt gesessen und der Arzt hatte ihm den Penis wieder annähen können.

Und weil er solche Dinge träumte, glaubte er nicht an das Gute.

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Es wunderte ihn auch, dass er oft an die Juden dachte, obwohl er schon vor dem Wort erschrak, als wäre allein dieses Wort verboten.

Sein Vater redete nie über die Juden. Nur die Konzentrationslager erwähnte er manchmal, aber in denen waren ja meist Kommunisten umgebracht worden. Sogar die Haut hatten die Nazis den Kommunisten abgezogen und für Lampenschirme benutzt, das war eigentlich unvorstellbar. Kurz nachdem sie von der Schule aus ein Konzentrationslager besucht hatten, hatte er zu hungern begonnen, weil er sehen wollte, wie weit er abmagern konnte. Lange hatte er das aber nicht durchgehalten. Sogar die Augenhöhlen hatte er sich vor dem Spiegel schwarz gemalt, um verhungert auszusehen.

Er wollte damit zu den Schwachen gehören, zu denen, die Widerstand leisteten. Widerstand war doch immer etwas Heroisches. Wogegen er Widerstand leisten wollte, wusste er nicht so genau.

Seinen Vater hätte er gerne näher befragt, wie das damals bei den Nazis mit den Konzentrationslagern war, aber der erzählte nur immer die gleiche Geschichte. Oder er lobte die Kameradschaftlichkeit, die geherrscht hatte. Damals waren die Menschen noch aufrichtig gewesen, behauptete er. Kriegskameradschaft habe damals geherrscht. Und schon in seiner Jugend hatte er mit Freunden weite Radtouren unternommen und abends am Lagerfeuer gesessen, das war noch eine romantische Zeit gewesen. Heute waren solche Wanderungen, wenn sie von der Schule veranstaltet wurden, viel zu politisch, als dass sie romantisch sein konnten. Am Lagerfeuer sollten heute Kampflieder gesungen werden. Da steht ein Mann, so fest wie eine Eiche, vielleicht ist er schon morgen eine Leiche, so etwas zum Beispiel.

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Karl Liebknechts Tod wurde in diesem Lied beschrieben, obwohl Karl Liebknecht eher schmächtig gewesen war, den Fotos nach zu urteilen, und gar nicht an eine Eiche erinnerte.

Aber so in die Massen hineinzubrüllen, wie er es getan hatte und sich feiern zu lassen, ohne dass die Stimme zitterte, das konnten sicher nur wenige. Karl Liebknecht hatte im Parlament auch als einziger gegen die Kriegskredite gestimmt und da war er selber niedergebrüllt worden.

Eigentlich war nur der Mut entscheidend, gegen alle anderen zu stimmen, ob nun für oder gegen den Krieg. Und im Nachhinein hatte Karl Liebknecht ja recht behalten mit seinem Nein, das kam noch dazu. Im Widerstand recht zu behalten, das musste sehr befriedigend sein.

Er hatte statt dessen gegen seinen Vater Widerstand zu leisten und das war nicht so befriedigend. Als sich herausgestellt hatte, dass er eine Brille benötigte, hatte sein Vater es abgelehnt, ihm eine andere als eine Hornbrille zu kaufen, angeblich, weil eine gutaussehende Brille zu teuer war.

- Lerne erst einmal, ordentlich zu gucken, ehe du Ansprüche stellst, hatte sein Vater gesagt.

Er hatte die Brille nicht getragen und sich von seinem ersten Lehrlingsgeld selbst eine neue gekauft, eine mit getöntem Glas sogar, die in der Helligkeit dunkler wurde, so dass er aussah wie ein Mafioso. Auch darüber hatte sein Vater seine Bemerkungen gemacht.

- Willst dich wohl blind stellen? Siehst aus wie einer, der auf kleine Kinder losgeht.

Auf solche Sätze zu antworten, war nicht einfach. Sein Vater war einfach schlagfertiger, so militärisch abgehackt, wie er meist sprach.

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Frauen waren nicht so schlagfertig, bis auf seine Mutter, die machte da eine Ausnahme. Das färbte eben ab, wenn man so dicht beieinander lebte wie in einer Ehe. Aber gegen einen Mann sich zu wehren, war viel schwerer. Eine Frau hätte bestimmt nicht seine Träume gehabt. Vielleicht träumte eine Frau mal, dass ihr das Blut zwischen den Beinen herauslief, aber das war ja auch in Wirklichkeit so. Frauen begingen nie einen Mord, jedenfalls hatte er das noch nicht gehört. In Paris sollte es mal eine Giftmischerin gegeben haben, die gemordet hatte, aber sonst?

Als Kind hatte er geglaubt, dass Frauen nie pullern müss-ten, weil ihnen unten was fehlte.

Er dachte oft über Frauen nach. Das war nämlich ein gesondertes Kapitel, sein Verhältnis zu Frauen. Eigentlich war er überzeugt davon, dass ihn niemals eine Frau lieben würde. Er dachte an Beethoven dabei, an die 9. Sinfonie, an deren Schlußsatz und dass er die dort besungenen Ideale niemals erreichen würde. Offen und frei einer Frau gegenüberzutreten, verträumten Blickes, mit all der Ehrlichkeit, die dafür wünschenswert war, das würde ihm niemals möglich sein.

