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Ein Bericht aus dem Jahre 2049  

Von Anne Petereit, 1999 

Im Grunde genommen sind es doch die Verbindungen mit Menschen, 
welche dem Leben seinen Wert geben. ( Wilhelm von Humboldt ) 

Durch die kleinen und mittleren Umweltkatastrophen zu Beginn des Jahrtausends war der Leidensdruck der Erdbewohner - die nackte Existenzangst der Überlebenden - derart angestiegen, daß endlich der allgemeine Wandel einsetzte. Was noch 30, 40 Jahre zuvor unmöglich schien, wurde nun realisiert. Zeitgleich mit den gewaltigen Umgestalt­ungen in Politik-Wirtschaft-Finanzwesen-Wissenschaft war es damals auch zu grundlegenden Veränderungen in der Lebensweise der Menschen gekommen. 

Nur davon soll hier berichtet werden. 

Ein großer Teil der Bevölkerung lebt in Gemeinschaften zusammen, die teils aus Produktions­genossenschaften entstanden sind, teils aus Freundeskreisen. Manche sind auch zusammengezogen mit anderen, die gleiche weltanschauliche Überzeugungen haben. Die Größe dieser Lebensgemeinschaften ist  unterschiedlich, es gibt Gruppen von einigen Erwachsenen mit ihren Kindern und es gibt Kommunen und Ökodörfer mit 200-300 Mitgliedern. 

Auch Gemeinschaften, die nur aus homosexuellen Frauen und Männern bestehen, sind nicht ungewöhnlich. Manche Gemeinschaften bestehen aus trockenen Alkoholikern oder aus ehemaligen Drogen- oder Arbeitssüchtigen, oder Gesunde leben zusammen mit Behinderten. Alle diese Sondergruppen werden von Sozialarbeitern und -pädagogen betreut. 

Der Trend zur Gemeinschaftsgründung hält noch an, weil immer mehr Menschen das Unnatürliche des Daseins als Kleinfamilie oder Single nicht mehr ertragen, weil sie ihre Isolierung und Vereinzelung als Beeinträchtigung ihrer Lebensqualität empfinden. In der bösen alten Zeit soll es ja manchmal vorgekommen sein, daß ein alter Mensch wochenlang tot in seiner Wohnung gelegen hat, bevor er gefunden wurde. So etwas können sich heute auch die Menschen nicht mehr vorstellen, die noch in Kleinfamilien leben, jeder hat Kontakt mit seinen Nachbarn.

Es gibt auch sehr viele Klubs, die besonders von Alleinlebenden gern genutzt werden. Jede Lebensgemeinschaft gibt sich ihre Regeln selbst und legt auch fest, ob sie mit oder ohne gemeinsame Kasse wirtschaften wollen. Ihre Entscheidungen treffen die Gemeinschaften in der Regel nach dem Konsensprinzip. Demokratische Abstimmungs­verfahren werden nur noch ausnahmsweise einmal angewandt. 

Bei Verstößen gegen die Gruppenregeln stellt sich ein Mitglied der Gruppe als Ankläger zur Verfügung, macht dem Betreffenden das Verwerfliche des Tuns klar und fordert, den Schaden wieder gut zu machen. Wenn dieser dazu nicht bereit ist, übernimmt der Ankläger die Schadensregulierung. 

Obwohl die Gemeinschaften hierarchiefrei sind, zeigt sich doch, daß es Menschen mit dem Talent zum Leiten oder mit dem Drang zum Herrschen gibt. Weil viele sich mit therapeutischen Verfahren, Supervision oder anderen Mitteln zur Bewußtwerdung befassen, werden Herrschernaturen und schlechte Leiter schnell durchschaut. 

Technische Geräte wie Waschautomat, Computer, Videorecorder, die früher fast in jeder Kleinfamilie vorhanden waren, werden heute gemeinsam benutzt von jeweils 10-20 Menschen. 

Da die Regionen von der Größe eines Landkreises zu 50-80% autark sind hinsichtlich der benötigten Produkte und Dienstleistungen, sind Wohnen, Arbeiten und Freizeitaktivitäten für fast alle Berufstätigen zusammengerückt.

Tägliche Arbeitswege von 2 Stunden gehören zu den Ausnahmen. Niemand fährt mehr mit dem Auto zur Arbeit, die öffentlichen Verkehrsmittel sind billiger und verkehren in dichter Folge. Nur die Bewohner sehr abgelegener Dörfer ohne Busverkehr sind noch auf eigene Fahrzeuge angewiesen. Viele Straßen sind so leer, daß die Kinder Reifentreiben, Kreiseln und Rollerfahren wieder für sich entdeckt haben. Die Wochenarbeitszeit beträgt 20 Stunden. Bis auf wenige Menschen sind alle berufstätig. Die keiner bezahlten Tätigkeit nachgehen, werden mehr bedauert als verachtet. Aber niemand mißgönnt ihnen ihr staatliches Existenzgeld. Die Mehrheit ist neben ihrem Beruf noch beschäftigt mit der Erziehung von Kindern, der Pflege von Alten und Kranken oder mit anderen gesellschaftlichen Tätigkeiten. 

