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2.2  Umkehr in der Metropole -  Kritik an den Götzen des Industrialismus

 

 

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Im ersten Jahr seiner bundesrepublikanischen Existenz habe er wirkliche Alltagserfahrungen kaum sammeln können, gestand Bahro den <Spiegel>-Redakteuren Leick und Schwarz. Er war viel unterwegs, übernahm im Sommersemester 1980 einen Lehrauftrag an der Berliner Freien Universität (FU), kam aber mit der Vielfalt des sozialen Lebens selten in Berührung, wie ihm auch Zeit für konzentrierte theoretische Arbeit fehlte. 

In dieser Hinsicht sehnte sich Bahro nach den übersichtlichen Verhältnissen in der DDR zurück. Dort sei er in der »günstigen Situation« gewesen, »nicht alles lesen zu können, weil ich gar nicht alles bekommen konnte«. Im Westen hingegen stehe »zwischen dem Kopf und den Zuständen eine riesige Linse. Was hier alles an Wort und Bild verarbeitet sein will, um die Welt zu begreifen!«

In der DDR habe er nur vier gute Freunde und 400 Bücher besessen, doch die geistige Atmosphäre sei dort bedeutend intensiver als im Westen gewesen, wo er auf 400 Freunde zählen könne und ein unbegrenzter Zugang zu Büchern möglich sei, bekannte Bahro später dem norwegischen Friedensforscher Johan Galtung. Dieser erinnert sich so an Bahro: 

»Zum ersten Mal sah ich ihn bei einer Friedens­veranstaltung in der FU. Besonders beeindruckt hat mich sein süßes Lächeln. Und dann dieser Gegensatz: ein kleiner Mann, aber geistig ganz groß. Er war ein Außenseiter, der nie richtig heimisch wurde. Doch dieses Außenseiter-Dasein war nicht Ausdruck eines Defekts. Dieser Mann bewegte sich auf einem ganz eigenen Gleis. Da kam sein ureigenster Wille zum Ausdruck.« 

Und Reinhard Spittler, ein enger Freund Bahros, von dem später noch die Rede sein wird, meint: 

»Einer wie Rudi war eigentlich nur noch in der DDR möglich. Er verfolgte das wissenschaftliche Ideal des 19. Jahr­hunderts: die Vorstellung, einen Überblick über das <Ganze> zu gewinnen. Ein solcher Universalgelehrter könnte heute einzig in einer geschlossenen Gesellschaft gedeihen.«

Der Mangel an persönlicher Erfahrung des realen Kapitalismus schien ihm kein Manko zu sein, denn die »wirkliche Realität« liege unter der Oberfläche, belehrte er die Leserinnen und Leser des <Spiegel>-Gesprächs vom Dezember 1980. 

Und am Grund der westlichen Gesellschaft gab es für Bahro einiges zu entdecken, das ihn intellektuell nicht überraschen konnte, aber offenbar doch stark beschäftigte: das Ausmaß des unglücklichen Bewußtseins in einem materiell reichen Land. 

So viel »Gehetztsein, Unbefriedigtsein, Einsamkeit mit und ohne andere Menschen, Versagung und Entfremdung aller Art« habe es noch nie zuvor in der menschlichen Geschichte gegeben — »vielleicht mit Ausnahme gewisser Generationen aus der späten Kaiserzeit in der einen Metropole Rom«.

 

Von seinem Ursprung her sei dieses Übermaß an seelischem Elend Ausdruck einer im Grunde genommen positiven Entwicklung: Heute werde nämlich im Vergleich zu früheren gesellschaftlichen Verhältnissen bedeutend »mehr <Subjektivität> (mehr Individualität, mehr Selbstbezug, mehr Bedürfnis nach Selbstverwirklichung) angesetzt« (Elemente, 46) — doch die Resultate seien eher enttäuschend: Nur wenige »bringen es bis zu dem alleinseligmachenden Anfang eines selbstbestimmten Tuns. Nicht zuviel, sondern zu wenig Ich, zu wenig Innerlichkeit.« (Ebd., 47) 

Der Individualismus der westlichen Zivilisation sei heute mit einer abnehmenden Bedeutung des individuellen Handelns verbunden. Diese Entwicklung halte er für entscheidender als das Gefühl der Bedeutungslosigkeit, welches der einzelne gegenüber der allumfassenden Macht des Staates erfahre, bekannte Bahro im Herbst 1981 in einem Interview mit der englischen Zeitschrift New Left Review.

