Nichts ist wie es ist     Start      Weiter

Duftmarke setzen

(2. März 1990)

 

 

Revolution in der DDR. Ich hatte mich schon müde gehofft und wurde genauso überrascht wie meine treuen alten Feinde, die verdorbenen Greise im Politbüro. Die Geschichte läßt uns nun, die Kontrahenten von gestern, links liegen und schwenkt erst mal scharf nach rechts.

Ärgert euch schwarz, freut euch rot oder wundert euch gelb, hofft euch grün und blau, gröhlt Deutschland einig Vaterland und schwenkt die schwarzrotgoldenen Fahnen, holt euch Kirschen im Winter aus Neuseeland – ich nicht. Ich schlucke keinen Löffel mehr von dieser ranzigen Hoffnung. Ich zittere nicht mehr um dieses zerrissene Land.

Deutschland ist keine Menschheits-Tragödie. Der Riß schließt sich, andere Risse klaffen nun tiefer. Die Deutschen werden sich bald aufrappeln und finden. 5 Milliarden Menschen vegetieren auf dieser Erde, und wir gehörten alle schon immer zu den 500 Millionen, die im Wohlstand leben. In diesen Tagen befindet sich die DDR im freien Fall. »Bundesland Sachsen grüßt unseren Bundeskanzler Helmut Kohl« stand auf einem Spruchband in Dresden. Die Sachsen und Mecklenburger, die Thüringer und Brandenburger fallen beschleunigt auf den Boden des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland. Der Westen verhandelt nüchtern um die Modalitäten des Aufpralls. Und wenn das Buch mit diesem Text erscheint, ist die DDR vielleicht schon liquidiert.

So kopflos, wie die Deutschen ins Tausendjährige Reich rannten, so besoffen marschierten sie dann in den Krieg, so taumelten sie später auseinander und rammelten blindwütig gegeneinander. Nun zog Gorbatschow den Eisernen Vorhang hoch, und nun fallen die verfeindeten Brüder und Schwestern liebeswütig übereinander her. Und wir, die Linken in Ost und West, stehen blöde lächelnd daneben.

15


Gewiß hatte es unter Ulbricht und Honecker immer auch Rebellen gegeben, vereinzelte Aufrührer, Selbsthelfer, Querulanten und stilltapfere Verweigerer. Und einige steckten dem Volk in dieser endlosen Nacht sogar ein Licht auf: Pastor Brüsewitz verbrannte sich auf dem Marktplatz. Robert Havemann ermunterte mit dem aufreizenden Beispiel seiner Furchtlosigkeit die Verzagten. Und meine verbotenen Lieder geisterten als kopierte Tonbandkopien wie Glühwürmchen durchs Dunkel.

Der innersozialistische Konflikt ist Schnee vom vergangenen Jahr. Es ist aus mit dem eigenen Weg der DDR. Es gibt nur zwei Minderheiten, die noch an einem sozialistischen Versuch interessiert sind: die Machthaber von gestern und ihre bevorzugten Opfer von gestern: linke Christen und radikale Linke. Die oppositionelle Minderheit der dunklen Jahre ist schon längst wieder in die Minderheit geraten.

Seit nun im Osten die Sonne aufging, reibt sich das Volk den Schlaf aus den Augen. Die schweigende Mehrheit hat endlich das Sagen. Wer 40 Jahre lang alles schluckte, spuckt jetzt endlich mal große Töne. Brave Bürger, die zur sogenannten Wahl gingen wie Kälber am Strick, brüllen jetzt wie die Löwen. Duckmäuser, die ihr Leben lang mit gutem Grund schwiegen, skandieren jetzt Helmut! Helmut!  

Am Tag des Kanzlerbesuches in Dresden ging ein Häuflein mit diesem Spruch auf die Straße:

»Vom Stalinismus gleich in den Kapitalismus - ohne mich!« 

Sie wurden von etwa dreitausend Bürgern beschimpft, bespuckt und durch die Straßen geprügelt. Das Schild hielt mein alter Freund Bernhard T, ein Arbeiter, jahrelang bespitzelt und terrorisiert, eingesperrt im Dresdner Stasiknast Bautzener Straße, weil er zur linken Opposition gehört.

16


Ausgerechnet der wurde von einer Deutschland-Deutschland-Meute jetzt als »Rote-Stasi-Sau« und mit »Rote raus!« begeifert. Eine Klapsmühle.

Die gestern noch nach der Partei-Pfeife tanzten, pfeifen jeden nieder, der in Leipzig auf dem Platz gegen die gesamtdeutsche Fallsucht auch nur Bedenken anmeldet. Die übergeduldigen Opfer des totalitären Regimes fordern jetzt den totalen und sofortigen Anschluß an die Bundesrepublik.

Nach Rache schreien die, die sich nie wehrten. Wer nie das Maul aufmachte, redet jetzt mit Schaum vor dem Mund. Der Haß auf die Stasi sitzt tiefer als die Liebe zur Freiheit, er ist ja auch solide gewachsen.

Ich kenne genug Menschenkinder, die im Stasiknast saßen und gefoltert wurden. Solche reden mit Abscheu von der Stasi, mit Bitterkeit, mit Verachtung und mit traurigem Spott, sie reden fast wie erschöpfte Therapeuten. Lynchwütigen Haß gegen diese verhaßte Firma fand ich bei denen, die nie aufgemuckt hatten.

Es ist die Scham über die eigene Schwäche, das Entsetzen über die eigene Feigheit, Wut über die eigene Mordsgeduld mit diesen Mördern. Wie oft hatten sich solche Schreihälse auf die Zunge gebissen, wenn es galt zu protestieren, wie oft hatten sie in Versammlungen geschwiegen oder sogar gegen schuldlose Menschen gegeifert, wie oft haben sie sich abgewandt, wo sie hätten helfen können. Wie viele Liebende haben einander im Stich gelassen, wie viele Freunde haben einander verraten. In 40 Jahren kommt allerhand alltägliche Schäbigkeit zusammen. Der nicht zu Ende erzählte Witz über Ulbricht, weil sich ein Fremder an den Tisch setzte. Bemacht haben sich fast alle und sei es durch kleine Zuträgereien, die schon an Denunziation grenzten, und oft um nur kleiner Vorteile willen.

17


Dieses flächendeckende Spitzelsystem funktionierte nicht ohne die gelegentliche Mitmacherei der Bespitzelten. Haß auf die Stasi, das ist der uneingestandene Haß auf den kleinen Stasi in der eigenen Brust, es ist der Selbsthaß in all seinen Verrenkungen, es ist die verdrängte Scham des gelernten Untertanen über seine selbstverschuldete Unmündigkeit. Die Menschen sind von innen mindestens so kaputt wie die Häuser.

Gut, das sind die Untertanen. Aber die Obertanen sehen nicht besser aus. Mich wundert diese plötzliche Wunderei, das kindische Entsetzen in der DDR über Verschwendung und Luxusleben der alten Obrigkeit. Teuer an Willi Stoph und Harry Tisch waren nicht die zehn gehorteten Videorecorder in der Tiefkühltruhe. Ich hätte keine Lust, im Nachtschrank von Margot Honecker herumzuschnüffeln und einen Packen westlicher Lockenwickler und zehn Flaschen Very Old Scotch Whisky sicherzustellen. Daß die spät aufgewachten Landeskinder drüben nun Ach! und Oh! schreien, mag noch hingehen. Aber die ausgebufften Mediengangster im Westen sollten doch wissen, was wirklicher Luxus in dieser Welt ist.

Der »Spiegel« entblödete sich nicht, eine Schweizer Juwelierrechnung vorzuzeigen über (ich weiß nicht mehr genau) an die neuntausend Mark oder Fränkli, egal, bezahlt für einen ganzen Set von Schmuckstücken, Armband, Halsband, Ring, Brosche und Ohrringe ... alles für Margots welken Hals. Das muß ja ein hübsches billiges Blech sein, für so wenig Geld! Das schenkt ja hier im Westen jeder beliebige Zahnarzt seiner verbitterten Ehefrau, damit sie ihm die Geliebte im Haus auf Mallorca nicht vorrechnet.

Und der alte Honecker soll doch tatsächlich einen Swimmingpool von 10 mal 17 Metern gehabt haben, da lachen ja die Hühner! Jeder zweite Apotheker in Altona, jeder dritte Kaufmann in Hamburg lebt luxuriöser. Sie predigten öffentlich Wasser und tranken heimlich Wein? Das ist zu spät und schlecht bei Heinrich Heine abgeschrieben. Ich finde viel schlimmer, wenn die Herrschenden öffentlich Wein predigen und heimlich Blut saufen.

18


Wenn ich Marx nur richtig mißverstehe, dann komme ich auf ein modifiziertes politökonomisches Grundgesetz in der Geschichte: In jeder Gesellschaft kommt es darauf an, den geschaffenen Reichtum so ungerecht wie nur möglich zu verteilen, ohne daß es Arger gibt. So wird es auch in Zukunft sein. Allerdings - dieses sensible Level herauszufinden, ist heikel, denn die Duldsamkeit der Ausgebeuteten ist eine variable Größe.