Er war zu verlegen, wenn er mit Frauen sprach. Und die Frauen durchschauten ihn sowieso und wussten genau, was er von ihnen wollte. Sie mussten ja merken, dass er ihnen nicht zuerst in die Augen blickte, sondern ganz woandershin, als ob er ein Kannibale wäre, der die Rundungen abschätzte und mit seinem Hunger verglich. Er hätte das umgekehrt auch nicht gern gehabt und trotzdem verhielt er sich so. Er zwang sich manchmal, Frauen in die Augen zu sehen, aber seine Blicke rutschten immer wieder nach unten.

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Andererseits kam es ihm vor, als ob Frauen gerade das wollten, jedenfalls wenn sie an einer gewissen Stelle etwas zu bieten hatten. Die anderen versteckten diese gewisse Stelle wohl lieber, aber die sie nicht zu verstecken brauchten, zeigten sie auch gern. Er kannte einige Beispiele dafür. Vielleicht war es die berühmte Gemeinheit der Frauen, dass sie mit den Männern spielten und dass sie die Blicke erst haben wollten, um sich dann über sie aufzuregen. Frauen sollte man alles zutrauen, vor allem alles Unlogische, hatte er gehört, und das stimmte sicher. Männer waren ja die logischen Wesen, die nach Klarheit strebten, während für Frauen Klarheit nicht so wichtig war.

Er sah das an Kathrin. Kathrin war eigentlich seine Freundin. Ihr Verhältnis war so, dass er das sagen konnte. Nachdem er Kathrin zum ersten Mal ins Kino eingeladen hatte, hatte sie ihn gefragt, ob er mit jedem Mädchen gleich ins Kino gehe. Das hatte sich angehört, als ob er etwas Ärgeres gefragt hätte, aber das hatte er nicht. Wahrscheinlich wollte sie ihn mit dieser Frage erschrecken oder ihm zeigen, dass sie nicht leicht zu haben sei. Sie war drei Jahre älter als er und vielleicht schon auf Sicherheit bedacht.

Im Kino hatte er immerzu überlegt, wie er sie berühren könnte. Wenn Worte ihn nicht weiter brachten, musste er eben andere Mittel einsetzen.

Zuerst hatte er sein Bein an ihres gelehnt, aber sie hatte ihr Bein zurückgezogen. Das könnte auch Zufall sein, hatte er

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überlegt und es noch einmal versucht. Sie hatte ihr Bein aber wieder zurückgezogen. Vielleicht war ihr diese Annäherung zu direkt oder, weil sie mit den Beinen geschah, sogar zu schmutzig.

Er wartete, dann legte er seine Hände in den Nacken und nach einer Weile streifte er beim Herunternehmen der Hände ihre Schulter. Er entschuldigte sich gleich dafür, hoffte aber, dass sie sagen würde, es sei ihr angenehm gewesen. Stattdessen sagte sie, dass die hinter ihnen Sitzenden wenig sehen würden, wenn er seine Arme in den Nacken lege. Deshalb saß er eine Weile still. Dann schob er seinen Arm auf die Stuhllehne, wo auch ihr Arm lag. Er musste seinen Arm fast in der Schwebe halten, weil er sonst ihren Arm von der Lehne heruntergeschoben hätte. Sie schien das aber zu merken und machte ihm ein wenig Platz. Das war nun endlich ein deutliches Zeichen dafür, dass sie seine Nähe ertrug.

Er wollte sich aufrichtig um sie bemühen und wenn sie Schwächen an ihm fände, würde er diese Schwächen ändern. Sie wirkte so anständig auf ihn, dass er einfach nach Fehlern suchen musste, die er ihr gegenüber machen könnte.

Nach dem Kino brachte er Kathrin nach Hause. Im Hausflur gab sie ihm einen Kuss auf die Wange. Er lief Heideröslein-singend durch die nächtlichen Straßen, spielte mit einem Pflasterstein Fußball, wobei sich die Sohle an seiner Schuhspitze löste, was ihn auf die Idee brachte, den Schuh nicht zum Schuster zu bringen, sondern sich als Andenken an seine erste Liebe aufzubewahren. Noch seinen Kindern könnte er diesen Schuh einmal zeigen.

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Kathrin durfte er das nicht erzählen, sie würde es nicht verstehen. Er war eben leichtsinniger als sie, aber Gegensätze zogen sich an, deshalb war das überhaupt kein Problem.

JVathrin hatte jeweils an den Samstagnachmittagen für ihn Zeit. In der Woche musste sie arbeiten und abends war sie dann müde.

Er kam stets pünktlich. Sie sollte wissen, dass man sich auf ihn verlassen konnte. Da sie älter war als er, wollte er den Altersunterschied durch Zuverlässigkeit wettmachen. Begrüßt wurde er mit einem Kuss auf die Wange. Im Flur standen Pantoffeln für ihn, die sie extra gekauft hatte. Überhaupt blitzte ihre Wohnung und nirgendwo lag ein Staubkörnchen. Das Sofa und die Sessel waren mit weißen Fellen überzogen. An der Wand hing eine Kuckucksuhr. Unter der Glasplatte des Sofatisches lagen Flamingos aus Stroh.