Die sogenannte historische Notwendigkeit, die uns in eine solche Art der Hochkultur geführt habe, müsse »einen Fehler haben: einen Fehler gegenüber dem natürlichen Anspruch des Individuums auf Freiheit, Liebe, Glück — also auch auf ein Leben ohne zuviel Angst« (Elemente, 47). Jetzt gehe es darum, die »Kontinuität der Geschichte«, ihre scheinbare Zwangsläufigkeit zu »brechen«. Das bedeutete in Bahros Augen: »den Menschen als Individuum mobilisieren, sein Unglücksbewußtsein als Sprengkraft nutzen, dem Menschen als Ensemble der Verhältnisse eine neue Bahn zu eröffnen«. (Ebd., 48)

Bahros Forderung, die »Kontinuität der Geschichte« zu unterbrechen, erinnert an Walter Benjamins Thesen Über den Begriff der Geschichte, in denen folgender Gedanke entwickelt wird: Die revolutionäre Aufgabe bestehe nicht darin, den vermeintlichen »Fortschritt« zu fördern, sondern den Lauf der Welt zu unterbrechen, ihn zum Stillstand zu bringen. 

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Von diesem Gedanken ausgehend, hat der katholische Theologe Johann Baptist Metz sein Plädoyer für eine »anthropologische Revolution« entwickelt: In dieser Revolution gehe es »nicht um eine Befreiung von unseren Mängeln, sondern von unserem Konsum, in dem wir am Ende uns selbst konsumieren; es geht nicht um eine Befreiung von unserem Unterdrücktsein, sondern von der unveränderten Praxis unserer Wünsche; es geht nicht um eine Befreiung von unserer Ohnmacht, sondern von unserer Art der Übermacht; nicht um eine Befreiung von unserem Beherrschtsein, sondern von unserem Herrschen« (Metz 1980, 61).

Revolution nicht als »kämpferisch angeschärfte Evolution«, sondern als »Unterbrechung: eben das scheint mir der Richtungssinn der anthropologischen Revolution zu sein«. In christlicher Tradition und Sprache heißt dies: Umkehr, Umkehr der Herzen und »zielt auf eine Revision vertrauter Lebenspraxis« (ebd., 62). Dieser beim Deutschen Evangelischen Kirchentag 1979 in Nürnberg formulierte Aufruf war ein Versuch, die Impulse der lateinamerikanischen »Theologie der Befreiung« auch für die »entwickelten« Gesellschaften fruchtbar zu machen.

 

Nicht zufällig zitierte Bahro bei seinem ersten Besuch in einem außereuropäischen Land diesen Appell eines katholischen Theologen und verband ihn mit seiner eigenen Konzeption einer neuen Politik. Im Februar 1981 nahm er zusammen mit Ursula Beneke an einem Seminar in Oaxaca in Mexiko teil. Dort lernte er u.a. Fernando Cardoso kennen, den brasilianischen Entwicklungssoziologen und späteren Staatspräsidenten. Der Titel von Bahros Vortrag lautete: <Über das Problem der Umkehr in den Metropolen>. Angesichts der existentiellen globalen Krise, »in die sich die Menschheit mit zunehmender Geschwindigkeit hineinbohrt«, halte er den Begriff der Umkehr »für die Pointe eines angemessenen Revolutionsbegriffs« (Wahnsinn, 5). Denn: 

»Für Epochen kultureller Umwälzung, in denen die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht nur an der politischen Oberfläche oder bis in die Sozialstruktur, sondern wirklich bis in die Produktions- und Lebensweise und ihre seelischen Verankerungen umgepflügt werden, brauchen wir einen umfassenderen und radikaleren Revolutionsbegriff. Und dafür steht mir das Wort Umkehr. Es setzt den Akzent nicht auf die nach wie vor grundlegende objektive, sondern auf die in letzter Instanz entscheidende subjektive Dimension als äußerste conditio sine qua non für den lebens- und überlebensnotwendigen Sprung in der Gattungsgeschichte.« (Ebd., 19 f.)