Aber an diesem korrigierbaren Fehler sind die Stalinisten nicht gescheitert. Verheerend waren nicht die sozialen Ungerechtigkeiten, sondern etwas anderes: Das Bonzen-System führte dazu, daß überhaupt kein Reichtum mehr geschaffen wurde, den man dann schön ungerecht verteilen kann. So war denn auch der Luxus, den sich die oberen Feudalsozialisten aus der allgemeinen Armut herausrissen, selber ärmlich und spießig. Dieser ärmliche Reichtum ist ein Indiz für ihr Versagen sogar als Ausbeuterklasse. Die Bonzen hatten Luxusjachten? Und gingen auf die Jagd? Und wuschen in Wandlitz mit OMO? Und schoben ihrer Brut Privilegien zu? Ein Wochenendhäuschen für die verwöhnte Tochter? Ein schickes Auto für den dummen Sohn? Es ist banal und zum Lachen. Das machen die Reichen und Mächtigen im Westen auch, nur ein paar Nummern größer, stilvoll und ohne schlechtes Gewissen. Sie hatten auch mehr Zeit, eine Herrschaftskultur zu entfalten, sie sind nicht so neureich und neumächtig.

Sozialismus ist kein Ziel mehr. Die Leute wollen auch nichts mehr hören von einem Sozialismus mit menschlichem Antlitz. Mit dieser Tautologie hatte Dubcek unsere Gemüter 1968 entflammt. Das ist nun auch passe. Das großangelegte Tierexperiment an lebendigen Menschen ist beendet.

19


Ja, schade, aber auch ein Glück. Sogar der ordinärste Anschluß an die Bundesrepublik ist immer noch besser als alles, was vorher war. Ich hatte freilich andres im Sinn. Aber es ist ja auch nicht die Aufgabe der Weltgeschichte, den kleinen Biermann zu beglücken. Ich wollte das offenbar Unmögliche: ein deutsches Land, das nicht nur seine kurzsichtigen Bedürfnisse befriedigt, sondern mit all seiner bewiesenen Schöpferkraft einen Weg sucht, der die friedliche Selbstvernichtung der menschlichen Gattung umgeht.

So aber, wie die Dinge liegen und sich entwickeln, kann mein Vergnügen nur negativ sein. Ich gönne meinen alten Feinden diese Niederlage, ich wünsche den Stasiverbrechern eine harte Zeit. Ich frohlocke ohne einen Hauch von Mitleid, wenn ich an den dummen Mielke denke und an den dreisten Markus Wolf, an den verblödeten Hager und den verlogenen Hermann Kant. Ich wünsche dem früh umerzogenen Nazi Günter Mittag und seinem gefürchteten Kombinationsdirektor Wolfgang Biermann von Zeiss-Jena das Allerschlechteste.

Aber was wird mit dem Volk, das sich nun in sächsischer Mundart als kollektiver Dichter versuchte und dabei diese eine wirklich originelle Zeile raushaute: Wir sind das Volk! Ja, auch die nachfolgende Variation muß mir noch gefallen:

Wir sind ein Volk! Deutschland Deutschland schrien die Leute in Erfurt auf dem Domplatz zu meiner Begrüßung. Ja, wir sind ein Volk und wollen es auch sein. Aber was für eins - diese Frage brennt nun lichterloh. In meiner neuen »Ballade von Jan Gat unterm Himmel in Rotterdam« heißt es:

Bloß machen zwei halbe Schweine noch Kein ganzes Vaterland.

Ich erlebe die Wiedervereinigung wie ein brutales Rührstück, eine geklotzte Liebesheirat. Der Wohlstands-Michel, ein häßlicher Beau, heiratet sein elendes verprügeltes Cousinchen aus dem Armenhaus.

20


Aber hoppla, das haut doch nicht hin! Das arme Ost-Mädchen ist doch gar nicht so arm. Innerhalb des sozialistischen Lagers war die DDR bis grade eben noch das Wohlstands-Paradies. Und im übrigen gehört die DDR zum kleinen feinen Club der Superreichen, und zwar in einer Welt, die hungert und durstet. Wer nun mit dem Trabi ins Mercedes-Land flüchtet, rettet sich vom vielleicht achtreichsten ins drittreichste Land der Erde.

Honecker und seine Heuchler logen also frech mit der halben Wahrheit: die DDR, ein blühendes Land. Aber Kanzler Kohl und seine Wieder­vereinigungshaie lügen noch frecher mit der anderen Hälfte: die DDR, ein wertloser Schrotthaufen, der ohne den sofortigen Anschluß an die Bundesrepublik nicht zu retten sei. Und die Tschechoslowakei? Die ist doch noch viel kaputter als die DDR! Also auch anschließen? Ungarn geht munter am Stock, Polen ist das betende Elend, und die Sowjetunion nagt an Hammer und Sichel. Sind die auch alle nur zu retten, wenn sie schnellstens von Helmut Kohl adoptiert werden? Von Äthiopien aus gesehn ist das alles zynischer Kikifax.

Bis ans Ende dieses wunderbaren Jahres '89 reichte meine politische Phantasie grad noch: die Bonzen verjagen, ja! Die Stasi entmachten, aber ja! Die Mauer muß weg, na klar! Sogar eine Revolution ohne Blut und ohne altmodische Barrikaden konnte ich mir vorstellen. All das war längst gesagt und wurde Jahrelang herbeigesungen. Nun hat die Wirklichkeit unseren Traum ausgebrütet. Aber aus den Eierschalen kriechen andere Tiere, als ich mir träumen ließ – mehr Krokodile als Nachtigallen.

21


Die Wirklichkeit erwies sich mal wieder als phantasievoller als jedes Gedicht. Die kessen Pasquille aus dem politischen Tagesstreit, meine fröhlichen Gift- und Gallelieder im Getümmel, all die Verse, gemacht aus Spott und Schmerz, sinken nun aus der Zeitgeschichte ab in die Literaturgeschichte. Die Ballade vom Arbeiterdichter Max Kunkel vom VEB Chemie-Leuna war im November noch ein Schrei. Nun, nach zwei Monaten, ist sie ein Spickzettel des Geschichtsbewußtseins gegen das allzu flotte Vergessen. Wer war Hans Modrow, ja und wer waren Honecker und Ulbricht, Axen und Schnitzler, und was war eigentlich so was wie »Die Stasi«?

Mag sein, daß ich einmal, wenn alles erreicht ist – Erreicht habe nichts – als ein Anfang von vorn.

Mit diesem Lied fing ich an in Leipzig. Und so sollte es jetzt mit der DDR sein, ein wirklich neuer Anfang. Aber der Anfang von vorn erweist sich inzwischen als Anschluß von hinten.

Immerhin für mich selbst gilt es. Ich fange von vorn an. Nun muß ich endlich nichts mehr besser wissen. Nun bin ich nicht mehr im Besitze der oppositionellen Wahrheit, nun habe ich endlich nicht mehr recht. Das alte Stück ist aus. Die vertrauten Bösewichte und ihre Widersacher gehen gemeinsam von der Bühne, und das neue Stück schreibt sich erst.

Ja, mich hat diese Revolution aus der immer gleichen Rolle befreit. Der Rufer in der Wüste darf wieder leise sprechen, darf sogar stottern und schweigen. Ich mache nun den geistigen Kassensturz und zähle die letzten Groschen und Pfennige der kommun­istischen Utopie zusammen. Münzen ohne Wert, ein bißchen Schummelgeld ist mir geblieben.

Trotz alledem, wen wundert's, bin ich immer noch meiner Meinung. Ich kann den Traum von einer gerechteren Gesellschaft in mir nicht auslöschen. Dieser Traum ist älter als alles, was sich Kommunismus nannte. Er ist so alt wie die Menschheit und würde immer wieder getötet, weil er halt immer wieder auferstand.

22


Bei der Suche nach Zukunft peile ich, wie andre auch, in all meiner Unsicherheit Modelle der Vergangenheit an. In meiner Ratlosigkeit grapschte ich mir aus der historischen Mottenkiste die Communarden raus, das niedergemetzelte tapfere Volk von Paris im Jahre 1871. Das passierte mir ohne Absicht und kann doch kein Zufall sein: Dreimal in den neuesten Liedern verwendete ich dieses alte Hoffnungswort. Wie ein Kind im Dunkeln singe ich über die Commune de Paris und ihre radikale Demokratie. Vielleicht ist der Friedhof Pere Lachaise das letzte Terrain geworden, vielleicht hat meine Utopie nur noch dort festen Boden unter den Füßen, wo er mit dem Blut der Communarden getränkt ist? Und vielleicht ist ein Schornstein des Krematoriums in Auschwitz der einzige, über den ein Barbar wie ich noch ein Gedicht schreiben kann.

Ich wäre so gerne auch mal in der Mehrheit gewesen. In seltenen historischen Konstellationen mag es solch ein bemessenes Affenglück auch geben. Vaclav Havel genießt es dieser Tage. Als ich am 1. Dezember nach 25 Jahren DDR-Verbot und nach 13 Jahren Westen zum Konzert in Leipzig fuhr, stieg mir der Duft eines dermaßen flüchtigen Glücks in die Nase. Ich genoß ein klammes Hochgefühl.