Meist hatte Kathrin Kuchen gebacken, den sie mit Schlagsahne servierte. Sie selbst aß aber kaum von der Schlagsahne. Er half ihr den Kuchen in die Stube zu tragen. Ihre Gespräche drehten sich meist um ihre Arbeit. Sie war Verkäuferin von Miederwaren. Er hatte geglaubt, dass nur Unterwäsche dazu gehörte. Doch das Sortiment um-fasste Handtücher, Bettbezüge, Bettlaken, Kopfkissen, Taschentücher und dergleichen mehr.

Eigentlich machten erst die Versorgungsprobleme ihre Arbeit interessant. Bettwäsche und Handtücher hatten beinahe den Wert einer zweiten Währung, so selten gab es sie in einer ordentlichen Qualität zu kaufen und deshalb war ihre Arbeit besonders begehrt. Eine ihrer Kolleginnen hatte ihren Beruf als Laborleiterin in einer Arzneifabrik aufgegeben und als Verkäuferin angefangen, mit der Begründung, sie wolle auch einmal das kaufen, was sie sonst nicht bekommen würde.

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Man konnte als Verkäuferin anderen helfen und hin und wieder was Gutes zurücklegen. Wenn gerade eine Hochzeit war und eine Aussteuer zusammengestellt werden sollte, machte man sich damit besonders beliebt. Jeder durfte aber nicht wissen, welche Waren gerade im Angebot waren, für alle reichten sie schließlich nicht. Mit solchen Gesprächen vergingen die Nachmittage. Er fühlte sich mit der Zeit schon so bewandert auf diesem Gebiet, dass er sich beinahe zugetraut hätte, selbst als Verkäufer zu arbeiten.

Manchmal kauften auch Männer BH's, für ihre Frauen oder Freundinnen, und meist wussten sie dann die entsprechende Größe nicht. Da herrschte immer Verlegenheit. Ein Mann hatte die Finger gespreizt in solch einer Situation und gesagt:

- Zwei Hände voll.

Oder die Männer wiesen auf die Brüste der Verkäuferin und sagten:

- Etwa wie Sie. Oder:

- Etwas kleiner als Ihre.

Es war aber auch schwer, eine BH-Größe zu beschreiben. Er hätte auch nicht gewusst, wie man das machen könnte. Am besten, die Frauen machten das selber.

Er trank vier oder fünf Tassen Kaffee an diesen Nachmittagen, worüber Kathrin immer von neuem erstaunte, woraufhin er oft noch eine Tasse mehr trank, um sie zu verblüffen. Sie sollte bloß nicht denken, dass er zu jung wäre für starke Getränke. Vertragen konnte er einiges.

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Dass er die Gespräche ertrug, war schließlich auch ein Zeichen von Ausdauer. Er hätte gern einmal über etwas anderes geredet. Über seine Arbeit sollte er jedoch nicht reden. Sie konnte große Betriebe nicht leiden, da arbeiteten ihr zu viele Männer und das wirke sich auf das Klima aus, meinte sie. Aus diesem Grunde verstand sie nicht, dass er drei Jahre zur Armee ging. Er hätte seinen Ent-schluss ja gerne rückgängig gemacht, aber dafür war es zu spät, die Verpflichtung galt nun einmal. So blieb nur das Thema Familie, über das sie noch reden konnten.

Er lenkte immer von ihren Fragen nach seinem Onkel ab, weil so ganz verstand er dessen Krankheit auch nicht. Dafür zeigte er einen Brief, den er von seinem Cousin bekommen hatte. Es war ein ziemlich merkwürdiger Brief.

Heute, es sind noch 10 Tage bis zum heiligen Abend, möchte ich Dir auch mal einpaar Zeilen schreiben. Ein unbeschriebenes Blatt Papier liegt vor mir auf dem Tisch, ich habe so viel im Kopf das es drei mal voll werden könnte doch ich weiß nicht wie ich anfangen soll. Im Hintergrund die Musik von Dipörpel — Duft von Farblosem Lack — alles das in meinem Zimmer.

Neben mir brennt eine Kerze damit mir entlich mal wie Weihnachten wird — es liegt immer noch kein Schnee heute Mittag waren es 10° C plus aber, nicht minus also keine weiße Weihnacht. 

So der Anfang ist gemacht das Blatt hat schon 10 Zeilen. Da geht ein Jahr zu Ende das voller guter aber auch schlechter Überraschungen gewesen ist. Am Ende sagt man sich das wohl doch das gute überwogen hat was man

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dann wiederrum wohl selbst nicht glaubt. Glauben, das ist es wohl wonach wir alle suchen, nein wohl doch nicht, die einen bringen sich aus glauben gegenseitig um, die anderen überschütten sich förmlich mit liebe gegenseitig. Was soll man dazu noch Denken siest Du das wäre es wenn alle auf dieser kaputten Welt nachdenken oder wenigstens denken würden, dann würden vielleicht in den Nachrichten im Fernsehen statt Krieg auch mal Friede und Freude so aufgepunscht werden.

Nun man kann da wohl nichts dran ändern jeder schlägt sich wohl oder übel auf seine weise durch. Für mich bringt hoffentlich das neue Jahr mehr und besseres als das alte. Im März also noch 3 Monate soll nun doch die Lehre Fischler anfangen das kennst du ja von deinem Vater. Ich setze mich also mit 18 Jahren nochmal auf die Schulbank lerne etwas fällig anderes was ich vor 2 Jahren schon einmal wollte nur nicht durfte.

