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2.3  Ohne Rüstung leben,  Friedenspolitik von unten 

 

 

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Ende der 70er Jahre erreichte das Wettrüsten zwischen den beiden Supermächten USA und Sowjetunion eine weitere, entscheidende Runde: Am 12.12.1979 beschlossen die Außen- und Verteidigungsminister der NATO-Mitgliedsstaaten, neue Mittelstreckenraketen mit nuklearen Gefechtsköpfen zu stationieren. Der sogenannte Nachrüstungsbeschluß reagierte auf die Stationierung von SS-20-Raketen seitens der Sowjetunion. 

Der Streit darum, wer vor- und wer nachgerüstet hatte, bewegte die politische Diskussion jener Jahre, blieb aber letztlich müßig. Denn eines war offenkundig: Beide Seiten hatten genügend atomare Waffen vorrätig, um sich gegenseitig mehrfach auslöschen zu können. Gegen diese Bedrohung entwickelte sich in den frühen 80er Jahren eine europäische Friedensbewegung — im Westen wie auch (unter erschwerten Bedingungen) im Osten des Kontinents. Diese gesamteuropäische Perspektive wurde von der <Bertrand-Russell-Friedensstiftung> mit dem <Aufruf für ein atomwaffenfreies Europa> aufgenommen:

»Wir müssen gemeinsam darauf hinarbeiten, das gesamte Territorium Europas, von Polen bis Portugal, von atomaren Waffen, von Luft- und U-Boot-Stützpunkten und von allen Einrichtungen freizumachen, die mit der Erforschung oder Herstellung von Atomwaffen beschäftigt sind. Wir fordern die beiden Supermächte auf, sämtliche Atomwaffen vom europäischen Territorium abzuziehen. Insbesondere fordern wir die Sowjetunion auf, die Produktion der SS-20-Mittelstreckenraketen einzustellen, und wir fordern die Vereinigten Staaten auf, ihren Beschluß über die Entwicklung von Marschflugkörpern (cruise missiles) und Pershing-II-Raketen zur Stationierung in Westeuropa nicht durchzuführen«, 

heißt es in diesem Dokument (Russell-Friedens-Kampagne,4).

Führender Kopf der Europäischen Bewegung für atomare Abrüstung (European Nuclear Disarmament — END) war der britische Sozialhistoriker Edward P. Thompson, der auch einen ersten Entwurf des Aufrufs verfaßt hatte. Thompson prägte zu jener Zeit den Begriff des »Exterminismus«. Gemeint ist »der unserer Industrie-Zivilisation eingelagerte und von ihr auf die ganze Welt ausstrahlende Drang zur Massenvernichtung, -auslöschung, -ausrottung« — so Rudolf Bahros Zusammenfassung von Thompsons Analyse (Exterminismus, 9).  

Bahro setzte sich bei den <Grünen> dafür ein, den Aufruf für ein atomwaffenfreies Europa zu unterstützen. Zusammen mit Michael Vester erläuterte er in einem Beitrag die Bedeutung dieses Appells: 

»Die Russell-Initiative verwirft die Vorstellung von der Unüberwindlichkeit der Blöcke, die ja bedeutet, daß man sich auf die Manipulation ihres Verhältnisses statt auf einen Prozeß ihrer Aufhebung orientiert. Sie enthüllt die prinzipielle Unzulänglichkeit jeder Entspannungs­politik, die sich auf Abmachungen zwischen den Blöcken beschränkt. Sie versteht die Blockkonfrontation als ein beide Seiten übergreifendes System, dessen Eigendynamik aus den Interessen eines oder beider Kontrahenten nicht bis zu Ende erklärbar ist. Die Konfrontation als solche gebiert die Rüstungsschübe.« (Russell-Friedens-Kampagne, 31)

Nach den großen Friedensdemonstrationen im Herbst 1981, die mehrere Millionen Menschen in vielen europäischen Ländern auf die Straße gebracht hatten, trafen sich in Rom Delegierte der Organisationen, die den Aufruf unterstützten. Aus der Bundesrepublik nahmen u.a. Michaela von Freyhold, Hochschul­lehrerin für Soziologie an der Universität Bremen, und Rudolf Bahro teil. Dort wurde die erste europäische Konferenz für ein atomwaffen­freies Europa vorbereitet, die im März 1982 in Brüssel stattfand. Im Vorfeld dieser Konferenz arbeiteten die beiden den Entwurf einer <Charta für ein blockfreies Europa> aus. Sie erklärten dort u.a.:

»[...] wir sind an einen Punkt gekommen, wo zur Entscheidung steht: Entweder wir schaffen Krieg und Rüstung ab, oder Krieg und Rüstung schaffen uns ab. Wir müssen bis zur letzten Konsequenz bereit sein, die Welt so zu ändern, daß Krieg und Rüstung unmöglich werden.« (Charta; wieder abgedruckt in Pfeiler, 109) 

Es ging ihnen um »ein von unten wieder vereinigtes Europa der Völker, in dem die sozialen Wurzeln des Krieges, der Unterdrückung nach innen und des Kolonialismus nach außen ausgerissen sind« (ebd., 112). Dazu Michaela von Freyhold heute: 

»Mit dieser Charta, die auch Osteuropa einbezog, waren wir unserer Zeit voraus. Es ist deshalb falsch zu sagen, beim Fall der Mauer ein paar Jahre später sei man nicht vorbereitet gewesen. Da gab es schon konzeptionelle Vorstellungen, doch die fanden keine gesell­schaftliche Resonanz.«

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Michaela von Freyhold und Rudolf Bahro verband das gemeinsame Anliegen, Thompsons Exterminismus-Konzept in eine allgemeinere, auch sozial-anthropologisch begründete Theorie der modernen Zivilisation auszuweiten. Diese Arbeit war als Weiterführung der <Alternative> gedacht. 