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Sinnfällig wurde für Bahro die Notwendigkeit einer Politik der Umkehr beim Besuch der mexikanischen Hauptstadt: Ein dortiger kommunistischer Freund erzählte ihm, »der Prozeß der <Entwicklung> allüberall in der Welt bedeute den Aufstieg der Arbeiterklasse, letztlich eben die Menschheit als Arbeiterklasse. Aber von seiner Stadt aus kann man wegen des ungeheuren Smogs den nahen höchsten Berg des Landes, den Popocatépetl, nicht mehr sehen.« (Logik, 124)

Alle großen Revolutionen seien von der Utopie eines »Neuen Menschen« als der subjektiven Entsprechung einer erhofften »Neuen Gesellschaft« begleitet gewesen. 

»Freilich hat es sich wieder und wieder als unmöglich und sogar in den Konsequenzen barbarisch erwiesen, diesen Neuen Menschen zu >schaffen<, indem eine selbsternannte Avantgarde die vorgefundenen Menschen als Objekte der Erziehung und Reglementierung behandelte und in einem bürokratisch karikierten Jüngsten Gericht die Böcke von den Schafen schied. Und auf der anderen Seite ist stets in der Gesellschaft mehr als erhofft beim Alten geblieben, weil nur wenige auch subjektiv auf ein neues Leben eingerichtet waren. Der christliche Begriff der Umkehr betont das unerläßliche Moment der aktiven inneren Bereitschaft zu einem Neubeginn.« (Wahnsinn, 19)

Die Notwendigkeit eines Zusammenschlusses von Sozialisten und Christen hob Rudolf Bahro kurze Zeit später bei einem Besuch in Venezuela hervor. Das aus der moskautreuen Kommunistischen Partei hervorgegangene, »eurokommunistisch« orientierte »Movimiento al Socialismo« beging im Mai 1981 den zehnten Jahrestag seiner Gründung. 

Bahro sprach in Caracas über Bedingungen einer sozialistischen Perspektive am Ende des 20. Jahr­hunderts. Die »Fusion« der »emanzipatorischen Perspektiven« von Sozialisten und Christen sei der »Schlüssel zur Revolution in Lateinamerika«. Die Erhebung der von Entwicklung im traditionellen Sinn ausgeschlossenen Massen in den Vorstädten könne »ihre beste Form nur in einer sozialrevolutionären Erweckungsbewegung finden«. Das liege der metropolitanen Linken nicht, »weil wir da in unserer Tradition eine blinde Stelle haben, von der bürgerlichen Aufklärung geerbt. Aber wir müssen sie mitorganisieren, politisch qualifizieren.« Die Vorurteile gegen das Christentum würden hinfällig, wenn man begreifen lerne, daß die ursprüngliche Idee »das Eis der toten Traditionen« brechen könne, wie dies die Theologie der Befreiung ganz handfest beweise, und »wie wir es ja auch in unserer Sache einstweilen leider noch mehr erhoffen als erleben« (Pfeiler, 184).

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In Caracas lernte er Dorothea Mezger kennen, die dort als Expertin für eine politische Stiftung arbeitete. Sie hatte im Auftrag eines renommierten Instituts ein Symposium über »Industrialisierung und Umwelt« organisiert, zu dem auch Bahro eingeladen worden war. An der Konferenz nahmen Gäste aus 28 Ländern Europas und Lateinamerikas teil. Dorothea Mezger erinnert sich: 

»Bahro war entsetzt über Caracas, diesen Moloch aus Stahlbeton. Er meinte, man müsse das alles wieder abtragen, und zwar ohne technische Hilfsmittel, mit bloßen Händen. Es zeigte sich seine der Moderne und vor allem der Großtechnik abholde Haltung. Viele Latinos, die sich natürlich <Entwicklung> wünschten, schüttelten die Köpfe zu diesen Passagen.«

Von Caracas aus schrieb Bahro seiner Mutter: Das Konzept »für meine nächsten größeren Arbeiten nimmt allmählich Gestalt an. Bisher habe ich ja die letzten anderthalb Jahre, wenn auch mit zuverlässiger Richtung, bloß improvisiert.« Dieses Konzept drehte sich immer offenkundiger um die religiöse Frage als jene Thematik, die von den grundlegenden Kräften im Menschen handelt. Im Manuskript seiner Rede vor dem grünen Gründungsparteitag hatte er hervorgehoben, daß das »Bedürfnis nach irgendeiner Art religiöser Transzendenz eine menschennatürliche, innerweltliche Angelegenheit ist, eine psychische Realität. Auch Marxisten können das zur Kenntnis nehmen.« Und weiter heißt es: »Wo es je in der Geschichte echten kulturellen Umbruch gab, ging es niemals ab ohne Mobilisierung bis in diese innerste Sphäre menschlicher Motivation. Und unstrittig war Christus in dieser Zivilisation der erste Lehrer unseres letzten Ziels, der erste Lehrer der allgemeinen Emanzipation des Menschen.« (Elemente, 59)