Wenn ich mit der Ausbildung fertig bin werde ich 20 Jahre, zu spät? Ich glaube nicht obwohl mir das alles nicht bestimmt nicht leichtfallen wird. Egal ich werde es durchziehen und versuchen soviel wie nur möglich mitzunehmen von dem Wissen was man mir gibt.

Verliebt habe ich mich auch und das ist wieder so ein pro-blem denn es ist kein gewöhnliches Mädchen, nein denn es ist eine Verwandte Dir zwar nicht Bekannte mir dafür um so mehr.

Nicht nur das sie Inka Ploffke ist — meine wie auch Deine Großkusine noch dazu als wenn es das fehlende i-tüpfelchen währe ist sie auch erst 14 1/2 Jahre. Dies alles stört uns beide nicht denn wir lieben uns sehr halten es alleine kaum noch aus für mich kurz um gesagt der Traum von einem Mädel mit einem duften Karakter.

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Nur darf man nicht fragen die Verwandten wenn sie auch alle wissen sie glauben nicht an uns rümpfen insgeheim vielleicht noch die Nase, ja die Nase, die mancher Mensch sicher zu hoch hält doch ich kann Mos hoffen das sie dadurch stirbt natürlich die Nase was sonst hättest Du gedacht es liegt ja auch so mancher schlechter Geruch in der Luft.

Nun ja, die Luft ist das entscheidene für die Nasen und so können wir blos hoffen das die Luft sich ändert damit die Nasen wieder das werden was sie mal waren. Dies alles ist sehr schwer zu verstehen ja sicher nicht nur für mich sondern auch für Dich sondern auch für Inka. Denn was ist schon dabei wenn ich die Tochter des Cousengs von meinem Vater liebe, ehre und achte nein nicht bis der Tod euch scheidet soweit ist es noch nicht, nur davor haben sie warscheinlich alle Angst das sie sich alle wiedersehen auf einem Fest wo normalerweise zwei verschiedene nicht miteinander Verwandte Familien miteinander Verwandt werden. Schlim wird mancher denken, wenn nun so ein Fest nur mit Verwandten die schon Verwandt miteinander sind nochmal Verwandt miteinander werden. Sie werden sich sehen in einem großen Spiegel wovor sie warscheinlich und das wird der Grund sein sich fürchten. Fürchten vor den eigenen Verwandten, ja denn die ihnen gegenüberstehen, also sich fürchten vor sich selber. Was haben wir doch für tolle Verwandte?

Wir selber, Inka und ich haben keine Angst vor dem Spiegel deshalb gehen wir unseren Weg der uns vor den Spiegel fürt.

Du fragst Dich vieleicht warum schreib ich im Kreis nun ja die Antwort ist einfach das ganze ist für mich ein Kreis, ein Kreis in dem ich mal innen und mal außen stehe und

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vieleicht auch mal auf der Linie. Ich schau in den Spiegel und sehe, ja was sehe ich da, einen Verwandten, einen der so aussieht wie ich, ja ich bin es selbst der Spiegel lügt nicht!

Inka hilft mir über viele »Brücken« wo ich vorher gesagt habe das schaffe ich nich, geht auf einmal sehr gut. Man muß unbedingt ein Ziel haben das habe ich jetzt verstanden.

Vorher da habe ich einfach so in den Tag hinein gelebt jetzt ist das ganz anders man weiß wofür man sich durchs leben schlägt und wenn man zusammen erst einmal erfolge hat macht es noch mehr spaß.

Ansonsten hoffe ich geht es Dir recht, im großen und ganzen nicht schlecht, vieleicht könnte es Dir besser gehen, doch währe das Leben dann noch so schön?

Nun jetzt muß ich aber schluss machen

will noch einen Vogelkäfig bauen da

ich bald wieder einen bekomme aber ich möchte

diesmal aber einen größeren deshalb muss ich

einen größeren Käfig haben.

Tschüß und ich wünsche Dir ein frohes (Weihnachts-) Feste, halt Dich fit bis bald Dein Couseng

PS: Wenn ich jetzt zurücksehe kann ich nur über mich selber staunen wieviel ich geschrieben hob.

 

Er kannte den Cousin nur flüchtig. Zweimal hatte er mit ihm Fußball gespielt, was jedoch einige Jahre zurücklag.

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Der Cousin schrieb ihm regelmäßig, obwohl er selten antwortete.

- Warum zeigst du mir den Brief?, fragte Kathrin. Das wusste er auch nicht. Einige Stellen waren doch ganz spannend zu lesen. Sie fand den Brief traurig. Ja, eigentlich war er taurig.

Es war nun das zweite Mal, dass sein Cousin heiraten wollte. Seine Lehre als Eisenbahner hatte er wegen gesundheitlicher Probleme abgebrochen. Welcher Art die gesundheitlichen Probleme waren und inwiefern er als Tischler weniger gesundheitliche Probleme haben würde, das schrieb er nicht. Sein Stil in den Briefen war immer der gleiche.

Ach das weißt Du ja noch garnicht Vati und ich hatten einen Unfall er ist mit 80 km/h die Kurve gefahren wo glateis war hat eine Vollbremsung gemacht und sich dann einmal überschlagen ein hoch der Sicherheitsgurte sonst wären wir beide Tot und ich würde dir nicht mehr schreiben.

