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Vorwort

Deutschland hat ewigen Bestand
Es ist ein kerngesundes Land
Mit seinen Eichen, seinen Linden
Werd ich es immer wiederfinden.

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Dieser französische Witz über unser Vaterland stammt von meinem frivolen Cousin in Paris. Ich aber würde mich nie und nimmer so lustig machen wie der vaterlandslose Asylant Heinrich Heine. Ja, die zerrissenen Deutschen haben einander endlich wieder­gefunden, unter Eichen, Untern Linden und unter Laternenpfählen, die in unseren asphaltösen Zeiten viel zu hoch sind für den altmodischen Strick. Ja, wir fanden einander wieder, aber frag mich nicht, in welcher Verfassung! Kaum einer fand, wonach er gesucht hatte. Fast alle sind voneinander enttäuscht.

In den Jahrzehnten des kalten Krieges hatten die Deutschen sich so angenehm auseinandergelebt. Nun giften sie gegeneinander und schweigen in verschiedenen Sprachen aneinander vorbei. Im Osten trug man das Brett vorm Kopp aus Eichenholz, im Westen bevorzugte man die weiche Linde. Das einzige, was im wiedervereinigten Deutschland nicht mehr geteilt blieb, sind Christa Wolfs Himmel und die Vorliebe für den wohltönenden Viertakt-Otto-Motor.

Das einzig Bewahrenswerte an der Deutschen Demokratischen Republik ist nach Meinung des Politbürokraten Schabowski der grüne Rechtsabbiegerpfeil an den Verkehrsampeln. Seit dem Zusammenbruch der DDR geht die deutsche Sonne im Westen auf und im Osten unter. Die Klassen­feinde von gestern, they do it on the road wie die Hunde, und Brechts Regen fällt mächtig von unten nach oben.

Mein Buch beginnt mit einem Pamphlet über den Krieg gegen das Land des Völkermörders Saddam Hussein. Mein Votum für die Alliierten der UNO erschien damals in einem Hamburger Wochenblatt und eröffnete einen pazifistischen Religionskrieg in den deutschen Medien.

Ich hatte schon immer den Eindruck, daß es in unserem kinderfeindlichen Land zu viele Tölen gibt, die die Städte zuscheißen. Aber wenn ich geahnt hätte, welch ein Rudel tollwütiger Hunde nun plötzlich loshetzen würde, um mich aus lauter Friedensliebe zu zerbeißen, hätte ich womöglich lieber geschwiegen. Garantiert friedfertige Kampfköter zerrissen mich in der Luft, parfümierte Schoßhündchen pinkelten mich an, und linksgestriegelte Mastinos verbellten mich bei den Friedensschafen als einen Wolf. Sie hatten recht. All diese Hundeseelen sind freilich meine domestizierten Verwandten. Ich kenne die blödgezüchteten Wölfe, jeder von ihnen ist einseitig auf einen schmalen Zweck abgerichtet. Heinrich Heine schrieb im »Wintermärchen«:

Der Schafpelz, den ich umgehängt 
Zuweilen, um mich zu wärmen, 
Glaubt mir's, er brachte mich nie dahin 
Für das Glück der Schafe zu schwärmen.

Ich bin kein Schaf, ich bin kein Hund, 
Kein Hofrat und kein Schellfisch -
Ich bin ein Wolf geblieben, mein Herz 
Und meine Zähne sind wölfisch.

Ich bin ein Wolf und werde stets 
Auch heulen mit den Wölfen -
Ja, zählt auf mich und helft euch selbst 
Dann wird auch Gott euch helfen!

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Wer kann schon endgültige Wahrheiten in die Welt blasen, wir kochen alle nur mit Wasser. Aber wahrhaftig, meine dunkle Dame, ist in diesem Buch hier jedes Wort. Selbst auf meine Irrtümer kann der Leser sich verlassen, denn sie sind echt und enthalten immer noch mehr Wahrheit, als wenn professionelle Lügner gelegentlich behaupten, daß der Regen von oben nach unten fällt. Mein neues Buch liefert dem Leser kein Deutschland über alles, aber alles über Deutschland. Will sagen: alles, was mich in diesen schön bewegten Zeiten bewegt.