Michaela von Freyhold fand Bahro »anregend«, weil »er mich zum Nachdenken über sehr große Fragen herausgefordert hat. Mit dem, was Rudi sagte, war ich oft nicht einverstanden, aber ich habe gemerkt, daß es sich lohnt, auf die von ihm aufgeworfenen Fragen dann eigene Antworten zu finden.« 

Seine größte Stärke habe ihn zugleich höchst angreifbar gemacht: daß er es wagte, gegen die herkömmlichen Vorstellungen anzudenken. Imponiert hat ihr sein geistiger Mut und seine Zivilcourage: »Rudi bezog auch dann Position, wenn er sich damit nur Nachteile einhandelte. In seiner Politik war er überhaupt nicht kalkulierend.«

Im freundschaftlichen Umgang kamen sie gut miteinander aus. Dagegen erwies sich die disziplinierte Zusammenarbeit an dem geplanten Buchprojekt auf Dauer als unmöglich, weil die beiden völlig unterschiedliche Arbeitsstile hatten. Michaela von Freyhold berichtet: 

»Ich war gewohnt, daß man bei gemeinsamen Werken erst eine Gliederung macht, sich dann die Kapitel aufteilt, skizziert, was darin geschehen soll, das diskutiert und dann anfängt zu arbeiten. Rudi setzte sich dagegen an seine elektrische Schreibmaschine wie ans Klavier, phantasierte wild darauf los, produzierte einen erheblichen Umfang an Seiten, die Vielfältiges aussagten und fuhr dann zu irgendwelchen Treffen der GRÜNEN. Mir überließ er es, herauszubekommen, wie man das gliedert und wie das, was ich dazu hätte beitragen können, zu integrieren gewesen wäre. Das hat nicht funktioniert.«

Die Orientierung auf ein von beiden Supermächten unabhängiges Europa stieß vor allem bei zwei politischen Formationen auf Widerstand — der SPD und der dem »realen Sozialismus« verpflichteten Deutschen Kommunistischen Partei (DKP). Im Rahmen der Auseinandersetzungen um die Wiederbewaffnung hatte die SPD-Führung bereits Mitte der 50er Jahre ihre Haltung zur militärischen Westintegration revidiert. Seither war die politisch-militärische Bindung der Bundesrepublik an die Vereinigten Staaten ein innerparteilich zunehmend unbestrittener Grundpfeiler sozialdemokratischer Programmatik geworden.

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Diese Generallinie galt auch gegenüber der »neuen« Friedensbewegung. Anders als bei der <Kampf dem Atomtod>-Bewegung in den 50er Jahren konnte sich die SPD nicht an deren Spitze stellen, weil sich die neue Bewegung in Opposition zur sozialdemokratisch geführten Bundesregierung unter Helmut Schmidt formierte. Die von Brandt und Egon Bahr eingeleitete »neue Ostpolitik« hatte Ende der 60er Jahre zu einer Wende im Verhältnis mit der Sowjetunion und den mittel- und osteuropäischen Staaten geführt, »aber die Berufung darauf ergibt keine Friedenspolitik heute«, erklärte Bahro in einem Papier zum »Forum Frieden« der SPD im August 1981. 

»Die Sozialdemokratie konnte innerhalb der Voraussetzungen der Blockkonfrontation zu ihrer Entspannungs- und neuen Ostpolitik übergehen. Jetzt ist dieser Spielraum erschöpft, und es ist sichtbarer denn je, daß die Blocklogik selbst verabschiedet werden muß, um nicht nur das Wettrüsten abzustoppen (das versteht sich von selbst), sondern auch nur die sicherheitspolitischen Minimalziele des Entspannungskonzepts zu bewahren.« (Wahnsinn, 53)

Bahro knüpfte mit seinem Programm der Blockfreiheit an Vorstellungen von Teilen der »alten« Friedensbewegung aus den 50er Jahren an, ohne dies explizit zum Ausdruck zu bringen. Damals hatte die Idee des »Neutralismus« zeitweise sogar bei einer Mehrheit der Westdeutschen Anklang gefunden. Doch dieser Stimmung entsprach zu jener Zeit keine gesellschaftliche Kraft, der es gelungen wäre, die darin zum Ausdruck kommenden Befürchtungen und Wünsche in ein entsprechendes politisches Programm zu übersetzen.

 

Aufgrund der wahrgenommenen Bedrohung, ins Schußfeld der beiden Supermächte zu geraten, wurde der Neutralismus in den frühen 80er Jahren wieder virulent: Bei einem »harten Kern« von rund zehn Prozent pazifistisch-neutralistisch Orientierten und einem runden Drittel der Wahlberechtigten, die positiv der pazifistischen und/oder neutralistischen Orientierung zuneigen, könne die Friedensbewegung »ein bedeutender Faktor innerhalb des Kräfteparallel­ogramms der Bundesrepublik werden, wenn sie sich nicht aufgrund unterschiedlicher Vorstellungen selbst zersplittert, und wenn es ihr gelingt, sich von dem Odium, kommunistisch gelenkt zu sein, zu befreien«, bemerkte der Friedensforscher Berthold Meyer (HSFK1982, 141).

Der Abwehr der SPD-, insbesondere aber der DKP-Positionen war Bahros Engagement in dieser Phase gewidmet. Vor über 800 Delegierten aus 350 Gruppen der Friedensbewegung, die sich Anfang April 1982 in Bad Godesberg trafen, begründete Bahro, weshalb die DKP als Bündnispartner dieser Bewegung nicht tauge:

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»Mit welchem Recht zählen sich jene zur Friedensbewegung, die sich mit dem Ostblock verbunden fühlen und in ihrer hiesigen Presse jedes Verbrechen rechtfertigen und beschönigen, das von Moskau aus begangen wird? ... Sie hängen sich hier an den Pazifismus an, aber ihre politische Heimat liegt dort, wo beschlossen wird, auf den Autobahnen nach Berlin die Aufkleber <Frieden schaffen ohne Waffen> zu entfernen und in der DDR junge Leute zu drangsalieren, die den Aufnäher <Schwerter zu Pflugscharen> tragen. ... Wie lange noch wollen wir uns einreden, wir könnten mit diesen Heuchlern an einem Strang ziehen?« (Spiegel, Nr. 15, 12.4.1982) 

Und er hielt fest: Die Polarisierung gegen die DKP-Politik sowie die scharfe Auseinandersetzung mit jenen, die Vorfeldarbeit für diese Partei betreiben, sei die Voraussetzung dafür, daß die Friedensbewegung ins Bewußtsein einer Mehrheit der Bevölkerung vordringen könne.