Das war ein Tag vor Weihnachten als ich ausgestiegen war was garnicht so einfach war (steig du mal verkehrtrum aus dem Auto) hab ich als erstes gesagt ich fahre nicht mehr mit ihm mit und er war ganz schön sauer. Das scheiß Auto ist wieder Schrott Gutachter war schon da wieder neue Karosse ist schon überall bekannt dicke Versicherungsakte und so weiter.

Sonst ist alles beim alten nur habe ich keine Lust mehr auf Schule ist alles egal die Zensuren Hageln jetzt nur so ich weiß auch nicht was mit mir los ist es fehlt mir wohl eine Freundin die mich mal richtig zusammenstaucht.

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M + V machen das gar nicht mehr Mutti füttert unsere Kleine neue Katze bis zum umfallen (das was meine Brüderfrüher bekommen haben sozusagen) man merkt sie ist viel zu alleine V hockt entweder vor dem Fernseher oder vor dem Schreibtisch zum ausruhen geht er mit dem hund eine runde auf dem hof und sagt immer wieder »schöner, süßer «, u. s. w.

Liege gerade in meinem Zelt will heute die dritte Nacht drin schlafen, das Zelt habe ich von M + V zum Zeugnis bekommen V hat dazu gesagt das ich der letzte bin da kann man so etwas schon mal machen und ich soll es mir gründlich überlegen ob ich später auch von zu Hause weg gehen will wie meine Brüder oder nicht. Ich nenne so etwas Bestechung und das geht bei jeder gelegenheit so kannst du mir mal sagen was ich machen muss damit er aufhört.

Vorige Woche bin ich auf die Hand gefallen und nun liegt sie in einer Binde kann den Daumen nicht mehr bewegen man gut das ich nicht auf den Kopf gefallen bin ich meine das bin ich sowieso schon öfters das macht man ja wohl auch oder?

Heute bin ich die Treppe im Haus runtergegangen und da die zweite Stange die den Teppich hält nicht drin war flog ich der länge nach rückwärts runter ich blödmann nehme natürlich meine Hand zum auffangen und das ist nun die Bescherung ich kann den Daumen garnicht mehr bewegen zum glück im Unglück ist es der linke Daumen. Ernst geht es mir ganz gut hab ich eigentlich schon geschrieben das ich mir ein Motorad gekauft habe eine 150 TS die fährt noch satte 100 km/h eigentlich noch viel

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zu schnell für mich. Das Moped werde ich verkaufen ist eigentlich schon fast verkauft aufjedenfals l'dsst sich ein ab-nehmer nicht suchen willst du es vieleicht kaufen? Mit Moped oder Motorrad prale ich eigentlich nich auch nicht vor Jungen das ist nicht meine Art vieleicht und sicher nicht nur vieleicht bin ich einfach zu Schüchtern. Es währe aber bestimmt mal nicht schlecht einen auftrieb zu haben bis jetzt hab ich blos tiefen vor mir. Mit M + V komme ich immer weniger zurecht wird doch zeit das ich aus dem Haus komme, dauert nicht mehr lange und die werden sich umkucken wenn sie alleine am Tisch sitzen und keiner mehr läuft, holt und Schuhe putzt.

Nach dem letzten Brief ist viel passiert ich bin vom Zivilverteidigungslager zurück war ein ganz schöner stress habe gestern 38 Stunden nicht geschlafen vom Mittwoch zum Donnerstag hatte ich Nachtwache, Donnerstag zum Freitag haben wir gefeiert abschluss und weil wir nicht ruhig waren haben die Rinsfiecher 3 mal gefechtsarlarm gemacht heim dritten mal haben wir uns nicht noch umgezogen sondern sind gleich aufgeblieben und haben Skat gespielt und auf den nächsten Alarm gewarttet. Hier zu Hause ist es furchtbar V ist doch da ich weiß nicht warum und Dieter und Frau ist da sie machen das Dach in der Veranda es soll von unten getäfelt werden. Heute morgen hat sich Karola ein ding geleistet sie hat die Kinder auf die Treppe gesetzt und Trieola spielen lassen nach ner Weile wo ich dann wach war hat sie dann zu den Kindern gesagt sie können aufhören ich werde wohl jetzt wach sein. Das ich das gehört habe war ihrpech, aber abgestritten hat sie doch. Nicht mal Ausreißen kann ich weil ich am Montag mit dem Knie gegen die Tür gestoßen bin so das mein

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Knie wieder wahnsinnig schmerzt und ich überhaupt nicht auftreten kann Doktor Heuch meint es ist der Minikus wenn das stimmt hab ich nen Dreck. Hab erst mal ne Überweisung zum Ortopäden bekommen und ein Schonplatz ab nächste Woche für zwei Wochen. Mit Angela meiner Freundin bin ich jetzt schon etwas länger als ein V2 Jahr zusammen das ist zwar keine ewigkeit aber doch zeit genug sich zu beschnüffeln. Auf jeden fall haben wir vor uns richtig nach altmodischer Art zu Verloben M + V wissen noch nicht sie wissen so einiges übriegens so einiges noch nicht ist auch ganz gut so. Mit Angelas Eltern verstehe ich mich einwand frei auch wenn es eine dickliche Familie ist sind es nette und liebe Menschen die nicht immerzu streit suchen.