So »unstrittig« war und ist die Rolle der Religion für »Linke« nun keineswegs. Im Sinne der bürgerlichen Aufklärung begriffen auch die Theoretiker der aufkommenden Arbeiterbewegung Religion als Ausdruck eines »falschen Bewußtseins« und als Produkt des »Priesterbetrugs«. Bahro berührte also ein Tabu des linken und linksliberalen Milieus. Sein ungezwungener Umgang mit dem religiösen Stoff sorgte in der Folgezeit für manche Mißverständnisse, auch für offenes Unverständnis. Man könnte allerdings daran erinnern, daß es seit den Ursprüngen der sozialistischen Bewegung minoritäre Strömungen gab, die den Atheismus bzw. Agnostizismus nicht mitmachen wollten. 

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Manfred Frank geht in seinen Vorlesungen über die Neue Mythologie auf den französischen Frühsozialismus eines Pierre Leroux ein — auch »Le socialisme romantique« (Frank 1982, 219) genannt —, gegen den Karl Marx heftig polemisiert hatte. 

Für diese linken Romantiker war Religion kein bürgerliches Mittel zur Beruhigung der Seelen, sondern das Medium, in dem sich Menschen als Gemeinschaft mit verbindlichen Werten definieren können. Wenn eine revolutionäre Bewegung auf Religion und Transzendenz verzichte, dementiere sie den in ihrem Innersten treibenden Glauben an die eigene Zukunft. Sie komme somit an den Punkt, »einen bestimmten Zustand der Gesellschaft und der Menschheit als nicht mehr von einem Ideal überbietbar anzuerkennen« (ebd., 221).

Auf diese minoritären Strömungen bezog sich Bahro. Er las ja bereits in Bautzen die Bibel und religionsgeschichtliche Werke und integrierte danach immer mehr urchristliche Elemente in sein Denken. Im einzelnen fällt es nicht ganz leicht, die Entwicklung des religiösen Gedankens bei ihm nachzuvollziehen. Zumindest läßt sich sagen, daß er seit den späten 70er und frühen 80er Jahren so etwas wie einen »befreiungstheologischen« Standpunkt entwickelte, wozu auch die Begegnungen in Lateinamerika beitrugen.

Im Februar 1981 verwies er in seinem Vortrag in Oaxaca (Mexiko) darauf, daß der »Götzendienst« der Moderne den emanzipatorischen Aufstieg des Menschengeschlechts behindere. Er bezog sich dabei ausdrücklich auf die prophetische Tradition. Diese »Selbstblockierung des emanzipatorischen Ausgangs« aus dem Prozeß des kapitalistischen Fortschritts bedeute »das Steckenbleiben in der schlechten Unendlichkeit der Mehrproduktion, der Sieg des Mittels über den Zweck« (Wahnsinn, 10). 

 

Anläßlich eines Futurologenkongresses im Juni 1982 in Stockholm wies Bahro darauf hin, der Mensch habe sich in der durch eine 10.000 jährige Geschichte geprägten Kultur »in vieler Hinsicht« von seiner ursprünglichen Bestimmung entfernt, »indem er dem Prinzip gehorchte, das in der Bibel Mammon heißt«. Die Abkehr davon sei nur möglich, wenn unser »Genotyp« wieder ins Spiel komme: Das ist »diejenige in allen Menschen gegenwärtige soziale Kraft, die von den alten Propheten immer unter dem Namen Gottes angerufen worden ist. Gott ist das alter ego, das angezielte Du unseres Genotyps. Dort, wo die Entfaltungs­bedürfnisse unserer ursprünglichen Natur konvergieren, ist der Ort Gottes.«