Bahro versuchte, die Geister in der Friedensbewegung zu scheiden, um den neuen Ansatz der »Blockfreiheit« möglichst klar herausarbeiten zu können. Deshalb trat er so unversöhnlich gegen die DKP auf. Deren Orientierung auf die Supermacht Sowjetunion wurde innerhalb der Friedensbewegung gewiß nur von einer Minderheit geteilt. Trotzdem verstand sie es, mit ihrer »Bündnispolitik« Kräfte an sich zu binden und damit die Auseinandersetzung um die weitergehenden Ziele der Friedensbewegung zu vernebeln. 

Die Schärfe von Bahros Auseinandersetzung wurde von vielen so verstanden, als trage er unnötigen Streit in die Bewegung, der das politische Anliegen bloß schwächen könne. In einem Offenen Brief bayrischer Grüner wurde ihm vorgeworfen, er wolle einen »Radikalenerlaß auf grün«. Für seine Vision: »Wir werden nicht weniger, sondern unvergleichlich mehr, wenn wir diese Grenze ziehen«, spreche »weder die historische Erfahrung noch die politische Logik«. Bahro spiele mit seiner Forderung der CSU in die Arme, die die Friedensbewegung sowieso als »kommunistisch unterwandert« denunziere, ist in diesem Brief zu lesen (Petra-Kelly-Archiv, Akte 1005).

Bahro dagegen glaubte, daß nur Klarheit in den grundlegenden Dingen der Friedensbewegung zum Erfolg verhelfen könne. Ein paar Tage nach der Bad Godesberger Konferenz, bei der Bremer Ostermarsch­kundgebung, ging Bahro explizit auf den Vorwurf ein, er schüre einen Antikommunismus, der der Friedensbewegung schade: 

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»Es ist die Methode <Haltet den Dieb!>, wenn man nach alledem, was die prosowjetischen Kräfte der übrigen Friedensbewegung an Manipulation und Funktionalisierung zumuten, über Antikommunismus klagt. Unsere Wendung gegen die DKP hat weder etwas mit den Motiven des einstigen KPD-Verbots noch der Berufsverbote, nichts mit Haßgefühlen gegen die Sowjetunion oder die DDR zu tun, sondern mit einer aktuellen und konkreten politischen Gegnerschaft. ... 

Was heißt heute überhaupt <Antikommunismus>? Die italienischen Kommunisten haben, wenn auch weniger konsequent, eine ähnliche außenpolitische Einstellung wie wir. Auch sie sagen: Überwindet die Blöcke! Auch sie fragen nach einer neuen Dritten Kraft. Der Vorwurf des Antikommunismus setzt voraus, daß in Prag, in Kabul, in Warschau und vor allem natürlich in Moskau der Kommunismus am Werke sei. Wir sind freilich gegen diesen <Kommunismus>«   (Archiv Grünes Gedächtnis, Bestand B.I. 1, Akte Nr. 250)

Die Bremer DKP antwortete mit einem Flugblatt: 

»Heute sollen die Kommunisten aus der Friedensbewegung herausgedrängt werden. Wer soll der Nächste sein? Angebliche <Subsysteme der DKP> und <Trittbrettfahrer> sind jetzt schon im Visier. [...] Leider haben sich Teile der GRÜNEN und insbesondere Rudolf Bahro für dieses offenkundige Manöver instrumentalisieren lassen. Als Lohn winkt ein Stück vom parlamentarischen Kuchen. [...] Genau auf dieser Linie lag Bahros Rede vom Ostersamstag. Antikommunismus und Vereinnahmung der Friedensbewegung durch die GRÜNEN, die nach Bahro sozusagen der parteienmäßige Ausdruck der Friedensbewegung sind.« (Ebd.)

Rudolf Bahro reagierte mit einem <Langen Brief an alle GRÜNEN und alle andern Ostermarschierer>, der vor der großen Bonner Friedensdemonstration am 10. Juni 1982 als Entwurf zirkulierte. (Eine überarbeitete Fassung wurde im gleichen Jahr in Bahros Buch <Wahnsinn mit Methode> veröffentlicht.) Zum einen versucht er nachzuweisen, daß die DKP die möglicherweise in sie gesetzten Hoffnungen gar nicht erfüllen könne: Sie habe nämlich längst darauf verzichtet, eine »Perspektive eigenständiger Umwälzungen in den kapitalistischen Metropolen« zu entwickeln. Die DKP könne sich »einfach keine andere Zukunft vorstellen als den Sieg des sowjetischen Sozialismus im Weltmaßstab« (Wahnsinn, 128). Doch die Sowjetunion sei eben nur die »unglückliche zweite Weltmacht«:

»In dem Maße [...], wie die geopolitische Lage des riesigen, industriell erst aufholenden, damit zur Konzentration auf die Rüstung gezwungenen Reichs zum weitaus wichtigsten Verhaltenskriterium Moskaus wurde, mußten alle jene Kräfte, die sich auf das sowjetische Modell als innenpolitisches Rezept für den Westen bezogen, ins historische Abseits geraten.« (Ebd., 125)

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In seiner Polemik gegen die DKP ging es Bahro gar nicht in erster Linie um die Bedeutung dieser Partei. Der »springende Punkt« lag für ihn in der Erkenntnis, »daß der historische Prozeß mit dem Aufbruch der neuen Friedensbewegung, mit der Entwicklung in Polen und in der DDR [...] in eine entscheidende formative Phase eintritt, in der wir viel zu verlieren und viel zu gewinnen haben« (ebd., 104 f.). Bahro glaubte, jetzt biete sich »die größte politische Chance seit Generationen, die Mehrheit der Deutschen für eine Reformation im Gegenzug zu der ganzen unglücklichen Tradition seit dem Scheitern von 1848 zu öffnen« (ebd., 105).