Heute flirrt der allerschönste Sommertag in Altona. Die runde Erde brennt an vielen Ecken. Von der Elbe her kommt der tiefe beruhigende Ton, den ein Containerschiff austutet. Wer weiß, was es geladen hat: vielleicht wieder Landmaschinen zur Land­gewinnung für Israel, vielleicht wieder eine Chemiefabrik für den Iran und zum Ausgleich eine für den Irak, vielleicht Panzer für Serbien und Milchpulver für Bosnien und Beinprothesen für Kroatien. Hamburg nennt sich in der Imagewerbung schon Hamboom, und es ist wahr: Der Hafen floriert seit der Öffnung des Ostens wie nie.

Erich Honecker kommt heute aus Moskau nach Hause. Das Flugzeug der Aeroflot hängt noch in der Luft. Es wird eine Hatz. Mir wäre es lieber. Fidel Castro hätte sich diesen Schwachkopf als persönlichen Berater auf seine Insel geholt. So eine späte Männer­freundschaft wäre eine delikate Strafe: Honecker in Havanna. Er hätte jeden Tag Castros stinkenden Zigarrenrauch ertragen müssen und die ätzenden Maximus-Lenimus-Ergüsse des Maximo Lider in einer unverständlichen Sprache.

Jetzt werden allerhand selbstgerechte Zaungäste unserer Tragödie ihren Mut an Honecker kühlen, Menschen, die nicht das historische Recht dazu haben. All jene aber, die gute Gründe hätten, ihn zu töten, sind tot oder auf Jobsuche, oder noch schlimmer: todmüde.

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Wenn Erich schon mal kommt, sollte der Bonner Kanzler ihm nun auch in Berlin-Tegel den roten Teppich ausrollen lassen. Exkanzler Schmidt sollte ihm den vergifteten Lutschbonbon von Güstrow zurückschenken und Udo Lindenberg die Rotfront­kämpfer-Schalmei. Der gerupfte Lafontaine sollte dem gestürzten Genossen einen Strauß toter Wachs-Nelken über­reichen, und die Strauß-Erben könnten ihm diskret einen Scheck von Schalck zustecken. Die deutschen demokratischen Lichtgestalten Diestel und Gysi sollten ihm die Ehrenpräsidentschaft der Komitees für Gerechtigkeit antragen. Und ich würde ihm gern symbolisch eine meiner Stasiakten übern Kopp haun.

Die Bundeswehrkapelle sollte ein letztes Mal die DDR-Hymne schmettern. Dann zieht Kohl die Handschellen aus der Tasche und schließt sich mit Honeckers Handgelenk zusammen. Den Schlüssel aber soll der Kanzler auf dem Weg nach Moabit in die Spree werfen. So müßten diese beiden Deutschen zusammenbleiben, bis daß der Tod sie scheidet.

Das klingt gnadenloser, als es ist. Da Kohl die Gnade der späten Geburt hat, wird Honecker weit vor ihm sterben. Diese beiden Deutschen gehören schicksalhaft zusammen, so wie die beiden Teile unseres Volkes, die es ja nun auch miteinander aushalten müssen. Die einen fühlen sich übern Löffel balbiert, die ändern übern Tisch gezogen.

Neben dem Friedenskrieg um den Golfkrieg ging der Streit um die unvergangene Stasivergangenheit weiter. Meine schöne kleine Büchnerpreis-Rede zu Ehren des deutschen Shakespeare ging unter im Wutgeheul der Meute. Weil ich in einem Schlenker hinterm Komma einen der vielen Stasispitzel in der Ostberliner Literatenszene beim Namen genannt hatte, rappelte es in der Medienkiste. Das Zauberwort Arschloch entzauberte allerhand Marionetten am Prenzelberg, wo das MfS jahrelang die Puppen tanzen ließ. 

Dies wiederum war für manchen feuilletonistischen Broker an der Literaturbörse ein herber Kursverlust. Trottel, die weder Talent noch Charakter haben, retirierten in die ausgelutschte Scheindiskussion über Talent und Charakter. Als ob sie die literarische Welt über die uralte Neuigkeit belehren müßten, daß es geniale Schurken gibt und talentlose Moralapostel.

XVI


Ich kenne philosophische Köpfe, die zerbrechen sich den Kopf über die Frage: Warum wird eigentlich der Engel der Geschichte, der berühmte <Angelus Novus> des Walter Benjamin, von einem Sturm aus dem Paradies weg in den Fortschritt gezwungen? Was ist das für ein übermächtiger Wind, der da aus Gottes Garten her kommt?  Ich konnte diese Frage nun endgültig klären, denn der Alte hat mir Eizes gegeben. Mit dem Papst redet er ja nicht mehr, aber gelegentlich doch mit mir. Gott hat es mir gebeichtet: Ihn quält eine Höllenangst. Er fürchtet, daß Adam und Eva sich wieder ins Paradies einschleichen. Clever, wie die Menschen seit dem Sündenfall geworden sind, könnten sie es schaffen, über das Gitter in den Garten Eden zu klettern.