Dabei war ich hochschwanger. Meine Frau und ich wußten es schon aus dem Ultraschall, es sollte wieder mal nur ein Junge werden. Das Kind sollte am Tag des Konzerts kommen, aber meine Schöne mit dem Kugelbauch blieb stur. Mit allerliebster Unvernunft bestand sie darauf, dabei zu sein, wenn ich nach so langer Zeit wieder bei meinen Leuten singe. Wir hatten uns auch schon den allerschönsten Namen ausgeguckt. Aber wo sollte uns dieser David geboren werden?

23


An diesem 1. Dezember fuhren wir rüber nach Ostberlin. Adlershof, links einordnen und rechts rüber, Kreuzung Adlergestell. Die Autobahn um Berlin rum war wie ein Knüppeldamm, und jedes Schlagloch schüttelte in mir Erinnerungen hoch. Rangsdorf: Ronald Paris, der Maler. Rechts ab ging's früher nach Wilhelmshorst zum Dichter Peter Huchel. Die alten Bilder stiegen hoch. Huchel ist tot. Und Ronaldo Ronaldini mit dem Parteipinsel – wie der jetzt wohl wendehälselt und seine elende Karriere übertüncht.

Vorbei an der berüchtigten Stasi-Autobahn-Raststätte Michendorf. Dann links runter Richtung Leipzig nach Süden bis zur altvertrauten Reklame am teutschen Turm: Plaste und Elaste aus Schkopau. Das ist kurz vor Dessau, die verrottete ewig einspurige Elbebrücke, an der immer noch klein klein repariert wird. (Kennste den? Warum sind in der DDR die Autobahnen so kaputt? – Weil Hitler und seine verfluchten Nazis seit '45 nix mehr dran gemacht haben ...)

Also war ich darauf gefaßt, daß unser Kindchen in Leipzig zur Welt kommt, auch gut, in der berühmten verfallenden Heldenstadt. In Höhe Halle-Bitterfeld Tanken, Aussteigen, die Beine vertreten. Smogalarm. Menschen wie Ratten in einem chemischen Großversuch. Eine Glocke aus Eisnebel hielt den ätzenden Smog vom VEB Leuna fest am Boden. Am Anfang schuf Gott Himmel und Erden. Und die Erde war wüst und leer. Und es war finster auf der Tiefe . . . Aber am Ende schuf der Mensch das Chemiekombinat Halle-Bitterfeld. Und die Erde war verwüstet und voll Gestank, die Menschen husteten sich die Seele aus dem Hals, und es war düster im Kommunismus.

Wir erreichten dann Leipzig und fanden mit Mühe in der Dunkelheit die Messehalle 2. Eine riesige Betonkiste, minus 5 Grad Celsius, keine Heizung, kein Stuhl, keine Bank, kein garnichts. An der Querseite eine Art Bühnenpodest mit links und rechts je einem Lautsprecherkasten. Beim Soundcheck graute mir vor dem Konzert. Der Hall in dieser Halle war endlos. Jede Kirche ist dagegen ein furztrockener Raum.  

24


Ich hab es nachgemessen, 6 Sekunden lang sauste jeder Ton wie eine Billardkugel gegen die Beton-Bande. Jedes Wort schlug das vorige tot, jeder Ton überlagerte seine Vorgänger. Und ich wußte, das wird nicht besser, wenn erst das Publikum drinne ist. Mir war zum Weinen vor Selbstmitleid, es war schon zum Lachen.

Die Massen strömten und füllten den Riesenraum. Voll voll voll. Fünftausend mit bezahlter Karte, dreitausend reingemogelt. Über mir die Lichtanlage, ausgeliehen von einer Rockband, eine An Grill. Die Leute standen in Mänteln und Mützen, und ich schwitzte im Hemd.

Das Konzert war herzzerreißend schön, sentimental und aggressiv und bitter und lustig – für mich das Pendant zum Kölner Konzert am 13. November 76. Die Leipziger gaben meinem Affen Zucker und ich ihrem. Ja, es war das, was man einen Triumph nennt, wenn man keinen Schimmer davon hat, was dafür bezahlt worden war. Alte Lieder, neue Lieder. Krenz war grad noch an der Macht. Die Ballade von den verdorbenen Greisen wurde zerklatscht und zerlacht: Jubel über jeden guten Hieb gegen die verhaßten Schweinehunde.

Aber der Raum leerte sich in diesen 3 1/2 Stunden. Ich sang die Halle leer, ohne daß ein einziger Mensch wegging. Ein Wunder! Wie in einem physikalischen Versuch mit chladnischen Klangfiguren drängten sich die Leute, immer den Ohren nach, an die Stellen, wo der Sound nicht ganz so ausgekotzt war. Die Menschen schoben sich immer enger aneinander, wie verfrorene Schafe auf freiem Feld. Und der Wolf heulte in die eisige Winternacht.

Ich hätte einfach proficool für die Massen in Ost und West singen sollen, die zu Haus bequem am Fernseher saßen und von diesem infernalischen Hall nichts hörten. Aber das konnte ich nicht. Ich machte die Erfahrung, daß ein paar Tausend frierende Menschlein viel mehr Gewalt haben als ein paar anonyme Millionen, die an der Glotze in ihren warmen Stuben zuschaun.

25


Also sang ich für die da vor mir in der Tiefkühltruhe. Ich sang miserabel: grob, laut und penetrant überartikuliert. Ich brüllte mich heiser. Und ich spielte nicht, ich drosch die arme Gitarre, meine kleine Weißgerber, die sonst so schön leicht von selber spielt, wenn sie gegen meinen Gesang ihren eigenwilligen kontrapunktischen Weg geht. Nun aber trottete die Gitarre hinter mir her, es war ein Trauerspiel. Ich merkte den Mangel, und das verschlimmerte ihn noch. Ich drückte auf die Tube und wollte es zwingen. Wer will sich schon blamieren, nach so langer Zeit.

Verfluchtes Konzert in Leipzig! Ich hatte eine Stinkwut auf den Genossen Zufall, der mich in diese elende Halle getrieben hatte. Gewiß, die Freunde trösteten mich und sagten alles, was der eitle Künstler nach dem Konzert gern hört. Aber ich empfand die Widrigkeiten übertrieben groß, so riesig wie ein Loch im Backenzahn, das der Zunge wie ein Krater vorkommt.

Am nächsten Abend beteiligte ich mich als Zwerg Nummer 7 an einer Singerei im Ostberliner Haus der Jungen Talente, auch gut und sollte sein. Bettina Wegner und Stephan Krawczyk und Gerulf Pannach und einige DDR-Liedermacher, wiedervereinigt auf einer Bühne, eine kleine verklemmte deutschdeutsche Liedervereinigung. Ach, und Eva-Maria Hagen, die irdische Mutter der göttlichen Nina. Das war überhaupt das Beste. Eva sang die »Ballade vom wiederholten Abtreiben« und das Lied: »Ich bleib immer die ausm Osten« – da klappten die Ossies ihre Ohren hoch, da ging uns allen das Herz auf, und jeder konnte selbst hören, wo Gott wohnt.

Am 5. Dezember hatte ich einen freien Tag und fuhr mit meiner Frau nochmal über den Grenzpunkt Invalidenstraße nach drüben. Nur so, nur rumfahren, glotzen, vergleichen, sich erinnern. Ein Hauptmann der Staatssicherheit schob unsere Papiere durch den Schlitz in den Kontrollcontainer, und es dauerte. 

26


Halb mit Spott sagte ich:
Nun, was soll aus Ihnen werden, wenn das so weitergeht? Der Mann redete wie ein Kind:
Herr Biermann, die haben uns ja soo betrogen ... ja ... acht Jahre meines Lebens habe ich geopfert dafür . . . Ich fragte: Was haben Sie denn früher gearbeitet?
— Autoschlosser.
— Na dann . . .
— Ja aber als Schlosser -
— Sie werden mehr arbeiten müssen und weniger verdienen.
— Hätten wir bloß früher auf Sie gehört... (Da hätt ich ihm gern die Fresse poliert.)

Und so winselte er weiter: Wissen Sie, die haben uns früher immer gesagt: der Biermann ist ein Verbrecher. Und soll ich Ihnen mal was sagen? Er druckste lange und dachte tief und gebar unter Schmerzen endlich die abgrundtiefe Einsicht:
Die waren selber Verbrecher!
— Nein! lachte ich.
— Doch! sagte er todernst.

Da wußte ich, daß ich einen der Täter vor mir hatte, die sich nun als Opfer sehn. Und das Vertrackte: Sie sind es ja auch. Aber eben nur halb.

Der Tag ging schnell hin, am frühen Abend war es schon stockdunkel. Unter den Linden, die Schinkel-Wache, Marx-Engels-Platz, Weihnachtsmarkt neben dem Alex, dann Wilhelm-Pieck-Straße, Oranienburger, an der Synagoge vorbei, Friedrichstraße, Ecke Chausseestraße 131, meine alte Wohnung. Die Fenster vorne raus dunkel. Ich lenkte wie automatisch den Wagen vor meine Tür an der stumpfen Ecke Hannoversche. In der Glaskiste vor der bundesdeutschen Vertretung saß was Uniformiertes. Meine Frau sagte: Du, das Kind drückt mir so auf die Blase. So führte ich sie in meinen alten Hausflur. 