In diesem Geist hatte Bahro auch beim Hambacher Fest im Mai 1982 gesprochen — zum Gedenken an ein anderes Hambacher Fest anderthalb Jahrhunderte zuvor, das Ausdruck der wichtigsten politischen Volksbewegung nach Reformation und Bauernkrieg gewesen war. Bahro erinnerte daran, daß die Friedensbewegung in beiden deutschen Staaten jener Volksbewegung in der Zeit vor der Märzrevolution des Jahres 1848 »ähnlicher« sei »als jede andere fortschrittliche, demokratische und revolutionäre Kraft in diesem Land seither« (ebd., 68). 

Weil das »Nachkriegsweltsystem mit der Hegemonie der beiden großen Supermächte über Europa und besonders über Deutschland« seinen Zenit überschritten habe, entstehe jetzt ein Raum, »der aktiv genutzt werden kann und muß«. Dieses Mal könne »das Thema der nationalen Interessen uns gehören« (ebd., 71). Wenige Wochen zuvor, bei einer Veranstaltung in München, hatte Bahro einen »neue[n] Patriotismus« postuliert. Dieser meine »ein atomar entwaffnetes, blockfreies Deutschland in einem atomwaffenfreien Europa« (ebd., 64).

Solche national-pazifistischen Töne kamen mancherorts schlecht an. So argwöhnten beispielsweise französische Intellektuelle, daß Deutschland sich vom Westen wegorientieren wolle, um auf diese Weise die Wiedervereinigung zu verwirklichen. Das Wort von einem »neuen Rapallo« — einer separaten Einigung zwischen Deutschland und Rußland nach dem Ersten Weltkrieg — machte die Runde. Ein Exponent dieser Position war der Soziologe Andre Gorz. Dazu Bahro: »Man redet von Rapallo. Warum eigentlich nicht?! Aber das müßte heute kein deutsches Unternehmen <Los von Westeuropa> sein. Wir sind nicht in den zwanziger Jahren. Heute befindet sich ganz Westeuropa in der Mittellage, in der sich früher immer Deutschland befand.« (Spiegel, Nr. 6, 8.2.1982; wieder abgedruckt in Pfeiler, 119f.)

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Die Kontroverse zwischen Gorz und Bahro entzündete sich an der Polen-Frage. Landesweite Streikaktionen im Sommer 1980 hatten die polnische Regierung gezwungen, das Recht der Arbeiter und Arbeiterinnen auf Gewerkschaftsfreiheit anzuerkennen. Im September des gleichen Jahres war die »Unabhängige und Selbstverwaltete Gewerkschaft Solidarnosc« entstanden. Nach einer etwas mehr als einjährigen Zeit der »Doppelherrschaft« (Bahro) verkündete der Erste Sekretär der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei, General Wojciech Jaruzelski, am 13. Dezember 1981 das Kriegsrecht und die Suspendierung der Solidarnosc-Gewerkschaft. Man sei damit einer militärischen Intervention der Sowjetunion zuvorgekommen, argumentiert der Ex-General noch heute (siehe dazu Spiegel, Nr. 2, 7.1.2002). Weil es nach diesem Datum in der Bundesrepublik — im Gegensatz zu Frankreich — kaum zu Solidaritätsaktionen für Solidarnosc gekommen war, warf Gorz den Deutschen und ihrer Friedensbewegung in einem Spiegel-Gespräch (Nr. 4, 24.1.1982) vor, »kein Verhältnis zur Freiheit« zu haben.

Bahro reagierte mit dem Vorwurf, Gorz schleppe in seinem Freiheitsbegriff »eine erhebliche Portion kolonialistischer Unverschämtheit« mit. Insbesondere mit Blick auf die Regierung des »linken« Mitterrand habe er »nicht erst seit gestern den Verdacht, daß die Institutionen der Linken gründlich dazugehören zu der institutionellen Gesamtagentur der herrschenden Zustände hier, zu dem allgemeinen Apparat der metropolitanen Machtstruktur« (Pfeiler, 119). 

Ende Dezember 1981 hatte sich Bahro in einem längeren Beitrag mit der Frage befaßt: Wer interveniert für Polen? (taz, 22./23.12.1981) Er kam zum Schluß: »Das westliche Establishment, und zwar weitestgehend en bloc von Reagan bis Mitterrand, von Thatcher bis Schmidt, gehört mindestens so sehr wie die sowjetische Nomenklatura zu den Bedingungen der polnischen Ausweglosigkeit.« Noch sei die Blockkonfrontation, die Teilung der Welt und Europas zwischen den Supermächten, eine Tatsache. »Noch bestellen die neuen Kräfte nicht die Musik, in Polen nicht und hier nicht«, obwohl sie keineswegs so ohnmächtig seien, wie manche glaubten.

Die wichtigste Lehre aus dem polnischen Drama sei für ihn »die zunehmende Orientierung der Ökologie- und Friedensbewegung auf ein in jeder Hinsicht unabhängiges atomwaffenfreies Europa bis hinüber nach Polen, also auf den Bruch mit der Logik der Blöcke, auf das Ausscheiden aus der bipolaren Machtstruktur, die in antagonistischer Kooperation Europa und die Welt unter der Fuchtel hält«. 

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Das sei auch das »Hauptstück der Polen-Solidarität« — und nicht die »üblichen Demonstrationen«, die sowieso nur »Ersatzbefriedigung« (ebd., 112) wären. Bahros Fazit lautete: »Wir dürfen die polnische Krise nicht so sehr als polnische Krise lesen.« Das »Übergreifen der äußeren Widersprüche, die Überdetermination der inneren Entwicklung durch die Krise des Nachkriegsweltsystems« werde unterschätzt: »Wie auf der Partei und der Armee in Polen der Schatten Moskaus liegt, so wurde die unabhängige Gewerkschaft von der Schubkraft des westlichen Konsumismus mitbewegt.« 

Und dann geradezu prophetisch: »Wenn sich das, was wir hier in Polen gesehen haben, in irgendeiner noch so entfernten Variante in der DDR wiederholt, dann haben wir die Wiedervereinigung, fast wie sie sich Adenauer wünschte — obwohl es dort ein erhebliches reformkommunistisches Potential gibt, das zu was Besserem beitragen könnte, sofern es die Initiative bekäme, ehe nichts mehr geht.« (Ebd., 113)