Gott traut seinen veralteten Sicherheitskräften nicht mehr. Die Cherubim, die Engel mit dem bloßen hauenden Schwert, die Wächter mit ihren vier Flügeln und vier Gesichtern funktionieren nicht mehr so zuverlässig, wie es die gesichtslosen Grenz­soldaten an der Mauer taten. Ich sagte ihm: Mensch Gott, laß die armen Irren doch ins langweilige Paradies, wenn es sie glücklich macht. Da schrie er: Gewalt! In meinem Garten wächst doch nicht nur der Baum der Erkenntnis, du Esel, sondern auch der Baum des Ewigen Lebens. Als ich damals meine beiden Prototypen aus dem Paradies vertrieb, da hatten die Menscher von den Früchten dieses zweiten Baumes zum Glück noch nichts gegessen.

Ich verstand den guten alten Mann sofort. Eine Katastrophe! Nicht auszudenken! Die Erde vollgestopft mit unsterblichen Idioten! Und nun, ihr lieben Kindlein, kann ich euch verraten, warum aus dem Paradiese dieser ominöse Sturm bläst. 

XVII


Wahrlich, ich sage euch (denn auch ich habe einen Vater im rauchigen Himmel und kann salbungsvoll daherreden) der unglückliche Schöpfer selbst, gesegnet sei sein Name, macht seit dem Beginn der Neuzeit diesen Wind. Auf allen vieren steht Jahwe im Paradies und pustet aus Leibeskräften. Er pustet nach allen Seiten, er bläst mit dem Vorderteil und mit dem Hinterteil. Gott bläst sich die Seele aus dem Hals und furzt sich den Hintern wund.

So stürmt und stinkt es vom Paradies her in unsere Welt. Wir sollen alle outside the gates of Eden bleiben. Nicht einmal dem begnadeten Dichter Robert Zimmermann aus Minnesota gelang es, ein Retourbillett zu ergattern, obwohl seine Lieder unsterblich sind. Bob Dylan. Er wuchs auf am falschen Ende des Mississippi, am Wasserfall des Minnehaha Creek, im langweiligen Land, wo der Loon sein klagendes Lied singt. Zuerst lernte er den herzzerreißenden Sound von diesem Wasservogel ab und sang alle Töne blue. Dann schmückte er sich mit dem Namen des walisischen Säufers Dylan Thomas, dessen Gedicht über den IM Judas Ischariot ich mir ins Deutsche brachte.

Bob Dylan auf den Schultern von Woody Guthrie, Aristide Bruant dans la rue, Daniel Viglietti auf dem Rücken des Indianers Atahualpa Yupanqui, Mordechaj Gebirtig im Ghetto, Nils Ferlin in Stockholm, Pierre-Jean de Beranger als kleiner König von Yvetot, Wladimir Wyssotski kräht auf dem Stacheldraht, Victor Jara krepiert hinter dem Stacheldraht, Dionyssis Savopoulos, der rechte Linke im Pelion Gebirge, und Paco Ibanes und Maria del Mar Bonet und Cornelis Wreeswijk und Big Bill Broonzy und und und — tot oder lebendig — keiner von all diesen Paradiesvögeln wird je gegen Gottes Sturm den Weg nach Hause in das Paradies finden.

Es gibt kein Zurück zur Natur, und es gibt auch kein Vorwärts ins Narrenparadies der Philosophen. Dies lehrte mich das Scheitern der kommunistischen Utopie: Wir werden nie wieder glücklich sein wie die Affen. Und wir können niemals »hier auf Erden schon das Himmelreich errichten«, wie Heine sang, wir können keine Götter werden. Das ist nicht schlimm. Man muß es halt nur wissen, damit man nicht immer wieder enttäuscht wird in falschem Hoffen.

XVIII


Die wohlgeordneten Gedanken über Gorbatschow (»Ein Handschlag mit dem Weltgeist«) und das heillose Durcheinander über Rußland (»Blechnäpfe«) habe ich mir für dieses Buch aufgespart. Unveröffentlicht ist auch der Essay über Lili Marleen und die Lynchjustiz (»à la lanterne! à la lanterne!«).