Seit heute morgen schneit es unaufhörlich eine ruhige Wetterstimmung herscht obwohl Ostern ist sieht es aus wie heilig Abend.

Habe mir eine unmögliche Schrift angewöhnt was aber es tut so weh sauber zu schreiben Du hast ja auch keine besonderst schöne Schrift also entschuldige.

 

Von Streit mit seinen Eltern schrieb der Cousin fast ständig.

Über ihre Eltern hatten sie damals geredet und sich kräftig über sie ausgelassen. Man müsse so früh wie möglich von zu Hause verschwinden, darin waren sie sich einig. Dem Cousin hatten es dessen drei ältere Brüder schon vorgemacht. Der Vater war Lehrer, aber von der Erziehung der eigenen Kinder verstand er nicht viel, sonst hätten nicht alle seine Söhne ihm nach dem achtzehnten Geburtstag den Rücken gekehrt. Kian hatte einmal miterlebt, wie der Cousin noch als

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Fünfzehnjähriger von seinem Vater eine gescheuert bekam. Und als Kind sei er tagelang in den Keller gesperrt worden, hatte er erzählt.

Das waren Zustände, die er nicht kannte. Seiner Mutter war mal die Hand ausgerutscht, aber dann war sein Vater eingeschritten.

IVathrin verstand solche Konflikte überhaupt nicht. Sie war eben ein Mädchen. Mädchen waren leichter zu erziehen. Obwohl, er kannte aus seiner Klasse ein Mädchen, mit der hatten ihre Eltern es nicht leicht. Von ihrem Freund hatte sie sich schon mit fünfzehn ihr Zimmer renovieren lassen, ohne dass die Eltern etwas davon wuss-ten. Die Eltern hatten mit ihr am Sonntag zu Mittag gegessen, ziemlich feierlich sogar, mit klassischer Musik, weil das in dieser Familie so üblich war, und der Freund hatte in der Etage darüber gearbeitet. Ihr Vater hatte schließlich Geräusche gehört, hatte nachgesehen und den Freund entdeckt.

Und ihr Bruder hatte in der Küche essen müssen, schon seit Jahren, weil sie sich weigerte, mit ihm an einem Tisch zu sitzen. Der Bruder war zwar älter als sie, aber er ließ sich das trotzdem gefallen. Als Kind hatte er seiner Schwester eine Rasierklinge gegeben und ihr geraten, sich zu rasieren, und sie hatte das probiert und sich an der Wange geschnitten. Damit begründete sie ihre Abneigung gegen ihren Bruder.

Später hatte sie versucht, sich die Brüste abzuschneiden. Sie wollte sich als Junge fühlen und zeigte ihm die Narbe im Vertrauen, eine Narbe, die sich unter ihrer linken Brust langzog.

Irgendwie bewunderte er sie, wie sie sich zu Hause durchsetzte. Und sie war das schönste Mädchen in der Klasse.

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Kathrin wäre nie auf die Idee gekommen, sich die Brüste abzuschneiden. Er beobachtete, wie ihre Brüste sich durch die Atmung bewegten. Er hätte gern gewusst, was es für ein Gefühl war, so schwere Brüste zu tragen. Seine Mutter hatte hängende Brüste, die fast bis zum Bauch reichten. Sie wusch sich manchmal abends vor ihm, wenn er gerade in der Küche war und das Bad nicht geheizt war. Sie zog sich den Schlüpfer bis zu den Knien herunter, legte ein Handtuch darüber und wusch sich ihre Scham, ohne sich vor ihm zu genieren. Verklemmt sollte er offenbar nicht aufwachsen.

Ihre Brüste waren schon schlabbrig, wohl weil er sie als Kind ausgesaugt hatte. Deshalb hätte er ihre Brüste eigentlich schön finden müssen, schließlich waren sie von ihm so hergerichtet worden. Bei der Armee sollte ihm jemand erzählen, dass er mit seiner Mutter geschlafen habe und dass sich Schöneres gar nicht denken ließe, als von der Mutter angelernt zu werden, doch das wäre ihm eklig gewesen. Seine Mutter war nicht einmal im Gesicht schön, mit ihrer höckrigen Nase, von den Hautflecken ganz abgesehen. Und ihre Beine waren ziemlich unförmig, unterhalb der Knie schlank wie bei einem jungen Mädchen, aber die Oberschenkel so dick, als wären jeweils zwei Beine miteinander verwachsen.

Sicher war es gemein, wenn er so dachte, aber das waren nun einmal seine Beobachtungen. Es kam ihm oft vor, als wären Körper aus lauter Einzelteilen zusammengesetzt und meist stimmte die Zusammensetzung eben nicht. Bei Kathrin stimmte die Zusammensetzung, aber er wusste trotzdem nicht, was sie von ihm erwartete. Vielleicht erwartete sie, dass er seine Hände in ihren Nacken legte und sie massierte, so dass sie träumen konnte. 

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Träumen wollten doch Frauen vor allem. Als Mann sollte man am besten nur als Schatten vorhanden sein gegenüber einer Frau, so unaufdringlich und wenig störend. Zu mehr als zu Umarmungen kam es aber nicht. Er blickte auf die Vitrine währenddessen und zählte die Gläser oder die Schrankschlösser.