Ein undifferenzierter Antisowjetismus im Westen wirke sich aber nur nachteilig für die polnische Volksbewegung aus. In einem Vortrag an der Evangelischen Akademie Hofgeismar erläuterte Bahro Mitte Februar 1982 seine Überlegung, die ihn zur ideologischen Attacke gegen die Linke an der Macht, insbesondere jene in Frankreich, bewogen hatte: 

»Wenn wir nun der Sowjetunion nicht mit der gefährlichen Politik begegnen wollen, sie in die Enge zu treiben, das System dort vollends kaputt zu machen, sie von außen zur Verzweiflung zu treiben, damit dann eventuell wirklich die Bombe spricht, dann lautet die Frage so: Wie müßte Westeuropa verändert werden, politisch verändert werden, damit die Sowjetunion dazu gebracht werden kann, Polen, damit natürlich Osteuropa, einigermaßen gutwillig loszulassen?« (Wahnsinn, 40)

Rund zwei Jahre später entwickelte Bahro seinen Gedanken in einem Briefwechsel mit dem Historiker Gerd Koenen weiter. Im Januar 1984 4) schrieb er: 

»Einen Einfluß, der in Rußland den Abbau der aggressiven Tendenzen bewirkt, kann nur ein Deutschland haben, das im strengen Sinne pazifistisch wird, auf einseitige militärische und industrielle Abrüstung schaltet, was in erster und letzter Instanz eine Veränderung in der kollektiven Psyche voraussetzt. [...] Ein unbewaffnetes Deutschland, Westdeutschland, das seine Sache wirklich auf nichts gestellt hätte, wäre die äußerste historische Intervention. Es hätte in Richtung Osten nichts Besonderes zu unternehmen. Es wirkte durch seine Existenz.« (Pfeiler, 174 f.)

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Der linke Sozialdemokrat Peter von Oertzen, der während der Polen-Krise die Entspannungspolitik seiner Partei verteidigte, gestand Rudolf Bahro zu, es sei nur konsequent, wenn dieser »eine osteuropäische Friedensbewegung zur Ergänzung der westeuropäischen fordert, wenn er für die Verschmelzung von Friedensbewegung, ökologischer Bewegung und demokratisch-sozialistischer Bewegung eintritt, wenn er ein wiedervereinigtes blockfreies nichtkapitalistisches Europa proklamiert«. Diese Haltung werde »überdies von Millionen Menschen in Westeuropa geteilt« — nicht zum Wohlgefallen von Oertzens. Sein Einwand lautete: Die sogenannte Friedensbewegung sei zwar »Teil der Politik, aber sie macht keine Politik; sie kann es auch gar nicht. 

Schon allein die unfriedliche Koexistenz zwischen antipolitischen Radikalpazifisten und — mehr oder weniger gutgläubigen — Mitläufern der Sowjetunion in ihren eigenen Reihen« mache sie aktionsunfähig. Er empfahl statt dessen, auf die Position von Mitterrand zu setzen: Seine »Politik der doppelten Konfrontation — in Fragen der Dritten Welt gegen die USA, in der Nachrüstungsfrage gegen die UdSSR« — habe »das verächtliche Reden Bahros vom <force-de-frappe-Sozialismus>« nicht verdient (Die Zeit, Nr. 1, 1.1.1982; wieder abgedruckt in Böll 1982, 150).

Bahro entgegnete in einem Beitrag für die Zeit, der dort aber ungedruckt blieb, der ideologische Einfluß der Anhänger und Mitläufer der sowjetischen Rüstungs- und Abschreckungspolitik innerhalb der Friedensbewegung sei »rapide rückläufig«. Es komme nun die Stunde, die pro- und philosowjetischen Positionen endgültig aus der Friedensbewegung »hinauszudiskutieren« (Pfeiler, 113). Die auch von Linken vertretene Entspannungspolitik setze »den Wahnsinn der atomaren Abschreckung, die Drohung mit dem Racheschlag voraus. Friedenspolitik dagegen dient dazu, diese Konstellation selbst zu liquidieren.« (Ebd., 114)

Anfang 1982 antwortete Rudolf Bahro auf die Frage des Deutschlandfunks, was er persönlich für den Frieden tue: 

»Ich habe zum Beispiel kein Auto; ich bin in die für meine Arbeit kleinstmögliche Wohnung umgezogen; ich esse nur noch wenig Fleisch, weil da in einer Mahlzeit Getreide steckt, von dem fünf oder mehr Menschen einmal satt werden könnten. Leider ist all so etwas zunächst mehr von symbolischer als praktischer Bedeutung. Wichtiger erscheint mir: Ich bin bereit, ohne jeglichen >Schutz< durch Rüstung zu leben. Das fällt mir um so leichter, als mich die Strategen überzeugt haben, sie können mich im Ernst nur totverteidigen.« (Wahnsinn, 93) 

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Bahro spielte damit auf die vor allem in evangelischen Kreisen verbreitete Erklärung der Aktion »Ohne Rüstung Leben« an (die übrigens noch heute existiert). Sie besteht lediglich aus zwei Sätzen und lautet: »Ich bin bereit, ohne den Schutz militärischer Rüstung zu leben. Ich will in unserem Staat dafür eintreten, daß Friede ohne Waffen politisch entwickelt wird.«

 

Bahro hatte bereits in seinem Exterminismus-Aufsatz von 1981 vorgeschlagen, diese Erklärung »millionen­fach im Lande zu verbreiten«. Sie solle »bis ins persönliche Gespräch an jedes Kind, jede Frau und jeden Mann ohne Ausnahme« herangetragen werden. »Es ist kein besserer Anstoß zur Auseinander­setzung mit der gesamten hier behandelten Problematik denkbar, als eine solche Aufforderung zu einer durchdachten existenziellen Entscheidung.« Er selbst schloß sich damals der Erklärung an — »überzeugt davon, daß es nie eine Stunde gab, in der aktueller und empirisch zwingender war als heute, was in der Bergpredigt steht: >Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen!<« (Exterminismus, 37)