Es gebe heute ganz diesseitige, innerweltliche Gründe, die erklären könnten, »weshalb und in welcher fundamentalen Rolle jetzt die religiöse Dimension wiederkehrt«, glaubte Bahro: »Das, was in den Religionen gleichbleibend und eben historisch zeitlos über Gott und über sein >Handeln<, seine >Einstellungen<, die Art seines >Vorgehens< ausgesagt wird, erscheint mir direkt als ein Modell, in dem wohl alle Muster schon enthalten sind, nach denen sich Auftrag, Substanz und Strategie der Umkehrbewegung beschreiben lassen.« (Ebd., 31)

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In diesen Formulierungen steckt ein radikaler Wandel seines Denkens: Ausschlaggebend für jegliche Veränderung im gesellschaftlichpolitischen Bereich ist das, was sich im menschlichen Herzen tut. Die Revolution der Seele geht jedem ernsthaften äußeren Handeln voraus. Nur wenn es gelingt, die Seelenkräfte zu sammeln und zu reinigen, wie dies in religiösen Ritualen zum Ausdruck kommt, werde eine Umkehrbewegung Gestalt annehmen können. Mit einem solchen Ansatz hat sich Bahro weit vom »linken« mainstream entfernt — und nähert sich der selbst gesetzten Aufgabe, die menschliche Emanzipation unter den Bedingungen der drohenden Apokalypse neu zu denken.

Bevor wir auf Bahros Engagement für eine Umkehrbewegung innerhalb der grünen Partei eingehen, ist hier ein Exkurs über eine Reise ganz besonderer Art angebracht: Im Oktober 1981 besuchte Rudolf Bahro zusammen mit der Schriftstellerin Luise Rinser Nordkorea. Als Beiratsmitglied im »Internationalen Komitee für die friedliche Wiedervereinigung Koreas« hatte Rinser das Land erstmals im Mai 1980 bereist und schrieb in ihrem Nordkoreanischen Tagebuch:

»Ich möchte mit meiner Arbeit erreichen, daß man im Westen eine Art von Sozialismus kennenlernt, die nicht nur für die Zukunft der Dritten Welt entscheidend Modell ist, sondern auch uns anderen Impulse für ein mutiges Umdenken in Richtung eines möglichen Sozialismus geben kann und den blinden Glauben an einen unumgänglichen Kampf zwischen dem kapitalistischen und dem kommunistischen System abbauen hilft.« (Rinser 1981, 76)

Während dieser Reise sei ihr Bahros Alternative in den Sinn gekommen, und Luise Rinser bekannte: »Seine Kritik am >real existierenden Sozialismus< und seine Darstellung dessen, was Sozialismus sein soll, hat sich mir in Nordkorea als konkrete Wirklichkeit und Wahrheit gezeigt.« (Spiegel, Nr. 45, 2.11.1981) Sie vermittelte Rudolf Bahro eine Einladung in die Demokratische Volksrepublik Korea. Das, was er während zwei Wochen dort sah, erinnerte ihn stark an die Aufbauzeit in der DDR der 50er Jahre. Die Leistungen dieses Volkes seien bewundernswert, und trotz Personenkult (dieser sei allerdings »ungeheuer«, berichtete er Ursula Beneke nach der Reise) sehe er keinen Grund, das nordkoreanische System zu verurteilen.

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Bahros Kritik blieb diplomatisch. Da er wie ein Staatsgast behandelt wurde, bekam er nur die Schokoladen­seite des Systems zu sehen. 14 Jahre später vom Spiegel danach befragt, behauptete Bahro, er habe den nordkoreanischen Verhältnissen dank seiner theoretischen Auseinandersetzung mit der asiatischen Produktionsweise »sozusagen in fünf Minuten auf den Grund geguckt« (Spiegel, Nr. 26, 26.6.1995). Kim II Sung konzedierte er, »echt« zu sein — »ganz im Gegensatz zu diesem Sohn, der jetzt regiert. Der Vater hat an seine Lesart des Kommunismus, die sanfte Despotie, wirklich geglaubt. In Nordkorea gab es subtilere Repression, Umerziehung, aber nicht Gulag, dachte jedenfalls auch ich«, fügte er einschränkend hinzu. Auf die Frage der Spiegel-Redakteure, ob er »diese Eskapade« später mal bereut habe, antwortete Bahro selbstbewußt: »Nein, ich muß mir nichts vergeben.« Gelitten habe seine Reisebegleiterin Luise Rinser, »weil sie nun doch noch wieder anders zu Korea steht als ich«. Sie habe »das Wohlwollende in dieser Despotie gesehen, das Despotische hat sie nicht wahrgenommen«.