Bekleidungskonfektion existiert kaum noch, denn die Menschen lassen ihre Kleidung in einer der vielen Schneidergenossenschaften in Maßkonfektion herstellen. Das ist natürlich teurer, aber da mensch in jedem Fall ein Kleidungsstück bekommt, das genau paßt und den eigenen Vorstellungen entspricht, da auch die Mode nur etwa alle 20-30 Jahre wechselt, wird Kleidung bis zum physischen Verschleiß getragen, und die Ausgaben für Garderobe sind eher zurückgegangen. Konsumstreben und Besitzstandsdenken sind verpönt als spießig und reaktionär. 

Das offene, vertrauensvolle Miteinander der Menschen, erfüllte Liebesbeziehungen, das Leben in der Gemeinschaft und aktives Freizeitverhalten lassen den Wunsch nach übertriebenem Konsum kaum noch aufkommen. Eigentumsdelikte sind sehr zurückgegangen. Die Gesichter der Menschen sind offener, kindlicher geworden. Denn die Masken und Panzerungen werden nach und nach abgelegt. 

Wenn jemand 40 oder älter ist und noch nie Psychotherapie genommen oder an halbtherapeutischen Verfahren teilgenommen hat, dann wird dies genau so mißbilligt, wie wenn in der bösen alten Zeit jemand sein Äußeres vernachlässigt hat. Denn die seelischen Deformationen, die Prägungen und Muster aus patriarchalischer Zeit wirken fort bis in folgende Generationen.

Es gibt nicht mehr so viele Krankheiten und Unfälle. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: die Umwelt ist weniger belastet durch den Rückgang von Industrieproduktion und Autoverkehr, die Menschen ernähren sich bewußter, es gibt kaum noch Über- und Unterforderung, Süchte sind stark zurückgegangen, die Menschen bearbeiten ihre seelischen Probleme und Konflikte, viele üben Transzendentale Meditation aus (diese werden ein Drittel weniger krank). In vielen Gemeinschaften werden täglich oder wöchentlich Befindlichkeitsrunden durchgeführt, bei denen Konflikte geklärt werden. Auch mit halbtherapeutischen Methoden arbeiten manche Gruppen. 

Das Subsistenzprinzip wenden die Menschen auch auf das geistig-kulturelle Leben weitgehend an. So gibt es in jedem Dorf, jedem Kiez mindestens einen befestigten Tanzplatz, wo morgens und, für die Berufstätigen oft auch abends, eine halbe Stunde Kreistänze gemacht werden. Groß und Klein beteiligen sich daran, wie überhaupt Kinder in die Freizeittätigkeiten stark einbezogen werden. Am beliebtesten sind die kulturellen Aktivitäten, die in Gemeinschaft ausgeübt werden, wie Trommeln, Obertonsingen, Tanzimprovisationen nach klassischer Musik, gemeinsame Meditationen, Tai-chi-Kurse, Trancetänze. Viele beteiligen sich an Jahreszeiten-Festen und an gemeinsamen Ritualen. Aber auch für individuelle künstlerische Tätigkeiten gibt es gute Voraussetzungen und kompetente Zirkelleiter. 

Zwar wird die Hochkultur nach wie vor subventioniert, aber die Alltagskunst nimmt einen größeren Raum ein als früher. Dadurch daß viele Unprofessionelle künstlerisch tätig sind, ist die Kluft zwischen Kunstproduzenten und -rezipienten nicht mehr so groß. Laien, die selbst Fachkenntnisse und praktische Fertigkeiten erworben haben, können die Leistungen der Hochkultur besser beurteilen. Das hat dazu geführt, daß kein bildender Künstler mehr ein Werk in die Öffentlichkeit bringt, das vom Inhalt und ästhetischen Anspruch her völlig nichtssagend ist, wie das noch im vorigen Jahrhundert oft geschah und mitunter auch noch teuer bezahlt wurde.

Zur Zeit gibt es heiße Diskussionen unter den Sportenthusiasten, ob die Olympischen Spiele, die vor 40 Jahren für die Dauer von zunächst 50 Jahren ausgesetzt wurden, in 10 Jahren wieder stattfinden dürfen. Skeptiker befürchten, daß sie erneut für Kommerz mißbraucht würden, daß es wieder zu Berufssportlertum und Dopingaffären kommen würde. Das Interesse an Sportarten, bei denen es auf Weiter-Schneller-Höher ankommt, ist allgemein etwas zurückgegangen. Mehr gefragt sind Sportarten mit hohem ästhetischen Wert, also Turnen, Eiskunstlauf, Künstlerische Gymnastik und natürlich Tanz in allen Variationen, der körperliche Bewegung mit der harmonisierenden Wirkung von Musik verbindet und deshalb von Psychotherapeuten immer wieder empfohlen wird. 