 

Von diesem Geist des Evangeliums sah Bahro auch die Friedensbewegung in der DDR inspiriert. Die »im Schutzraum der Kirche angesammelte Energie« stelle »einen besonders reinen Ausdruck jener neuen Kräfte dar, die nicht bloß den politisch-militärischen Ost-West-Gegensatz, sondern die Konfrontation der beiden Systeme überhaupt zu überwinden suchen«, schrieb Bahro im Spiegel (Nr. 50, 13.12.1982; wieder abgedruckt in Pfeiler, 129). Es gebe in der DDR »ganz offensichtlich Kirchenleute, die nicht in erster Linie der Institution verpflichtet sind, sondern der Idee [...] Ohne den eben nicht rein negativen Anstoß, den die DDR darstellt, hätte sich das dortige Christentum nie zu der heutigen Gestalt gemausert. Der Staat hat einmal damit begonnen, Müntzer gegen Luther zu stellen und zu feiern. Inzwischen wäre ihm ein konservatives Luthertum im Reservat der Kirche weitaus bequemer als der Müntzersche Geist, der allerwegen umgeht.« (Ebd., 130)

 

Mit ihrem »Streben nach blockübergreifenden politischen Aktionen« erreichte die DDR-Friedensbewegung vor allem »Teile der unangepaßten jüngeren Generation«, stellt Ehrhart Neubert in seiner breit angelegten Untersuchung zur <Geschichte der Opposition in der DDR> fest (Neubert 1998, 335). Die Arbeit von kritischen Marxisten wie Bahro und vor allem auch Robert Havemann wirkte hier nach — doch eine solche Bewegung hatte »weder Bahro vorausgesehen noch Havemann für möglich gehalten« (ebd., 343). 

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In einer Besprechung des Buches <Made in GDR> des jungen Liedermachers Karl Winkler, der über seine Gefängniserfahrungen in der DDR schrieb, äußert Bahro: »Seit die unabhängige Friedensbewegung drüben, von deren Vorwehen ich viel weniger als Wolf, der Biermann, oder Winkler wußte, ins volle Licht getreten ist, zweifle ich öfter, ob das Fortgehn damals richtig war.« (Die Zeit, Nr. 50, 9.12.1983; wieder abgedruckt in Pfeiler, 135)

 

Die Friedensbewegung richtete sich sowohl gegen die innergesellschaftliche Militarisierung der DDR wie gegen die Gefahr eines Krieges zwischen beiden Blöcken. An diesem Punkt konnten »sensibilisierte Menschen, auch Gegner der SED, [...] nicht mehr ohne weiteres auf den Westen hoffen, war dieser doch an der sich aufschaukelnden Hochrüstung beteiligt« (Neubert 1998, 381). So ergab sich die Orientierung der Friedensbewegung auf »Herauslösung der deutschen Staaten aus der Blockkonfrontation« nicht von ungefähr. 

Allerdings irrt Neubert, wenn er meint, dieses »eigenständige und ureigene politische Ziel der DDR-Opposition« habe »in dieser Ausprägung keine andere politische Gruppierung oder Partei in beiden deutschen Staaten« vertreten (ebd., 377). Innerhalb der bundesdeutschen Friedensbewegung und vor allem auch bei den GRÜNEN gab es in den frühen 80er Jahren eine ganze Reihe von Gruppen und Zirkeln, die an einer block-unabhängigen Perspektive arbeiteten.

Nicht zuletzt Rudolf Bahro setzte sich inner- und außerhalb der GRÜNEN dafür ein. Das kommt beispielsweise in seiner Rede auf der Gedenkveranstaltung für den am Karfreitag des Jahres 1982 verstorbenen Robert Havemann zum Ausdruck. Bahros Frage war:

»Wie können wir hier eine Regierung zustande bringen, die erforderlichenfalls bereit wäre, von Deutschland aus, von der Bundesrepublik aus, und hinübergreifend auch in die DDR, einen Alleingang für Frieden und Abrüstung zu riskieren?!« Havemann habe zu einer solchen Entwicklung wesentliche Anstöße gegeben. »Wir können uns auf sein Vermächtnis berufen, wenn wir in Zukunft noch tiefer hineingehen nicht nur in eine europäische, sondern auch in eine aktive deutsche Friedenspolitik von unten.« (Wahnsinn, 67)

Bahros Offenheit für die nationale Frage machte ihn für linksnationale Revolutionäre interessant, die sich beispielsweise um die Zeitschrift Wir selbst sammelten. Bahro hatte keine Berührungsängste und überließ ihnen eine im April 1982 in München gehaltene Rede über Deutschland in der Friedensbewegung zum Abdruck. In einem nicht datierten Brief an Wir selbst schrieb er vermutlich im Frühjahr 1983: 

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»Nachdem ich mehrere Nummern eurer Zeitschrift gelesen hatte, war ich zu dem Schluß gekommen, daß ihr praktisch alle Elemente grüner Politik vertretet, zu denen ich auch das >nationale< rechne, obwohl ich ganz anders als ihr damit umgehen möchte [...] Ich hielt es für möglich und wünschenswert, daß ihr euch auf längere Sicht in die GRÜNEN eingliedert, indem ihr begreift, daß in dem Versuch, alles auf dem >nationalrevolutionären< Standpunkt zu integrieren, gerade eure Schranke liegt. Alle alten Schemata sind jetzt Schranken, auch das Wort >sozialistisch< legitimiert als solches überhaupt nichts mehr.« (Pfeiler, 154 f.)