Oft kam es nicht einmal zu Umarmungen. Das waren verschenkte Nachmittage für ihn. Weshalb besuchte er sie denn, wenn nicht aus diesem Grund? Sie redete und redete und merkte gar nicht, wenn sie eine Geschichte zweimal erzählte.

Wahrscheinlich wollte sie ihn ablenken. Sie liebte ihn nicht, das war das Geheimnis solchen Geredes. Aber ihm das zu sagen, war sie zu feige.

Gut, er sagte ihr auch nicht alles. Ganz am Anfang ihrer Bekanntschaft hatte er mit einer anderen geschlafen, weil die Gelegenheit so günstig war, und das hatte er nicht erzählt. Schließlich kam es auch ihr zugute, wenn er Erfahrungen sammelte.

Und von der anderen hätte jeder Mann geträumt. Sie war erst fünfzehn, sah jedoch älter aus. Verlebt wirkte sie auch schon. Sie war in einer Kneipe aufgewachsen, praktisch unter dem Tresen. Ihre Mutter war Kellnerin. In der Kneipe hatte sie sogar ihre Hausaufgaben gemacht. Und die Männer hatten sich um sie geschart, weil sie mit dreizehn oder vierzehn schon wie eine Frau wirkte. Mit Tittenficken, das hatte sie ihm erzählt, hatte sie angefangen. Gegen ein bisschen Taschengeld durften die Männer ihre Brüste massieren.

Ihr bedeutete es gar nichts, ihre Brüste zu zeigen. Das bot sie fast jedem an, auch heute noch, im Internat. Alle regten

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sich darüber auf, aber die Möglichkeit hatte schon fast jeder genutzt. Einer hatte gesagt:

- Die kann sich abends vor den Spiegel stellen und ihre Schläuche über die Schultern werfen, und dann war er doch mit ihr in den Keller gegangen. So falsch waren Männer in dieser Hinsicht.

Das traf auch auf ihn zu. Er hatte ihr geraten, sich von ihrem Freund zu trennen, weil der sie hinter ihrem Rücken fast vermietete. Dabei wollte sie das vielleicht. Doch sie war noch so jung und sie sollte sich nicht verschenken. Sie sagte, das hätte sie sich auch schon überlegt. Als er zum Fasching die Büttenrede hielt und die Leute tobten vor Vergnügen, kam sie anschließend zu ihm. Sie brauchte gar nichts zu sagen. Er sah ihr auch so alles an. Frauen liebten offenbar den Erfolg. Auf ihrem Zimmer zog er sie aus.

- So schnell?, fragte sie.

Er war so aufgeregt, dass er nicht antwortete. Und sie

wehrte sich nicht.

Ein nasser Fleck blieb auf dem Bettlaken zurück. Wie

peinlich, alles war danebengegangen. Zum Glück klopfte

es an der Tür. Die Internatsleiterin suchte sie. Sie mussten

sich gleich wieder anziehen.

Das sollte nun das große Erlebnis sein, um das sich die

halbe Weltgeschichte drehte.

Kathrin brauchte von diesem Abenteuer nichts zu wissen. Er hatte die andere nicht geliebt, ja kaum gesprochen mit ihr. Für eine Liebe war sie ihm zu verdorben. Sogar die Internatsleiterin hatte ihn gewarnt vor ihr. Aber mit Kathrin immer bloß Händchen zu halten, das

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genügte auch nicht. Sie war gewissermaßen das Gegenteil der anderen und er wollte endlich eine Entscheidung. Bis zu seiner Armeezeit musste er wissen, woran er war. Letztlich war es quälend, den braven Besucher zu spielen. Sie schien seine Gedanken zu erraten. Sie wollte nämlich, dass er bei ihr schlief, als seine Eltern Besuch hatten und sein Zimmer deshalb gebraucht wurde. Also stand wohl eine Entscheidung bevor. Erst wollten sie tanzen gehen an diesem Abend, auf ein Betriebsfest ihrer Gewerkschaft. Er hatte sich schon geärgert darüber, weil er nicht tanzen konnte und weil er mit ihr allein sein wollte. Glücklicherweise hatte sie dann auch keine Lust zum Tanzen.

Er brachte Blumen mit und eine Flasche Wein. Gekleidet war er im Anzug, weil er seinen Eltern gesagt hatte, dass er tanzen gehen würde, sonst hätten sie womöglich was dagegen gehabt, dass er bei seiner Freundin schlief.

Kathrin hatte ein Abendbrot bereitet, das sich sehen lassen konnte. Ein Salat stand schon auf dem Tisch, mit Champignons gemischt, das war der reine Luxus. Ihre Mutter arbeitete in einem Restaurant, deshalb konnte sie solche Kostbarkeiten besorgen.

Dann servierte sie überbackene Brote, mit Schinken und Käse, und er ließ es sich schmecken. Von Essen verstand sie wirklich was. Salzstangen und Brezeln lagen für später auf dem Tisch.