Monotones Joggen ist jedenfalls "out". Es ist anzunehmen, daß die Gegner der Olympischen Spiele sich durchsetzen werden, weil auch bei den aktiven Sportlern die Bereitschaft zu übertriebenem Leistungsstreben abgenommen hat, dem neuen Zeitgeist entsprechend. Nicht mehr Höchstleistungen auf einem bestimmten Gebiet, womöglich noch um den Preis von gesundheitlichen Schäden, sind gefragt, sondern die ganzheitliche, harmonische Entwicklung des Menschen.

Kinder suchen sich ihre Bezugspersonen in der Gruppe selbst aus. Sie sind nicht mehr völlig auf die Erwachsenen in der Kleinfamilie geworfen. Mißhandlungen und sexuelle Beziehungen zu Kindern gibt es in Gemeinschaften gar nicht mehr. Die Gründe sind wohl darin zu sehen, daß es kaum Erwachsene ohne Geschlechtspartner gibt. Zum anderen ist das Schamgefühl sehr groß, denn durch den offenen, freien Umgang aller in der Gruppe, also auch mit den Kindern, würde ein solches Vergehen nicht lange verborgen bleiben. Viele Jugendliche ziehen mit 14 Jahren aus ihrem Elternhaus aus und leben in eigenen Gemeinschaften zusammen. Da sie ihr Leben selbst bestimmen können und sich die Regeln ihres Zusammenlebens selbst geben, gibt es kaum noch einen Generationenkonflikt. Die jungen Leute fühlen sich nicht bevormundet und suchen deshalb gern die Gesellschaft und den Rat Älterer.

Manche Erwachsene leben monogam, andere in Gruppenehe; gelegentliche Romanzen außerhalb fester Beziehungen werden toleriert. Eifersucht hat sich überlebt; wo sie vereinzelt noch auftritt, wird sie belächelt als ein Relikt aus böser alter Zeit. Die Liebesbeziehungen sind nach wie vor nicht konfliktfrei, aber im großen und ganzen glücklicher und erfüllter als früher. Die Partnerschaften sind stabiler. Jedoch bleiben Paare nicht mehr aus wirtschaftlichen Erwägungen, verklemmtem Pflichtgefühl oder Angst vor Einsamkeit zusammen, wenn ihre Liebe erloschen ist. Trennt sich ein Elternpaar mit unversorgten Kindern, dann versuchen beide, in der Gemeinschaft oder wenigstens in der Region zu verbleiben. Promiskuität und Prostitution sind zurückgegangen. Besonders Menschen, die sexuell sehr aktiv sind, haben mit großer Selbstverständlichkeit mehrere PartnerInnen, sie können sich kaum vorstellen, daß dies in der alten Zeit verpönt war.

Wenn die Menschen alte Filme sehen oder alte Bücher lesen, dann sind sie oft fassungslos, daß es Zeiten gab, da Menschen wegen einer Dreiecks-Konstellation in Verzweiflung oder Tod getrieben wurden, daß aus Eifersucht getötet oder in den Freitod gegangen wurde. Nur noch durch Kunst und Literatur bekommen die Menschen eine Vorstellung vom Gruselstück der patriarchalen Gesellschaft, besonders, wenn darin auch gesellschaftliche Mißstände geschildert werden. 

In einer Gesellschaft, deren tiefstes Wirkprinzip nicht Beherrschen, sondern Behüten ist, da Mitgefühl, Fürsorglichkeit und Bereitschaft zum selbstlosen Dienst am Nächsten von der Gesellschaft nicht mehr ausgenutzt werden, sondern im Wertekanon ganz oben stehen, sind alle bemüht, jeder und jedem einzelnen zu voller Entfaltung und zum Glücklichsein zu verhelfen. Alle leiden mit, wenn ein Mann oder eine Frau ohne Partnerin/Partner bleibt. 

Aus diesem Grund werden zum Beispiel Menschen mit entstellten Gesichtern auf Wunsch einer Operation unterzogen, natürlich kostenlos. Menschen, die aufgrund ihres äußeren Wesens keine erotische Attraktivität besitzen, können in therapeutischen Gruppen ein anziehendes Wesen und Verhalten erlernen. Äußere Schönheit und die "Aufmachung" eines Menschen stehen längst nicht mehr so hoch im Kurs, vielmehr gilt als schön, wer nicht häßlich, also ohne Haß ist. 

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