Die Attacke gegen meinen ungnädigen Freund Lew Kopelew und den Fortsetzungsroman über das Erbe der Staatssicherheit und gegen die Proteuskünste der Stasispitzel habe ich, so wie es kam, in der ZEIT, im SPIEGEL und sogar in der FAZ veröffentlicht. Ich mußte mich einmischen in den Tagesstreit, denn ich schwebe nun mal nicht grinsend wie ein parteiischer Gott über den Parteien.

Der Zusammenbruch der DDR brachte auch eine Wende in den politischen Affekten. Die Regimegegner hatten in verschiedenem Maße mit dem Regime gestritten und gedealt. Nun aber, da die alte Machtelite ausgespielt hat, werden die Karten neu gemischt. Der vertraute alte Oberfeind ist weg, der gemeinsame Nenner in der Opposition gilt nicht mehr. Kleine Differenzen wachsen sich aus zu neuen Konstellationen im Kampf aller gegen alle.

In diesem neuen Streit, den ich nicht vermeiden konnte, wollte ich so gern Heines sarkastischen Ratschlag befolgen und meine Meinung »nur so allgemein als möglich« sagen. Aber das ist schwer. Sobald ich an gesellschaftliche Tendenzen denke, fallen mir leider immer auch einzelne Menschen ein, im guten wie im schlechten. Und sobald Namen fallen, hört der Spaß für die Betroffenen auf. Wer seine alten Freunde und Verbündeten kritisiert, der macht sie sich im Handumdrehn zu Gegnern, die erbitterter sind als die abgenutzten alten Todfeinde.

XIX


Neue Zweckbündnisse und alte Seilschaften. Die Empfindlichkeiten sind groß. Wir werden leider alle lieber von Dummköpfen gelobt, als von klugen Leuten getadelt. Grade die Intellektuellen aus dem Osten reagieren oft panisch auf Kritik. Der Grund ist mitteilenswert: Eine Gesellschaft ohne Streitkultur hat sie geprägt. Schon eine dumpfe kritische Andeutung im Nebensatz eines Artikels im Zentralorgan der Partei genügte, um die Existenz zu vernichten. Und so kommt es, daß die aufgescheuchten Kopfathleten jeden gutmütigen Spott wie einen Mordanschlag parieren.

Es ist wahr, ich habe mich unverschämt darüber lustig gemacht, daß Wendehälse Wendehälse Wendehälse schimpften. Als Stefan Heym in der Pose des Drachentöters am 4. November '89 seine leere Rede auf dem Alexanderplatz hielt, da dachte ich an seine vollen Hosen und mußte lachen. Dieses Lachen verging mir nicht einmal, als ich den perversen Mischmasch aus Gysi, Christa Wolf, Schabowski, Jens Reich, Ekkehard Schall und Markus Wolf auf der Rednertribüne sah.

Aber das bedeutet niemals, daß ich mich lustig machte über die heiligen Hoffnungen auf eine gerechtere Gesellschaft. So viele aufrechte Menschen in der ganzen Welt starben für diesen Traum, der jetzt unter dem geschändeten Namen Kommunismus ordentlich begraben wird.

Stefan Heym, hast Du wirklich vor vier Wochen in der Ostberliner Charite zugunsten entlassener Stasi-Ärzte gesprochen? Und hast Du tatsächlich die Mediziner in dieser berüchtigten Universitätsklinik mit einem infamen Vergleich dummgeredet? Hast Du allen Ernstes die Leute dort mit Juden im Ghetto verglichen? Hast Du sie ermahnt, sich an das Schicksal der jüdischen Ghetto-Polizei zu erinnern, die mit der SS kollaboriert habe und dann trotzdem selber auch ins Gas geschickt wurde?

XX


Heiner lieber Müller und bildgewaltiger Angsthase, mein verehrter Freund und Worte-Stecher, hast Du wirklich gesagt oder geschrieben, die Atombombe sei die jüdische Rache für Auschwitz? Willst Du am Ende Deines Lebens etwa witzig werden? Wenn Du schon deine Memoiren auf die Menschheit losläßt, mußt Du so hermetisch reden wie ein gewiefter Politiker und wortreich schweigen? Du lieferst ein Sittenbild der DDR-Tyrannei und reißt dem Selbstbild der Bonzen die Maske runter. Warum aber verteidigst Du Deine eigenen Masken als wären sie Deine Haut? Aber vielleicht hast Du recht damit. Du bist ja kein Lyriker und mußt nicht immerzu und penetrant ICH sagen wie ich.