27


Wir tappten durchs Dunkel zur Hinterhoftür. Hier kannst du. Und so hockte sie sich in den Hof. Ich wandte mich ab, und spannte hoch zu den Fenstern des Hinterhauses, peinlich peinlich. Das Piselgeräusch trieb mir plötzlich einen Druck in die Blase, und so drückte ich mich paar Schritte weiter und half mir an Ort und Stelle. Und in diesem Moment schoß es mir durch den Kopf: Duftmarke setzen! Ja, das isses: Mein Haus! Meine Wohnung! Der Hund kommt nach Hause und behauptet seins, er markiert sein altes Revier. Mich schüttelte ein Gelächter, und so pinkelte ich mir auf den Schuh.

Wir kriegten uns gar nicht wieder ein, es war so komisch. Die alten Ängste trieben das Gelächter ins Blödsinnige. Und so waren wir endlich in der übermütigen Stimmung, die wir brauchten: Komm mit rauf, jetzt klinkein wir an meiner Tür! Schon wieder eine Lachsalve – klinkein und pinkeln – klingeling, Herr Freud! Zwei Treppen hoch. Meine Tür, wie immer: in Augenhöhe ein handgroßes Türchen, spiegelverglast. Ein einziger Name an der Klingel: Seidel. Einmal, zweimal, nichts. Endlich öffnet sich das Türchen in der Tür: ein Mann, in meinem Alter. Guten Tag!

Er: Wer sind Sie?

Ich: Wolf Biermann ... wissen Sie, der Liedersänger, ich wurde vor 13 Jahren aus der DDR ...
- Ich kenn Sie nicht.
- Ich habe zwanzig Jahre lang in dieser Wohnung gelebt.
- Das weiß ich nicht.
- Ich wollt nur mal sehen, wie's inzwischen aussieht. Dürfen wir mal reinschaun?
- Das geht nicht.
- Wohnen Sie hier?
- Ja, wieso?
- ... ganz allein in dieser großen Wohnung?
- Ja, wieso?
- Hier wohnten früher mit mir auch Martin Flörchinger,

28


der Brechtschauspieler, und Agnes Kraus, die Schauspielerin, und ein Tänzer und noch eine Frau. Is das nich'n bißchen groß für Sie?
— Nein, wieso?
— Bei welcher Firma arbeiten Sie denn?
— Außenhandel.
— Schalk-Golodkowski? 

Das wars. Klappe zu, Affe lebt. Stasi. Wir stapften im trüben Minutenlicht wieder runter. Ich dachte, wenn die Stasi aufgelöst wird, könnte ich da eigentlich ganz leicht wieder in meine alten Zimmer. Mit Kind und Kegel aus Hamburg gelegentlich in die Zweitwohnung, Chausseestraße 131. Kachelöfen, Briketts ausm Keller hoch, die alten Nachbarn, die nette Verkäuferin im Obst- und Gemüseladen, paar Freunde auch, M. mit seinen regenerierten Wartburg-Kurbelwellen, der wunderbar verdrehte Hussel, Genieböttcher, Kohlenotto, Doktor Tsouloukidse, der liebe Schnupfenarzt, Ilja und Verutschka, die altgewordenen Judenkinder aus dem GULAG, und meine Weidendammer Brücke mit dem Preußenadler nah bei, mein Hugenottenfriedhof mit Hegel und John Heartfield, das Grab mit dem Kaisergeburtstagsdichter Johannes R. Becher, der uns »Deutschland einig Vaterland«, diese vertrackte Zeile, eingebrockt hat, das Brecht-Archiv um die Ecke und sehr gut für mich: Hans Bunge, das lebende Brechtarchiv. Und bloß paar Schritte zum Berliner Ensemble. Warum eigentlich nicht.

Inzwischen sind wir gut zwei Monate weiter. Keine Rede mehr vom Rübermachen. Modrow schrumpft, Kohl bläht sich. Wenn die DDR demnächst gefressen ist, bleib ich besser in meiner lieben Vaterstadt Hamburg. Die Sowjetunion zerfleischt sich sowieso, das Riesenreich zerfällt in seine Bestandteile. Zehn oder zwanzig neue Staaten werden entstehen, solide miteinander verfeindet. Der Kommunismus ist am Ende, nicht nur in der Wirklichkeit, nein wirklicher: auch im Traum.

29


Als ich 1953 in die DDR kam, in das mecklenburgische Städtchen Gadebusch, da fand ich den Kommunismus kerngesund und fast schon verwirklicht. Unser geliebter Stalin war gerade gestorben, vom 17. Juni merkte ich nichts in diesem Kaff. Mir ging es prima, weil ich nichts begriff.

Als ich aber ein paar Jahre im Arbeiter- und Bauernstaat gelebt hatte, merkte ich, daß der Kommunismus krankt. Ich schrieb Lieder und Gedichte, die ihn gesund machen sollten. Aber die Bonzen bedankten sich nicht für meine bittren Pillen.

Als ich endlich verboten war, als die Stasi mir den Hals zudrückte, da schrie und röchelte ich die Wahrheit aus, daß der Kommunismus nicht krank, sondern todkrank ist.

Dann kam die Ausbürgerung, die ich als Chance und Glück im ersten Schreck gar nicht begreifen wollte. Ich geriet nun zum erstenmal in die Welt, auch in Länder, die ärmer und freier sind als die DDR. Und ich begriff das Unglaubliche. Ärmer und reicher, egal, der Kommunismus ist gar nicht todkrank, er ist längst tot. Da helfen keine Tränen und keine Lebenslügen, keine Kapitalspritzen und keine melancholischen Lieder.

Der Leichnam liegt über dem Land und verpestet die Luft. Mir gefallen zwei Menschen unter denen, die sich jetzt in der DDR an der politischen Rampe zur Schau stellen: die Rivalen Bärbel Bohley und Gregor Gysi. Aber die Bohley hat zu wenig machtpolitischen Verstand im Herzen. Und der junge Advokat Gysi hat als Konkursverwalter viel zu viel Herz im Gehirn. Wenn er wenigstens auf seine schöne Frau hörte, dann würde er jetzt nicht mit seinem Kußmaul am Kadaver des Kommunismus die Mund-zu-Mund-Beatmung versuchen. Was gehts mich an.

Hebt die Grube aus! Nach den Mördern kommen die Totengräber. Soll ich etwa mit der Gitarre schaufeln? Gib her den Spaten. Laßt uns das Riesenkadaverlein endlich begraben. Selbst Christus mußte erst mal drei Tage unter die Erde, bevor ihm das Kunststück gelang: nebbich die Auferstehung.

 

30-31


  

Nichts ist wie es ist

(4. Mai 1990)

 

 

Deutsches Theater in echt. Und die Welt schaut zu. Das Stück hat keiner geschrieben und keiner inszeniert. Wir ahnen nur: es kommt aus einer dunklen Tradition. Es gibt keine neuen Textbücher. Komparsen werden zu Hauptdarstellern, Hauptdarsteller zu Kulissenschiebern. Was war das eigentlich? Und was wird? Wird auch das Seelengeld Eins zu Eins getauscht? Werden die Ossis Bundis? Wird Pfarrer Eppelmann Nato-General?

»Solch ein Gewimmel möcht ich sehn: Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn...« Diese letzten Worte des Doktor Faustus stehn geschrieben über dem Portal am Haus des Kindes in der Ostberliner Stalinallee. Schöner Schwindel! Die Maurer, die den Bonzen der Partei dies Haus im Zuckerbäckerstil bauten, wurden am 17. Juni mit Panzern blutig wieder an die Arbeit getrieben.

Ach und vonwegen: freier Grund, freies Volk! Als Goethe seinem Faustus am Ende diese Vision in den Mund legte, war dies die Illusion eines erblindeten Greises. Denn die Schaufeln, die Faust da schippen hörte, legten ja gar keinen Sumpf trocken, der »am Gebirge hin« zieht. Es sind »in echt« die Lemuren, madegassische Halbaffen und Hilfsteufel, die da sein Grab graben. Und der Teufel Mephistopheles frohlockt schon mit seinem Schuldschein in der Tasche und pocht auf die Vollstreckung des Titels gegen den Panner im Seelengeschäft. Bitterböse Ironie. Aber die Abiturienten kauen bis heute Goethes Faust wie geschichtsoptimistische Gummibärchen.

Wir Deutschen. Was wollen wir? Was können wir? Und Wo geht die Reise hin? Es deutscht mächtig in Deutschland.

32


Und das moderne Theater findet nicht auf den Brettern statt, die die Welt bedeuten, sondern im Fernseher, der die Welt ist.

Ich habe für unser neuestes Theaterstück einen pathetischen, einen sarkastischen und einen hegelschen Satz im Angebot: So wie es ist, bleibt es nicht schrieb Brecht in revolutionären Zeiten. So wie es bleibt, ist es nicht - äffte Heiner Müller in den Zeiten der Stagnation den Brecht.