Nationalismus sei grundsätzlich ein altes Muster und es bringe nichts, die neuen sozialen Bewegungen durch dieses »Nadelöhr« zu fädeln. »Wenn ihr euch einmal auf Hannah Arendts Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft einließet, würdet ihr eure Anleihe beim Befreiungsnationalismus als eine illegitime Maskerade durchschauen. Was in Irland erlaubt ist, ist in England noch lange nicht erlaubt, und nun gar in Deutschland. Ich bin mir auch selbst erst in den letzten Monaten völlig darüber klar geworden [...], daß wir unsere Selbstbestimmung gegenüber den Supermächten in einer völlig anderen seelischen Verfassung erringen müssen als der, die sich in den üblichen Topoi nationaler Befreiungsbewegungen manifestiert.« (Ebd., 155)

In seinem Entwurf für einen Wahlaufruf zum 6. März 1983 hatte Bahro die Formel geprägt, die GRÜNEN erstrebten ein »aus der beiderseitigen Ökologie- und Friedensbewegung neuvereinigtes Deutschland« (ebd., 42). Im Brief an Wir selbst führte Bahro dann aus: Er habe sich klargemacht » — oder klarmachen lassen —, daß die Forderung nach Neuvereinigung in Bezug auf die Abwehr der existenziellen Gefahren, mit denen wir ringen, keine Notwendigkeit hat«. Und er stellte die Überlegung an, ob die Lösung der deutschen Frage nicht auch darin bestehen könne, »daß die Bevölkerung auf beiden Seiten die Zweistaatlichkeit freiwillig anerkennt« (ebd., 156). Entscheidend sei die Ausstrahlung dessen, »was wir hier, im eigenen Land, zustandebringen«, und »eine reibungsarme Kommunikation mit den gleichgesinnten Leuten auf der anderen Seite« (ebd., 157).

 

 

Ein weit herum wahrgenommenes Zeichen der Unterstützung der unabhängigen Friedensbewegung in der DDR setzten Gert Bastian, Petra Kelly, Lukas Beckmann und andere prominente bundesdeutsche Grüne, als sie am 12. Mai 1983 eine kleine Demonstration auf dem Ostberliner Alexanderplatz wagten. Doch als sie dabei ein Plakat mit dem Symbol »Schwerter zu Pflugscharen« zeigten, wurden sie von der Polizei abgeführt.

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 »Das Zeichen, das sie gesetzt haben, ist bedeutend über den Tag hinaus und von internationaler Tragweite. Die neue, unabhängige Position der GRÜNEN erweist sich als dynamisches Element in der europäischen wie in der Deutschlandpolitik. Gert, Petra und die anderen haben exakt den Punkt getroffen, um eine Position sichtbar zu machen, >nicht dem Osten, nicht dem Westen gegenüber, sondern untereinander loyal<, d.h. loyal auf der Ebene der Zusammenarbeit und Kommunikation der Basisfriedensbewegungen — eine solche Politik funktioniert«, schrieb Bahro zwei Tage danach in einem Papier (Pfeiler, 139). 

Kritik an dieser Aktion kam von »traditionalistischen Kräften« (Bahro) innerhalb der GRÜNEN — insbesondere der Grün-Alternativen Liste in Hamburg (vertreten durch das Dreigestirn Rainer Trampert, Jürgen Reents und Thomas Ebermann). Gegen das von ihnen vertretene »mechanische altlinke Weltbild« argumentierte Bahro: »Es kann nichts Vernünftiges mehr dabei herauskommen, <die Amerikaner> und die NATO oder — im Innern — das Kapital allein anzugreifen, weil diese Mächte nicht allein stehen, weil die ursprünglichen Gegenkräfte (gemeint ist die Sowjetunion) ins Komplott bzw. in den Konsens hineingezogen worden sind.« (Ebd., 144)

Durch Friedenspolitik von unten sollte — so Bahro — versucht werden, innerhalb einer Wahlperiode des Bundestages den »Sicherheitskonsens« zu kippen. »Damit meine ich, auf eine Mehrheit für die Einsicht hinzuarbeiten: >Entweder wir schaffen die Rüstung ab, oder die Rüstung schafft uns ab<«, schrieb er Johan Galtung Ende 1983. Aufgabe der GRÜNEN sei es dabei, die Position eines grundsätzlichen Pazifismus zu beziehen. »Gerade von dorther werden wir den größten Druck in Richtung auf den Übergang wenigstens zur defensiven Verteidigung ausüben. Wir ziehen sie realpolitisch vor. Es ist jedoch nicht unsere Aufgabe, diesen alternativen Militarismus selbst zu betreiben. Jede Verteidigungskonzeption setzt Bedrohungsdenken voraus, setzt voraus, zuerst Sicherheit und dann erst Frieden zu sagen. Sie setzt die Pflege, die Aufrechterhaltung eines irrationalen Feindbildes voraus.« (Wahnsinn, 170)

In dieser Frage gab es eine Kontroverse zwischen Bahro und Galtung. Der norwegische Friedens­forscher sprach sich dafür aus, Elemente defensiver Verteidigung zu akzeptieren. Dazu Bahro: 

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»Lieber Johan, ich wende mich nicht gegen deine Überlegungen als solche, aber gegen ihre Adressierung an den aktivsten Teil der Friedens­bewegung und an die zugehörige politische Partei. Wie siehst Du die Funktion der GRÜNEN insgesamt, wenn Du ihnen auf dem einzigen Gebiet, auf dem sie de facto und nahezu eine fundamentaloppositionelle Position beziehen, den Vorschlag machst, ins Lager der NATO-Reformer einzuziehen? ...  Verschweizern, Verösterreichern, Jugoslawisieren der Verteidigung — es werden genug Menschen, einmal aus ihrem bisherigen Sicherheitsdenken aufgewacht, auf diese kleineren Übel, auf ihren relativen Vorteil zurückfallen. Die GRÜNEN indessen müssen intervenieren für eine Grundhaltung gegen das Sicherheitsdenken der Generale und Politiker.« (Ebd., 171)