1966 schrieb ich mir eine »Bilanzballade im dreißigsten Jahr«. Das war ein Jahr nach dem 11. Plenum. Ich verboten. Du in Ungnade. Oh, Du großer Zigarrenrauchbläser, damals, als es uns schlechter ging, gings uns irgendwie besser. Du warst ein junger Meister, ich ein alter Anfänger. Ich bewunderte Deine Stücke, Du schlucktest meine Lieder.

Wir waren — bei allem Respekt — ein Herz und ein Sparkassenbuch. Ein Herz waren wir, weil wir beide eins hatten: und ein Sparkassenbuch, weil wir beide keins hatten. Ich habe das Lied später im Westen nie wieder gesungen und halb vergessen, aber Du kennst es noch. Ich werde mir diesen Knüppel mal aus dem Liedersack holen.

Nun bin ich dreißig Jahre alt 
   und ohne Lebensunterhalt
       und hob an Lehrgeld schwer bezahlt
                und Federn viel gelassen 
frühzeitig hat man mich geehrt 
     Nachttöpfe auf mir ausgeleert 
            die Dornenkrone mir verehrt 
                 - ich hab sie liegenlassen

XXI


Und doch, die Hundeblume blüht 
auch in der Regenpfütze 
Noch lachen wir 
noch machen wir 
nur Witze

Nur Witze haben wir zum Glück nicht gemacht. Die Dornenkrone des Märtyrers haben wir stolz verachtet. Heute aber setzt Ihr Euch in der Akademie der Künste eine Dornenkrone aus Plüsch auf die ergraute Glatze und lahmt durch die Weltgeschichte wie das Leiden Jesu zu Pferde. Und Deine manierierte Kälte und Dein Sarkasmus sind nur die elegantere Form derselben Wehleidigkeit. Aber ich kenne Dich anders und besser. Und da Du unter all diesen Trauergestalten der große Dichter bist, mußt Du Dich nicht in die Pose des kaltschnäuzigen Zynikers werfen. Bilde Dir nicht ein, ich wollte ausgerechnet Dich belehren. Ich will Dich nur erinnern, denn ich weiß, daß Du weißt.

In meiner Ballade von vor einem Vierteljahrhundert gibt es eine taufrische Strophe, auf die wir uns verständigen könnten:

Die Zeit hat ungeheuren Schwung 
paar Jahre bist du stark und jung
dann sackst du langsam auf den Grund
der Weltgeschichte. 
So manche Generation 
lief Sturm auf der Despoten Thron 
und wurd beschissen um den Lohn 
und ward zunichte
Und doch: die Freiheitsblume blüht 
auch in der Regenpfütze 
Noch lachen wir 
noch machen wir 
nur Witze

XXII


Heiner, ist es wirklich wahr, daß Du in »Sinn und Form« hingerotzt hast, der Holocaust sei nichts Besonderes, sondern bloß das, was der alltägliche Kapitalismus schon seit eh und je in den Kolonien verbrach? Erfindest Du jetzt Treppenwitze der Weltgeschichte? Willst ausgerechnet Du die Verbrechen der Nazizeit einebnen?

Ach und lieber Stephan Hermlin, sind Sie wirklich der Meinung, daß der Zusammenbruch der DDR so entsetzlich ist wie damals die Machtergreifung der Nazis? Will man Ihnen Ihr Haus in Niederschönhausen, wo die Hohen schön hausen, wegnehmen?

Rainer Kirsch, hast Du wirklich hysterisch gekreischt, die DDR-Schriftsteller seien jetzt die verfolgten Juden? Bist Du vielleicht ausgerastet, weil der redliche Bernd Jentzsch Dir den begehrten Job als Chef des Literaturinstituts in Leipzig wegschnappte? Vielleicht solltest Du Dich mal in die Gaskammer von Auschwitz einschließen lassen und dort sechs Millionen mal einen wunderbar tiefen Satz aus dem Alten Testament abschreiben: Seid nicht zu klug.