Nichts ist, wie es ist schrieb Shakespeare, und darauf ist Verlaß. Mit diesen drei Zauberworten kommen wir durch ,die Welt. Also wat is Sache?

Die Bilder vom 9. November am Brandenburger Tor sind mir eingebrannt. Die Menschentrauben auf der Mauer, die Sektkorken, die Freudentränen. Soo ein Taag, so wunderschöön wie heutää... Politiker schwer rudernd im Volksgewimmel. Die winkenden Arme aus Trabi-Fenstern an den Grenzübergängen werden wir nicht vergessen.

Es war herzzerreißend schön, wie die Heimkinder aus dem Osten und die Wohlstandskinder aus dem Westen sich umarmten. Gut, nun ist uns das Herz schön zerrissen, das Land wird wieder eins. Aber wir kauen heute noch daran, daß mancher Jubel in der Geschichte die Ouvertüre für eine blutige Oper aus Heulen und Zähneklappern war.

Nichts gegen freie Wahlen! Hitler wurde von seinen Deutschen frei gewählt. Ja, und niemals hat das Volk in Osterreich so gejubelt wie im März 1938 beim Anschluß. Nicht jeder Hornochse ist eine heilige Kuh. Auch eine Volksabstimmung ist kein Gottesurteil. Und wer macht wen kaputt? Nicht nur Tyrannen ruinieren ein Volk, es kann sich auch selbst ins Verderben stürzen. Nichts ist, wie es ist. Die Erscheinung ist nicht das Wesen, aber das Wesen kommt zur Erscheinung. Halt, immer langsam!

33


Die Stasi hatte die magische Zahl des George Orwell nur um ein Jahr verfehlt. Seit 1985 war die Bespitzelung der DDR-Bevölkerung lückenlos, im Jargon der Menschenjäger: »flächendeckend«. Diese Tyrannei ist passe. Wurde sie gestürzt, oder ist sie einfach nur zusammengebrochen? Waren es Gorbatschows Panzer, die nicht rollten, oder waren es die Spaziergänger in Leipzig?

Und es war doch eine Revolution! Es war doch eine radikale Umwälzung – aber wo sind die Revolutionäre? Waren die 40 % CDU-Wähler am 18. März etwa Konterrevolutionäre? Wählten sie Kohl? Oder wählten sie sich selbst? War vielleicht jeder CDU-Wähler eine Blockpartei auf zwei Beinen, die das Elend ja tief mitverschuldet hatte?

Ein Freund aus Schottland schrieb mir eine drollige Rechnung: Jetzt kriegte diese stasigelenkte, diese durch und durch verdorbene Ost-CDU für jedes Jahr ihrer Kriecherei genau 1 Prozent.

Ach und kann man eine Revolution überhaupt kontern, die gar keiner gemacht hatte? Und mußte alles so flott gehn? Ist dieser de Maiziere ein Moses, der sein Volk aus der Sklaverei führt?

Wie war das: 400 Jahre Sklaverei in Ägypten, dann 40 Jahre durch die Wüste auf dem Weg ins Land, wo Milch und Honig fließen. Macht genau 10 %. Und nun 40 Jahre Sklaverei im Stasi-Staat. Waren nicht mal 4 Jährchen Zeit, sich zu berappeln, wie damals die Juden in der Wüste? Werden morgen schon Milch und D-Mark fließen?

Egal, das kranke Kind soll jetzt essen, die finsteren Zeiten sind endlich vorbei, und ich bin heilfroh. Und nur ein verbiesterter Plattkopf jammert darüber, daß es endlich besser wurde. Grade die Linken in Ost und West sollten nicht lamentieren, es versüßt den Rechten zudem den Triumph. Halten wir uns also an Mompers albernen Imperativ: Nun freue dich!

34


Von Robert Havemann lernte ich es ab: Wir dürfen nicht wie das Leiden Jesu zu Pferde durch die Weltgeschichte reiten. Damals in der Chausseestraße 131, mitten in den finsteren Zeiten, als uns allen sonnenklar war, daß das Elend noch ewig dauert, sang ich mir und meinen verzagten Freunden ein kleines Hoffnungslied.

Lied von den bleibenden Werten

1
Die großen Lügner, und was Na, was wird bleiben von denen? daß wir ihnen geglaubt haben Die großen Heuchler, und was Na, was wird bleiben von denen? daß wir sie endlich durchschaut haben

2
Die großen Führer, und was Na, was wird bleiben von denen? daß sie einfach gestürzt wurden Und ihre Ewigen Großen Zeiten Na, was wird bleiben von denen? daß sie erheblich gekürzt wurden

3
Sie stopfen der Wahrheit das Maul mit Brot
Und was wird bleiben vom Brot?
daß es gegessen wurde
Und dies zersungene Lied
Na, was wird bleiben vom Lied?
daß es vergessen wurde

Ja, so ist nun alles gekommen. Übrig blieb ein tief verwirrtes Volk von verkappten Helden. So war es auch nach dem Tausend­jährigen Reich. Man wunden sich, wie Hitler es so lange hatte machen können, denn es wimmelte auch damals plötzlich von Widerstandskämpfern.

35


Sie singen in diesen Tagen das gleiche Lied wie nach 1945: »Ach, wenige waren wir - und viele sind übriggeblieben.« Praktisch: Wo keine Schuld ist, braucht es auch keine Sühne. Wie sollen auch die kleinen Leute zum Bewußtsein ihrer bescheidenen Schande kommen, wenn sogar die großen Verbrecher sich als Menschenfreunde spreizen. »Ich war wie eine Mutter zu euch«, sagte, kurz bevor sie erschossen wurde, die Frau des Ceausescu zu den Soldaten. Pol Pot? er wollte zurück zur Natur, ein Rousseau des 20. Jahrhunderts und schon wieder im Anmarsch. Korruption? Ich bin ein armer Mann, sagt Honecker. Krenz? er wußte von nichts und hatte nie nichts zu sagen. Er war jahrelang von Kopf bis Fuß verantwortlich nur für die bewaffneten Organe: Polizei, Stasi, Armee, und sonst gar nichts. Waffenhandel, Drogengeschäfte? Günter Mittag wußte nicht, was Alexander Schalk-Golodkowski treibt. Kopfgeld? Verkauf von Landeskindern? Gewiß, aber nur gegen Naturalien: Menschenfleisch gegen Apfelsinen, beteuert der tiefgläubige Menschenfreund Vogel. Die brutale Mimose droht zum hundertsten Male damit, das Mandat niederzulegen und tut es nicht. Gesinnungsterror? Ich bereue nichts, knarrt Karl-Eduard von Schnitzler und verkauft in westlichen Talkshows seinen hartnäckigen Zynismus als Charakterstärke. Jeder stinkende Lump offeriert sich nun als verkannter Philanthrop. Markus Wolf? - ist ein Kollege von Stefan Heym geworden. Schabowski wollte zusammen mit Egon das Ruder noch perestroikisch rumreißen, ehrlich!

Es wimmelt von tiefmoralischen Folterknechten und hochmoralischen Berufslügnern. Ja, was verlangt ihr denn vom Deutschlehrer Piesepampel, dem kleinen Denunzianten im Kaff Kyritz an der Knatter, der für 110 Mark pro Information sein Gehalt aufbesserte. Ich hör schon auf und halte mich an die drei Zauberworte von Brecht und Müller und Shakespeare.

36


Die Bilder rauschen durch die Röhre. Eine Wirklichkeit schwemmt die andre weg. Erinnert Euch wenigstens an die Bilder in der Tagesschau vom DDR-Wahlkampf! Der reiche Onkel aus Oggersheim schwamm fettvergnügt oben in einem Meer von schwarz­rotgoldenen Fahnen. Bundeskanzler Kohl badete in den Wogen einer Begeisterung, die ihm im Westen keiner liefert. Der Kanzler aus Bonn atmete kleindeutsche Luft und formte aus ihr großdeutsche Worte. Morgen, Kinder, wirds was geben, sagte der Weihnachtsmann mit dem Knüppel im Sack. Kohl ging schlauer auf Dummenfang als der kluge Lafontaine. Und all das auf meinem Domplatz! in meinem Erfurt! Er tönte herab durchs Mikrophon von meiner!! Freitreppe. Das Blaue vom Himmel redete er auf meine Leute runter. Meine Leute? Langsam!

Ich sang kurz vor Kohls Auftritt in diesem Erfurt. Es war grad ein Donnerstag, der Erfurter Leipzig-Montag. Ich hatte meine Tonanlage in der Thüringen-Halle aufgebaut, für das Konzert um acht. Vorher, um sechs, sollte ich auf dem Domplatz reden.

Das Meeting war schon im Gange. Eine aufgeregte Masse in der Dunkelheit. Fahnen, Transparente, alles echt wie in der Glotze. Der erste Redner hing schon am Mikrophon. Mit Vernunftsgründen predigte er den Leuten Nächstenliebe. Er mahnte an, daß nun all die entlassenen Stasi-Mitarbeiter auch Menschen sind und schnellstens eine ordentliche Arbeit brauchen. Die Masse murrte und knurrte immer bedrohlicher. Kein Aas will ja all die entlassenen Spitzel einstellen.