»Nicht dem Osten, nicht dem Westen gegenüber, sondern untereinander loyal zu sein«, bedeutete für Bahro auch, in der Afghanistan-Frage einen eigenständigen Standort einzunehmen. Zur Erinnerung: Afghanistan steht seit dem 19. Jahrhundert im Zentrum des Ringens um die Vorherrschaft in Zentralasien. Die wichtigsten Konkurrenten waren Rußland und Großbritannien (das später durch die USA abgelöst wurde). Der letzte König versuchte durch eine Schaukelpolitik, Kapital aus der strategischen Lage Afghanistans zu schlagen. Die notwendigen sozialen Reformen blieben allerdings aus. So kam es 1973 zu seinem Sturz und zur Ausrufung der Republik. Im April 1978 putschten sich moskauorientierte Kräfte mit Hilfe des einheimischen Militärs an die Macht, um — so Bahro — »ihrem Volk dann die probate Revolution von oben zu bescheren. Sie haben — wohlmeinend, wie ich denke — eine Agrarreform dekretiert, die den Lebenszusammenhang der Bauern zerstörte, so daß sie mit dem zugewiesenen Land nichts gewonnen hatten. [...] Die geplante Beglückung schlug dem ganzen Land und Volk zu unabsehbarem Unglück aus.« (Elemente, 34) 

Es kam zum Kampf zwischen verfeindeten Fraktionen der Führung und zum Bürgerkrieg. Schließlich griff die »Brudermacht« ein: Am 27. Dezember 1979 marschierten sowjetische Truppen nach Kabul.

»Die meisten von euch werden wissen, wie ich zu der sowjetischen Invasion in Afghanistan stehe. Ich habe sie gleich im Januar 1980 öffentlich als ein Verbrechen gegen den Frieden und die Menschenrechte charakterisiert, geeignet, der Aufrüstungshysterie der USA und der NATO Vorschub zu leisten und den Völkern der Dritten Welt zu zeigen, daß es nicht nur einen Imperialismus gibt«, 

schrieb Rudolf Bahro am 23. Mai 1984 in einem Offenen Brief an die GRÜNEN im Bundestag (teilweise abgedruckt in der tageszeitung, 7.6.1984). 

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Anlaß zu diesem Brief gab eine Allparteienresolution der Bundestagsparteien zur »Lage in Afghanistan«, die die Beendigung der sowjetischen Besetzung des Landes forderte. Das Parlament in seiner gegenwärtigen Zusammensetzung repräsentiere »nichts anderes [...] als die Machtinteressen Westdeutschlands in seiner Eigenschaft als Bestandteil des westlichen Blocks«, stellte Bahro dazu in seinem Brief fest. Er sehe angesichts solcher Verhältnisse »prinzipiell keine Möglichkeit, in irgendeiner internationalen Angelegenheit auf diesem Dampfer mitzufahren. Da mögen die Formeln, die sie zur Abstimmung stellen, gegebenenfalls völlig mit den unseren übereinstimmen — die Sprache wird nur den Gegensatz der Motive verbergen.« 

Durch die Unterstützung der Resolution würden die GRÜNEN »die Partei der US-amerikanischen gegen die sowjetischen Machtinteressen« ergreifen. Bahro wies darauf hin, er habe nicht deshalb so »vehement« darum gekämpft, »daß wir von den Vertretern der Ostblockinteressen in der Friedensbewegung loskommen, damit wir nun — sei's auch nur für einen Augenblick — das alte Spiel von der anderen Seite mitbetreiben«.

 

 

Am meisten beunruhige ihn, daß in der grünen Fraktion solche Grundsatzfragen hinter »Umgangserwägungen« zurücktreten würden. »Wie weit sind wir tatsächlich schon in den verführerischen Mechanismus der Kollaboration verstrickt?« Ein positives Beispiel selbstbestimmter, unabhängiger Initiative der grünen Partei sei die Protestaktion am 23. März 1984 in Ankara gewesen, an der sich neben Bahro noch andere bekannte Grüne wie Lukas Beckmann, Milan Horacek und Willi Hoss beteiligt hatten. Sie sprachen sich dort für die Beendigung der Folter und für eine Generalamnestie in der Türkei aus. Diese Aktion führte dazu, daß eine Allparteien-Delegation in die Türkei reiste, um Druck auf die Gewährleistung der elementarsten Menschenrechte zu machen. 

»Natürlich wäre das nie zustande gekommen, wenn es nicht auch NATO-Interessen an einer vorzeigbaren Fassade Ankaras gäbe. Das war jedenfalls kein Deal, bei dem wir unsere Position geopfert hätten, im Gegenteil. Aber wo es den herrschenden Interessen nicht entspricht, wie etwa im Falle Nicaraguas, werden wir mit taktischen Finessen selbst dann nichts erreichen, wenn sie uns, um uns fernerhin um so leichter über den Löffel zu halbieren, sogar mal irgendeine schöne Resolution gewähren sollten. Lassen wir uns auf das >Gibst du mir, geb ich dir< ein, kommt es unvermeidlich [...] zur Verwechslung zwischen unserer Politik der unabhängigen Dritten Kraft in spe und der >Ausgewogenheit<, die uns das Grundmuster des herrschenden Diskurses abverlangt.«

Bahro wagte sich furchtlos auf alle Felder der außenpolitischen Debatte jener Jahre und entwickelte mit bewundernswerter Konsequenz eine Position jenseits der bestehenden Blöcke. Er setzte darauf, den gesell­schaft­lichen Konsens innerhalb kürzester Zeit so zu verändern, daß ein grundlegender politischer Kurs­wechsel in Richtung eines entmilitarisierten Deutschland in einem blockfreien Europa möglich würde.

Mit einer solchen Hoffnung stand Bahro in den frühen 80er Jahren nicht alleine da, doch kaum jemand verfolgte gläubiger dieses Ziel als er. 

Seine Visionen verstellten ihm keineswegs den Blick für die Widersprüche, mit denen sich die Friedensbewegung auseinander­zusetzen hatte. Sie war ihm noch viel zu sehr »von dieser Welt« der überkommenen Herrschaftsstrukturen, zu wenig »alternativ« im Sinne eines anderen politischen Entwurfs, der die Grundlagen des bisherigen Denkens und Handelns in Frage zu stellen bereit ist. Der von ihm ins Auge gefaßten Umkehrbewegung fehlten noch Experimentier­felder, um die großen Schritte im Kleinen vorwegnehmen zu können. 

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2.3 Ohne Rüstung leben, Friedenspolitik von unten 

Guntolf Herzberg und Kurt Seifert : Rudolf Bahro — Glaube   an das Veränderbare — Eine Biographie