Nein, Ihr seid keine gejagten Juden und keine kolonisierten Mohren. Mit diesen schlechten Bonmots und gezielt falschen Analogien seid Ihr der letzte Husten des untergegangenen Regimes. Solche Ausbrüche eines maßlosen Selbstmitleids sagen zwar wenig über das reale Leben in der Ex-DDR, aber sehr viel über Eure Lebensflucht. Liebe Christa, lieber Volker, lieber Christoph, waren Eure armseligen Privilegien unter Ulbricht und Honecker so süß, daß Ihr jetzt dermaßen verbiestert, verbittert und verblödet? Oder ist es etwa nicht ein Gipfel der Blödheit, daß etliche von Euch sich mit dem Spitzel Fink und dem dummschlauen Diestel ins Bett legen, der in meinen Augen mindestens so verdorben ist wie der schlaudumme Stolpe?

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Gysi, de Maiziere, Krause, Schnur — all diese Krokodile aus dem Bestiarium der Diktatur spielen schon sehr manierlich auf dem Klavier der Demokratie. Ihr Klugen aber plärrt treudoof das Eiapopeialied der Utopie und schuckelt dumpf die Nachgeburt des totgeborenen Kommunismus, als war sie ein gesundes Kind. Früher habt Ihr mit den Mächtigen pragmatisch um Auflagen und Westreisen gepokert, jetzt predigt Ihr wie lederne Jungfern von der roten Heilsarmee einen Himmel, den es nie gab. Niemand und nichts hat Euch zu Nachlaßverwaltern der kommunistischen Utopie legitimiert. Ihr müßt ausgerechnet mir den Traum von einer besseren Welt nicht predigen. Überhaupt soll kein DDR-Mensch mich darüber belehren, daß der Kapitalismus nicht das letzte Wort der Geschichte ist.

Ich weiß, Euch plagen nach all den realsozialistischen jetzt mehr marktwirtschaftliche Probleme: Zivilprozesse mit den Erben der Westgrundstücke und bedrohliche Mietverträge. Euch quält ein Behördenkrieg um akademische Pfründen und exklusive Renten. Das mag beschwerlich sein, aber ich finde es gerecht. Auch die sozialen Stricke aus der Zeit der Verstrickung müssen reißen. Und ginge es nicht um Euch selbst, würdet Ihr auch so denken.

Was ist Tragisches passiert? Ihr habt ein paar angenehme Vorrechte verloren und den anregenden Kitzel vertrauter Ängste. Die Nationalpreise stinken ein bißchen, und Eure Auflagen sinken. Die schmeichelhafte Über- und Ersatzfunktion der Künstler und Schriftsteller ist passe. Der Dichter glänzt nur noch mit seinen Werken und nicht mehr als Prophet und Hohepriester. Ich mußte hier im Westen auch lernen, die Pose des Guru und Schamanen abzulegen, in die wir bei unserem Streit mit der DDR-Obrigkeit geraten waren. Gebt es ruhig zu, wir waren alle ein bißchen gebauchpinselt von unserer erhabenen Rolle in diesem rotpreußischen Affentheater.

Ich habe Euch in all den Jahren vor der Wende niemals vorgeworfen, daß Ihr zu feige ward. Eure Kompromisse nahm ich eher als ein Zeichen für politischen Verstand. Aber Ihr selbst werft Euch Eure Verrenkungen vor, Ihr selbst verzeiht Euch offenbar nicht. Verzeiht nun wenigstens mir, daß ich mehr Glück hatte als Ihr, denn ich wurde frühzeitig und ganz und gar verboten. Und ich gestehe: Ohne diese entschiedene Nachhilfe durch die Partei hätte ich mich womöglich genau so durchlaviert wie Ihr. So ängstlich wie Ihr war ich allemal und hätte mich auch lieber arrangiert.

Aber ich konnte nicht anders, als den offenen Streit wagen. Und das ist die komische Wahrheit: schuld war meine Gitarre. Meine kleine spanische Weißgerber stachelte mich zu solcher Schroffheit. Sie ist eine kapriziöse südländische Schönheit und will nicht, daß im kalten Norden ein deutscher Duckmäuser an ihr rumfummelt.

Wer Lieder schreibt, den stoßen die Musen mit ganz besonderem Vergnügen in die Arena. Sie sitzen in der Loge und kichern böse, während ihr kleiner Troubadour im Kampfgetümmel schön verblutet. Es war nie mein Ehrgeiz zu verbluten, aber gefallen wollte ich den launischen Göttinnen doch. Ohne ihren Kuß gelingt nichts, da hilft kein Charakter und nicht einmal Talent.

24-25

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