Auch war publik geworden, daß es etlichen cleveren Stasis gelungen war, sich von befreundeten Schuldirektoren schnell noch als Deutsch- und Geschichtslehrer einstellen zu lassen. Die Leute waren geladen! Sie schrien und pfiffen, der Pastor mußte abtreten. Die Schafe hatten den Hirten niedergeblökt, der Wolf wurde nun angesagt.

37


Ich drängelte mich durch nach vorn und stapfte die breite Treppe zum Dom hoch, hin zu den Mikrophonen - der vertraute Weg. Ich weiß ja, jede Rede vor so einer diffusen Menschenmenge driftet ab in Demagogie. Im harmlosesten Fall lügt man mit lauter Wahrheiten. War es Feigheit? Opportunismus? List? Ich donnerte jedenfalls lauter Worte, von denen ich wußte, daß sie dieser wabernden Masse gefallen. Ich wollte nicht ausgepfiffen werden. Ich sagte sowas wie: Mir macht es keine Sorgen, ob Schweinehunde, die uns jahrelang gequält und geängstigt haben, nun ihr Futter kriegen. Ich wünsche den Stasispitzeln alles Schlechte! Ich habe kein Mitleid mit diesen Verbrechern...

Die Erfurter johlten begeistert. Der Pastor und seine Freunde hinter mir stöhnten vor Wut über meine Aufhetzerei. Es ärgerte sie, daß sie mich überhaupt eingeladen hatten. Sie fürchteten Furchtbares. Von der Seite hörte ich den Gottesmann fluchen »Wolf hör auf! Du machst alles noch schlimmer! Das gibt ein Pogrom gegen die Stasi!«

Ich trieb es in dieser Tonart noch ein Weilchen. Mit jedem Satz entfachte ich ein begeistertes Haßgeheul. Die Masse jauchzte vor Lynchlust, und ich ließ mich treiben. In mir würgte ja selber der Haß gegen die verhaßte Firma. Grad eben hatte ich in Jena von einem offiziell eingesetzten Stasi-Auflöser des Bürgerkomitees eine Neuigkeit erfahren, die ich dort auf dem Platz lieber für mich behielt. Ich hätte damit womöglich eine Lawine blindwütiger Racheorgien losgetreten:

Im Untersuchungs-Gefängnis der Stasi in Gera hatte man einen sonderbaren Apparat entdeckt. Hinter dem Hocker, auf den der gefesselte Häftling gesetzt wird fürs Verbrecherfoto, fand man, von einem Vorhang verdeckt, eine Strahlenkanone. Eingepackt in schützende Bleiplatten war da 'ne An Röntgenapparat installiert, fest justiert auf die Geschlechtsorgane des Häftlings. Warum?! Wozu?!

38


Die wohlmeinende Phantasie der Stasiauflöser hatte sich zuerst an die harmlosere Lesart geklammert. Sie hatten geglaubt, es sei halt ein normaler Röntgenapparat, mit dessen Hilfe die Stasi womöglich – statt Finger ins Arschloch – im Naturversteck des Häftlings bequem einen Ehering, ein Feuerzeug oder eine Feile entdecken wollte. Bloß fand sich in diesem Raum gar keine Vorrichtung für einen Röntgenfilm auf der Gegenseite. Und, wie die Fachleute schnell herausfanden, dieser Apparat produzierte eine Punktstrahlung. Er war zudem vom Amt für Strahlenschutz weder abgenommen noch genehmigt. Wozu auch! Die Gamma­strahlung war so gebündelt, wie man es braucht, um organisches Gewebe schnell zu zerstören. Und eben solche Vorrichtungen wurden auch noch in Halle und in Magdeburg entdeckt.

Neu an dieser Neuigkeit war nur, daß auch die Stasi sowas macht. Das war bekannt: Vor zwei Jahren, nach dem Aufstand im rumänischen Kronstadt hatte die Securitate die Anführer mit solchen Gammastrahlen zu Tode behandelt.

An all das dachte ich auf dem Erfurter Domplatz und behielt es für mich. Ich redete allgemein mit starken inhaltsarmen Worten den Leuten nach dem Munde. Dann machte ich eine kalkulierte Pause und schrie ein theatralisches aber in die Lautsprecher. Dieses Wörtchen donnerte über den düsteren Platz und hallte von den verrotteten Fassaden wider. In langen Jahren erfahren im Belogenwerden lauerten die Leute nun auf die dialektische Wendung des gewieften Abwieglers. Ich tönte nach meinem »aber« sowas wie: Die meisten von Euch hier auf dem Platz haben sich doch alles gefallen lassen. Die meisten waren in all den Jahren doch Feiglinge. Ihr seid doch gelernte Untertanen. Und nun wollt Ihr die Stasi lynchen?! Ihr habt kein Recht dazu... Wollt Ihr etwa zu Mördern werden an diesen Mördern? Wollt Ihr Euch gemein machen mit diesen Verbrechern? Wollt Ihr einsperren? Wollt Ihr die Zellen entheiligen, die geheiligt sind durch die Märtyrer der Opposition?

39


In dieser Tonart sprach ich. Und die verdatterten Erfurter ließen sich diese Beschimpfung gefallen. Ich glaube, es gefiel ihnen sogar. Wenig später kam Kohl und versprach ihnen das Gelobte Land. So jubelten die gleichen Bürger in Erfurt ein paar Tage später dem Bundeskanzler zu, als wäre der traumlose Tölpel aus Bonn ein Messias. Nichts ist, wie es ist. Das kenn ich auch von mir: Kein Mensch lebt ganz ohne die Droge der Illusionen, nur die Toten sind clean. Honecker, Mielke und Krenz haben es mit diesem Rauschgift zu toll getrieben, sie sind bei all dem auch Opfer. Ihre eigene Bevölkerung hat ihnen den gefährlichen Stoff der Selbsttäuschung in immer größeren Mengen verabreicht.

So war es doch: Das betrogene Volk betrog ja auch. Es machte seine Obrigkeit jahrelang mit all den Jubelaufmärschen, mit den Fackelumzügen besoffen. Jede offizielle Losung, mit der dieses Volk an der Obrigkeit vorbeidefilierte, jedes Lachen in die offiziellen Kameras, jede Gruß- und Ergebenheitsadresse, jedes feige Klatschen, jedes Kind auf den Schultern des Vaters, das sein Papierfähnchen zur Tribüne hoch schwenkte, all dieser Schwindel mußte die Herrschenden ja täuschen. Wer kann ein Menschenleben lang solchen Wahnbildern widerstehn? Ja, nicht nur die Führer haben das Volk getäuscht, das Volk schlug blind zurück. Selbst verblendet schlug es seine Oberen mit der Blindheit, nach der sie süchtig waren. Die Sklaven haben ihre Herren raffiniert der Wirklichkeit entfremdet.

Am Schluß gabs noch was zu lachen: in den letzten Tagen des Regimes kippte die Tragödie schon ins Komische um. Als am 5. Oktober in Ostberlin der 40. Jahrestag mit dem obligaten Fackelzug der DDR-Jugend gefeiert werden sollte, vorbei an der weisen Führung und ihren Gästen auf der Tribüne Unter den Linden, da fanden sich schon nicht mehr genügend zuverlässige und jubelfreudige Idioten. 

40


Die Parteiführung karrte Kälber, Schafe und Esel im Blauhemd aus der Provinz nach Berlin und organisierte es so, daß diese wenigen FDJ-Kolonnen mit ihren Fackeln und Fahnen mehrere Male, hinten rum im Kreis geführt, vorn an der Tribüne vorbeimarschierten. Da sah man, was sie immer gewesen waren:

Kleindarsteller in einer kitschigen Operette mit echtem Blut. Von dieser Farce wird Krenz genau so wenig gemerkt haben wollen wie von den Prügeleien und Massenverhaftungen, die dann auf seinen Befehl hin folgten.

Auf seinen Befehl? Könnten Sie das vor einem ordentlichen Gericht beweisen, Herr Biermann? Nein. In der Gethsemanekirche sagte mir Werner Fischer, der oberste Stasiauflöser, im Vorübergehn: »Krenz hat viel verbrochen. Leider können wir grad ihm nichts beweisen, wir finden nichts Schriftliches.« Solche Probleme kennen wir im Westen auch:

Dr. Michael Graff (Sprecher der ÖVP) hat im Streit um den nettesten Wehrmachtsoffizier Österreichs dem »L'Express« gesagt: »Solange nicht bewiesen ist, daß er (Waldheim) mit eigenen Händen sechs Juden erwürgt hat, gibt es kein Problem.«

Nein, Krenz ist schuldlos. Er hat selber nichts verbrochen. Er ließ morden und ließ verleumden und ließ leiden und ließ sich nun auch von einem Bild-Schreiber sein Geseire als Buch herrichten. Und er ließ in etlichen Zeitungen mitteilen, daß er mit diesem Wolf B. sprechen möchte, der ihn soo verkennt. Ich möchte nicht. Man muß nicht durch jede Jauchegrube schwimmen, um zu wissen, was Scheiße ist.