Er half ihr, den Tisch abzuräumen, das Geschirr in die Küche zu bringen, und sie wusch es schnell ab. Am Nachmittag hatte er ausgerechnet, das wievielte Mal sie sich sahen. Vom ersten Tag an hatte er jedes Treffen in seinen Kalender geschrieben. Er setzte die Tage, an denen

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sie sich sahen, ins Verhältnis zu den Tagen, an denen sie sich nicht sahen, zwei zu sieben, drei zu vierzehn, fünf zu einundzwanzig, und so hatte er immer eine Übersicht. Die gemeinsamen Stunden zählte er zusammen und wie oft es zu Zärtlichkeiten gekommen war. Es war heute ihre siebenunddreißigste Begegnung, ein-hundertsiebenundachtzig Stunden hatten sie sich gesehen und an jedem eins Komma achten Tag Zärtlichkeiten ausgetauscht, die über den flüchtigen Kuss auf die Wange hinausgingen.

Er fand, dass es eine ganz ordentliche Bilanz war. Andererseits erklärten die Zahlen nicht alles.

Hinterher wusste er nicht mehr, wie es dazu gekommen war, aber umarmt hatten sie sich bald. Er roch ihren duftenden Körper, staunte über ihre weiße Haut und seine Hand streifte ihren Rücken hinab, über ihren BH-Ver-schluss hinweg. Sie ließ ihn gewähren. Er schob seine Hand unter ihren Pullover. Ihr Pullover hatte ohnehin breite Maschen und er hatte schon einiges gesehen.

Sie streichelte ihm den Rücken. Er musste nicht mehr betteln um diese Geste, wie sonst immer. Wenn sie ihn jetzt um etwas gebeten hätte, hätte er ihr jedes Versprechen erfüllt.

Er knöpfte ihren BH auf. Er hätte es sofort gelassen, wenn sie es ihm verwehrt hätte. Für sie war Nacktheit bestimmt schon ein Eheversprechen. Sie merkte aber anscheinend nicht, was er tat. Oder es gefiel ihr.

Er rieb ihre Brüste und er entdeckte, dass sie nicht auf der ganzen Fläche angewachsen waren, sondern eigentlich nur an einer schmalen Stelle, und dass sie ansonsten lose

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auf dem Körper lagen. Er hatte immer gedacht, große Brüste wären auch im Ganzen angewachsen. Ihre roten Haar gefielen ihm zum ersten Mal, auch die unter ihren Achseln. Lange Zeit blieben sie auf dem Sofa, länger als zwei Stunden, wie er nach einem Blick auf die Uhr bemerkte.

Seine Hand rutschte sogar in ihre Hose. Auf ihrer Schulter bemerkte er Sommersprossen und das wunderte ihn, weil sie im Gesicht keine hatte. Sie stöhnte leise, aber das war auch alles. Sollte er sie nun ganz ausziehen oder sollte er nicht? Sie sagte nicht, was sie wollte. Sie hätte es ruhig sagen können. Sie musste doch wissen, dass er darauf wartete. Es war wieder eine Bestätigung dafür, dass sie sich nicht verstanden. Immer sollte er entscheiden, um dann das Falsche zu tun. Er legte sich auf den Rücken und wartete. Sie musste schließlich sagen, ob sie zusammen in einem Bett schlafen würden. Und das Weitere würde sich daraus ergeben. Er war tatsächlich müde. Er blickte starr an die Decke. Sie sollte ihn ohne Worte verstehen.

Er schloss eine Wette mit sich ab: Wenn sie ihn jetzt nicht verstand, würde er sie morgen verlassen. Besser morgen als nie. Wenn sie meinte, dass sie ihn an der Nase herumführen könne, hatte sie sich geirrt.

Er spürte ihre Hand an seiner Schulter. Offenbar streichelte sie ihn. Er streckte sich und gähnte, es musste schon mehr von ihr kommen.

Sie stand auf und brachte die Gläser in die Küche. Er trug die Weinflasche und die Salzstangen hinter ihr her. Den intimen Moment hatte sie gleich wieder zerstört. In Filmen verliefen solche Szenen gänzlich anders. Da sammelte sich im Schweigen eine Spannung an, die dann endete in stürmischen Umarmungen. 

Eine geheime Regie zauberte Schönheiten hervor und wie klein der Raum auch immer war, in dem sich die Liebenden aufhielten, in der Umarmung wurde er weit und verlor jede Begrenzung. Seid umschlungen, Millionen, war der Zauberspruch jedweder Zärtlichkeit in Filmen. Die Frauen schenkten zärtliche Blicke und die Männer lockten die Blicke hervor und hielten ihnen stand.

Was er hingegen erlebte, war Geschirr und Abwasch und eine zerknitterte Sofadecke und eine Frau, die den rechten Augenblick stets verpasste.

Sie ging ins Bad und er wartete in der Stube auf dem Sofa. Am liebsten hätte er aus Protest auf dem Boden geschlafen. Als sie aus dem Bad kam, blickte er wieder an die Decke. Sie war noch immer angezogen.

Das war ein weiteres Zeichen, das gegen ihn sprach. Er konnte die Zeichen schon zählen.

Er ging selbst ins Bad, wusch sich, roch den Schweiß unter seinen Achseln und betrachtete die grauen Poren in seinem Gesicht.

In der Stube sah er, dass sie sein Bett dort bereitet hatte. Das war es dann also. Er hielt Nachmittage lang bei ihr aus und mit welchem Ergebnis? Frauen waren der unentschiedene Teil der Menschheit, das bestätigte sich wieder.

Das Licht brannte und er ließ es brennen. Was er aus diesem Abend gelernt hatte, würde er so schnell nicht vergessen.

Am nächsten Morgen erstellte er in seinem Kalender eine letzte Rechnung.

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