Nichts ist, wie es ist. Die Illusionen wuchern in diesen Tagen genauso wild im Westen. Es ist schade, der Zusammenbruch des Ostens verschleiert vielen Menschen im Westen die Tatsache, daß ihr siegreiches System auch nicht gut genug ist für das Überleben der Menschheit. Allzuviele hier genießen jetzt Fausts höchsten Augenblick. 

41


Wie Faust am Ende zum Augenblicke sagen wollte: Verweile doch, du bist so schön... so formulierte unser schlichter Kanzler: Ich bin am Ziel meiner Politik. Die westlichen Demokratien kommen sich nun gefährlich gesund vor. Ein scharf geschminkter Aidskranker triumphiert am Grab seines verfaulten Feindes. Der Kapitalismus steht irreführend gut da auf unserem ruinierten Planeten.

Der Westen hat den Kalten Krieg gewonnen ohne einen Schuß. Ohne das altmodische Blutvergießen erobern nun die Konzerne riesige Absatzmärkte und billiges Menschenmaterial im Osten. Zum Glück nicht die Atomraketen, aber die Kurse steigen, die Börse notiert freundlich. Die Nachfahren der Roten Armee, die den Sieg über Hitler teuer bezahlte, betteln jetzt als billige Arbeitskräfte um Joint-ventures bei den Firmen, die sich in Auschwitz an den kostenlosen Arbeitskräften eine Goldene Nase verdienten. Was ist die Zerstörungskraft einer Stalinorgel, gemessen an der Kreditunwürdigkeit eines Landes bei der Weltbank. Die Sieger sind die Verlierer, die Verlierer Sieger. Ja, nichts ist, wie es ist:

Dieser Frieden ist auch ein Krieg. Wenn das Schicksal der Menschheit nicht auf dem Spiel stünde, könnte man sagen: was Solls! Die Geschichte retardiert halt in diesem Teil der Welt für ein paar Generationen. Aber die Zeiten da wir Zeit hatten, sind vorbei. Die Menschheit muß sich schnell wandeln, oder sie krepiert auch ohne Krieg.

Ja, der aufgeklärte Kapitalismus hat sogar doppelt gesiegt: über unsere stalinistischen Feinde und zugleich über unseren Traum von einer gerechteren Gesellschaft. Deswegen bin ich auch heilfroh und niedergeschlagen zugleich. Der Abschied von der Leiche des Kommunismus dauert schon mein halbes Leben.

42


Während wir nun mit einem lachenden und einem weinenden Auge in die Zukunft schielen, ist scheinbar nichts gegenwärtiger als all die Vergangenheiten. Stasi Stasi Stasi.) Es wimmelt flächendeckend. So weit ist es gekommen, daß ich mir schon den Stern kaufe, nur um die Story des Doppelagenten Schnur zu lesen. Stasi-Akten wechseln den Besitzer wie Aktien. Der Spiegel liefert seinen Lesern in abgewogenen Wochenrationen den Böhme-Kadaver aus Mielkes Keller. Werner Fischer löst die Stasi auf? Warum der? Will er seine eigene Akte vernichten? Sogar die besten Leute stinken verdächtig. Der Abdecker stinkt wie das verfaulte Schwein. Viele Stasis wurden gestylt als Stasiopfer. Mancher Spitzel wurde sogar eingesperrt, um ihn dann der Opposition zu implantieren ohne Eiweißschock.

Als Krenz an die Macht kam, und ich haute ihm ein paar bescheidene Wahrheiten in das ewig lachende Gebiß, da schrie Eppelmann: Biermann muß sich bei Generalsekretär Egon Krenz entschuldigen! Ich mag keinen Pfarrer, der nicht weiß, wo Gott wohnt.

Rechtsanwalt de Maiziere hat politische Fälle verteidigt und war nicht bei der Stasi? Wir wußten schon vor Jean-Paul Sartre, daß es ehrbare Dirnen gibt. Und die jüdischen Frauen, die im KZ Buchenwald von der SS in ein Bordell für botmäßige Häftlinge gezwungen wurden, sind Heilige. Aber ich mag keine stasiversifften Nutten, die nun auf Gretchen machen.

Der alte Rechtsanwalt Dr. Götz Berger jedenfalls, der unter den Nazis Berufsverbot kriegte und dann nach meiner Ausbürgerung auch unter Honecker verboten wurde, dieser alte Kommunist und wirkliche Spanienkämpfer weiß es aus Erfahrung, und er ließ es uns wissen: jeder Rechtsanwalt, der in der DDR politische Fälle bearbeiten durfte, hat engstens und weisungsgebunden mit der Stasi kooperiert. Ist CDU-Manager Martin Kirchner also kein Stasi? Und mein Freund Ralf Hirsch, der im Stasiknast saß, hatte also schon seit 1978 an die Firma geliefert? Wem kann man überhaupt noch trauen nach dieser Revolution, die so auffällig, so verdächtig liedlos ist?

43


Ja, liedlos. Oder kennst Du etwa ein neues Lied, das original auf dem Boden dieser Revolution gewachsen ist? All meine neuen Lieder zähln da nicht, ich lebe in Altona. Denke an die große Französische Revolution! Die hatte fast so viele Lieder wie Leichen, und jeder Kopf im Korb unter der Guillotine war eine garstige Strophe.

Bärbel Bohley sagte mir vor paar Tagen in Ostberlin: Ich lege meine Hand nur noch für einen Menschen ins Feuer, für Katja Havemann. Ach, sagte ich, und für mich nicht?! Du lebst ja im Westen, lachte sie.

Und du selbst, Bärbel? Ich jedenfalls, sagte ich ihr, ich war auch mal bei der Stasi.
– Nein, Wolf!
– Doch, Bärbelchen.
– Sag bloß nicht solchen Blödsinn, das steht sonst morgen in Bild oder im Spiegel, das fehlte noch!
– Ich war wirklich bei der Firma... Bärbel Bohley zerrte mich aus den Räumen des Neuen Forum. Wir gingen quer über die Liebknecht-Straße in ein Cafe und bestellten uns jeder einen Schwarzwälder Eisbecher und löffelten los.
– Hast Du ein bißchen Zeit?
– Immer! Bärbel, dies ist meine eigene Geschichte mit der Stasi:

Am 15. Mai 1953, Du weißt, ich war noch keine siebzehn, ging ich rüber in die DDR. Die Tränen über Stalins Tod waren noch nicht getrocknet, und das Blut vom 17.Juni war noch nicht geflossen.

Die Partei hatte alles geregelt. Ich geriet nach Gadebusch, Du wirst es nicht kennen, ein vergessenes Städtchen in flacher mecklenburgischer Landschaft. Ich lebte dort in dem Internat der Oberschule, ein ehemaliges Schloß auf einem künstlichen Hügel mitten im Ort. Meine Mitschüler fuhren jedes Wochenende zu ihren Eltern in die umliegenden Dörfer. Hamburg war zu weit, also blieb ich jeden Sonnabend/Sonntag allein im Schloß.

44


Da ich nach den Gesetzen der DDR ein OdF war, ein Opfer des Faschismus, kümmerte sich ein »Kamerad« dieser Organisation um mich: ein Genösse Georg Schönberner, zufällig der Staatsanwalt von Gadebusch. Er lebte mit seiner Frau und einem Hund in einer Mietswohnung. Dorthin war ich nun jeden Sonntag zum Mittagessen eingeladen. Ich hatte mich schnell eingelebt und fühlte mich. Ich war )a nun glücklich in meinem Vaterland gelandet, für mich das Land meines Vaters.

Vom Arbeiteraufstand in Berlin merkte ich nichts, ich hörte in dieser Idylle nur das, was ich sollte. In jenen Tagen wurde ich zu einer »Aussprache« in die FDJ-Kreisleitung zitiert. Ich stiefelte also um den schönen See herum zu den Baracken der Freien Deutschen Jugend. Dort wartete ein junger Mann auf mich, der mich aufforderte, mitzukommen. Wir gingen Richtung Bahnhof, dort stand, etwas abseits, eine großbürgerliche Villa nahe den Schienen. Ich kannte das Haus nicht und konnte nicht wissen, daß gelegentlich Schreie aus den Kellern drangen. Die meisten Leute in Gadebusch wußten wohl, daß in diesem Haus die Staatssicherheit haust.

Ich kam in einen großen Raum, es war am frühen Nachmittag, die Jalousien waren heruntergelassen. Ein älterer kräftiger Mann kam rein und sagte mir auf den Kopf zu:[»Du bist ein Agent unserer Klassenfeinde. Wir haben Dich entlarvt. Es ist aus mit Dir.« Ich sagte: »Nein, ich bin doch der Wolf. Wolf Biermann aus Hamburg...« »Eben. Du bist ein Agent unserer Klassenfeinde. Wir haben Dich entlarvt. Es ist aus mit Dir.« »Quatsch! die Partei hat mich doch hierher gebracht!« »Nein. Du bist ein Agent unserer Klassenfeinde.

45


Wir haben Dich entlarvt. Es ist aus mit Dir.« »Ich bin doch der Sohn von der Genossin Emmi Biermann aus Langen-horn in Hamburg!« »Trotzdem. Du bist ein Agent unserer Klassenfeinde. Wir haben Dich entlarvt. Es ist aus mit Dir.«J~ Ich krümmte mich in tausend Verrenkungen und beteuerte, daß ich doch der liebe Wolf bin. Dieses parteidumme Hammerwerk schlug mir die immer gleichen drei Sätze auf den Kopf. Ich regte mich auf und regte mich ab, ich schimpfte und klagte und erklärte.

Noch war ich nicht aus den Angeln gehoben, denn ich wußte ja: der Genosse da irrt sich. Und wenn alles aufgeklärt ist, wird er sich entschuldigen, und wir werden vielleicht von Herzen lachen...

Nach vielleicht einer halben Stunde kam endlich ein Break, da sagte dieser Mensch: »Du bist jung. Wir geben Dir noch einmal eine Chance. Wir lassen Dich laufen. Aber nur, wenn Du jetzt für uns arbeitest. Du wirst jede Woche einen Bericht schreiben über die Schüler im Internat und über Eure Lehrer. Und diesen Bericht steckst Du unauffällig hier im Haus in den Briefkasten. Du kriegst auch bezahlt dafür.« Nun, endlich, kapierte ich. Es war kein Mißverständnis gewesen, es war infame Methode. Ich schrie und stürzte auf den Menschen los und wollte auf ihn einschlagen. Lächerlich, ein junger Wolf gegen einen ausgewachsenen Hund! Mit ein paar trockenen Schlägen verteidigte sich der Mann und zeigte mir, wo der Hammer hängt. Dann verlangte er von mir eine Unterschrift. Nein, liebste Bärbel, nicht als Spitzel der Staatssicherheit. Ich sollte nun nur noch unterschreiben, daß ich zu keinem Menschen auf der Welt jemals ein Won über dieses Zusammentreffen sage, auch nicht zu meiner Mutter.

Ich hatte Angst und unterschrieb.

Verstört wie ich nun war, ging ich am nächsten Sonntag wieder zum Mittagessen. Mein väterlicher Freund sagte: »Was hast du, Wolf? Du siehst so bedrückt aus...« - »Nein, Schorsch, nichts.«

46


Nächsten Sonntag nach dem Mittagessen dasselbe: »Aber Wolf, ich kenn Dich doch. Hast Du was ausgefressen? Junge! zu mir kannst Du offen reden... das regeln wir schon... ich bin doch hier Staatsanwalt. Habt Ihr in der Schule irgendwas verbrochen? Lehrer geärgert? Oder was mit Mädchen, Du?« »Nein, nichts.« »Also lieber Wolf, wir sind doch Kameraden ... und Genossen... und Freunde... Du hast irgendeine Dummheit gemacht und willst es nicht sagen.« »Ich darf nicht.« »Unsinn!«

»Schorsch... ich hab was unterschrieben... ich kann nicht... ich war... in dem Haus an den Schienen...« Und kaum hatte ich dieses Wort rausgestottert, rief er zur Frau in die Küche: »Soll ich Hundi noch Gassi führen?« Er sprang auf, nahm Hund und Hundeleine und verpißte sich. Kein Wort mehr. Ich sah seinen unsteten Blick, ich roch seine Angst und verstand nichts. \ Dies war mein letztes Mittagessen beim Staatsanwalt. Solche Geschichten gibt es in der DDR wie Sand am Meer. Und die meisten gehen nicht so harmlos aus. Das ist jetzt 37 Jahre her. In diesen Wochen mit immer neuen Enthüllungen über die Stasivergangenheit erschreckt mich dieser brutale Anwerbungsversuch tiefer als damals. Wenn nämlich dieser Mann damals, der im Haus an den Schienen, anders mit mir geredet hätte, wäre mein Leben anders verlaufen

Er hätte nur sagen müssen:
»Wolf, wir sind so froh, daß Du aus Hamburg zu uns in das bessere Deutschland gekommen bist. Du weißt, daß viele verblendete Menschen unsere DDR hassen. Verrat, Republikflucht, Sabotage, Hetze. Wir kennen Dich und deshalb bitten wir Dich um Hilfe. Die DDR ist in Gefahr. Die Nazis haben Deinen Vater und Deine halbe Familie umgebracht.

47


Die allermeisten Menschen, die hier leben, waren doch begeistert von Hitler. Sie erziehen ihre Kinder gegen uns. Und auch nicht alle Lehrer an Deiner Schule sind auf unserer Seite. Von vorne greifen sie nicht mehr an, aber sie hetzen die Schüler auf, so hintenrum mit schlauen Fragen... Wolf, da müssen wir wachsam sein. Wolf, wir müssen diese Feinde entlarven.«

Es entsprach absolut meiner Prägung, ich hätte keinen Hauch eines moralischen Vorbehalts gespürt, ich wäre stolz über das Vertrauen der Partei gewesen und hätte mit Feuereifer jeden in die Pfanne gehaun, der wirklich oder eingebildet ein Wort gegen unsere, die beste DDR der Welt gesagt hätte.

Ich wäre langsam, wie tausende andere, in ein Spitzelleben hineingewachsen. Mein bißchen Verstand hätte immer ausgereicht, jede Niedertracht der Firma zu rechtfertigen, jede Denunziation hätte ich als Heldentat im Klassenkampf verklärt.

Und sogar wenn ich später Brecht gelesen hätte, wäre das auch keine Chance für einen Ausstieg aus dieser Karriere gewesen. Aus seinem reichen Werk hätte ich mir schon das richtige Falsche rausgefischt. Sowas schrieb Brecht:

Wozu wärest du dir zu gut 
Versinke im Schmutz 
Umarme den Schlächter 
Aber verändere die Welt 
Sie braucht es.

Ja, ich wäre im Schmutz versunken und wäre womöglich erst jetzt wieder aufgetaucht. Ich wäre mit meinen gesammelten Lebenslügen nicht zur Bildzeitung gelaufen, ich hätte vielleicht geredet wie Markus Wolf am 4. November auf dem Alexanderplatz. Ja, Bärbelchen, ich wäre Stasi geworden.

48


Keine Muse hätte mich da rausgelockt und keine Frau gerettet. Meine Freunde hätte ich unter diesem Pack gefunden. Keine Kritik von außen mehr, keine Kontrolle. Den Sternenhimmel der Weltrevolution über mir - und das moralische Gesetz des Verrats in mir, hätte ich keine Chance gehabt.

Ein in sich geschlossenes stabiles System aus Privilegien und Machtrausch ist noch schwerer zu durchbrechen als Minengürtel, Selbstschußanlagen und Mauer. Siehst du, Bärbel, ich verstehe sehr wohl, wie leicht man ein Stasi werden konnte. Aber wir dürfen nicht für alles Verständnis haben, nur, weil wir verstehn. Ach, Bärbel, ich hatte damals mehr Glück als Verstand.

Mein Eis in der Glasschale war über die lange Geschichte halb geschmolzen, eine unappetitliche Pampe aus eingemachten Sauerkirschen und Vanillesauce und Likör. Und die Serviererin war herzerfrischend. Schwarz schwarz schwarz: Bluse, Rock und Strümpfe und Schuhe. Aber sie lachte wie eine frische Süßkirsche.

In diesen Tagen machten Eppelmann und sein neuer Freund Kohl einen Vorschlag: Generalamnestie für die Stasi. Was Bärbel über Eppelmann murmelte, will ich vergessen. Aber was meinen Kanzler betrifft, muß ich kein Blatt vor den Mund nehmen. Ausgerechnet Kohl! Er will also Verbrechen vergeben, die andere erlitten. Er will eine terroristische Bande, die jahrzehntelang systematisch Menschen folterte, mordete, ängstigte, ruinierte und verkaufte, nun auf die Schnelle generalamnestieren. Er sagt in seiner schwammigen Art: Schwamm drüber! Ich finde: wenn einer sich selber die Gnade der späten Geburt attestiert und die Terroristen der RAF zugleich gnadenlos und ohne einen Hauch evangelischen Geistes verfolgt, dann hat er nicht das Recht, der Stasi eine Generalamnestie zu offerieren.

49


Ich denke mal wieder an Peter-Jürgen Boock, dem die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, aber kein einziger Mord nachgewiesen wurde. Boock, ein Mann, der sich in 9 Jahren fester Kerkerhaft nicht wendete, sondern wandelte. Dieser einstmalige RAF-Kleinterrorist sitzt immer noch sein Lebenslänglich in Fuhlsbüttel ab. 

Der Großterrorist Egon Krenz stellte dieser Tage, ein paar Schritte weiter, im Hamburger Stadtteil Wandsbek, sein Buch vor. Er quasselte, signierte, schüttelte Hände und reiste zur nächsten Dichterlesung weiter. Wir leben eben in einem Rechtsstaat. Die DDR ist noch nicht so weit, dort könnte er sich in diesen Zeiten solch eine Tournee nicht leisten. Seine Opfer würden ihn zerreißen.

Wundert Euch nicht, wenn solcher Zynismus die Menschen blindwütig macht. Hegel sagte, daß der Geschichtsprozess blind sei wie ein Maulwurf. Aber die Maulwürfe sehn ausgezeichnet mit ihrer Nase. Und womit wir? Geschichtslosigkeit kostet Geschichte.

 

 

*

50


Top