Bahro nahm die unterdrückerischen Züge dieser Entwicklungsdiktatur wohl zur Kenntnis, war aber zugleich geneigt, sie zu rechtfertigen. Das wird aus dem Spiegel-Beitrag vom November 1981 deutlich: Der West-Mensch dürfe Nordkorea nicht durch die europäische Brille betrachten. So etwas wie den Kim-Kult gebe es schließlich auch in anderen Ländern der Dritten Welt. Mit solchen Rechtfertigungsversuchen stand Bahro nicht alleine da. Seit Ende der 60er Jahre gab es eine Form von »internationalistischer« Solidarität, die sich für die inneren Widersprüche der von ihr favorisierten Befreiungsbewegungen nicht oder nur am Rande interessierte. Wesentlich war, daß die Orientierung stimmte — sei es nun gegen den US-Imperialismus allein, gegen die beiden Supermächte USA und Sowjetunion oder auch »nur« gegen den »BRD-Imperialismus«. Diese Solidaritätsgruppen ließen sich mehr oder weniger bereitwillig in die Propaganda­kampagnen der jeweiligen Befreiungsbewegungen bzw. der von ihnen kontrollierten Regierungen einspannen. (Ich habe das am Beispiel der »Kampuchea-Solidarität« in den späten 70er und frühen 80er Jahren in Deutschland selbst erlebt und mitgemacht.)

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Zurück zu den GRÜNEN: Auf dem Hagener Parteitag im November 1982 wurde Bahro als Beisitzer in den Bundesvorstand gewählt. Im Mittelpunkt stand die Diskussion eines Wirtschaftsprogramms. In Randglossen zu dem dort vorliegenden Entwurf skizzierte Bahro Vorstellungen einer grünen »Umverteilungspolitik«: Es gehe darum, den »laufenden Geschäften soviel wie möglich Energie [zu] entziehen, der Alternative, den Rettungsbooten möglichst viel Energie zu-[zu]führen«. Das schließe nicht aus, »daß wir in zweiter Linie alles unterstützen, was die Lohnabhängigen mit niedrigem und mittlerem Einkommen gegen die Abwälzung der Krisenlasten auf ihre Schultern schützen kann. Im Gegenteil, zum einen soll dem Kapital keine Mark mehr für Investitionen überlassen werden, die in den Ausbau des Industriesystems gesteckt werden. Zum anderen würde eine Zuspitzung der sozialen Lage Kräfte binden, die dann nicht für Initiativen zur Überwindung der Ursachen der allgemeinen zivilisatorischen Krise beitragen können.« (Pfeiler, 13)

Bahro kritisierte: Wer in erster Linie »Arbeitsplatzbeschaffung« betreiben wolle und dabei »das weitere Mitspielen in der Konkurrenz auf dem Weltmarkt nicht in Frage stellt, handelt in der Konsequenz kolonialistisch«. Das vorliegende grüne Wirtschaftskonzept stelle sich »überhaupt nicht der strategischen Frage, vor der wir stehen«. Diese Frage lautete für Bahro: »Wollen wir dem Kapital jetzt reformistisch, durch hingebungsvolle Anpassung an seine besten >ökologistischen< Absichten helfen, den Anlauf für die fünfte >lange Welle< der Industrialisierung3) (Mikroprozessoren, Computer, Bioindustrien, Umweltschutz) zu nehmen, oder wollen wir versuchen, das Gesamtsystem in dem jetzigen Tal zwischen der vierten und fünften Welle abzufangen?« (Ebd., 14)

In seinen Grundpositionen versuchte Bahro eine »ökologische Antwort auf die Wirtschaftskrise« der frühen 80er Jahre zu formulieren: Diese Krise müsse dazu genutzt werden, »die Frage nach einem Einkommen, nach einer sicheren Lebensgrundlage für alle von dem Zwang zur Lohnarbeit für den Weltmarkt abzukoppeln« (ebd., 21). Der Rückzug vom Weltmarkt solle zu einem qualitativ veränderten Lebensstandard führen. Gedacht sei an »eine Wirtschaftsordnung größtmöglicher Selbstversorgung in kommunalen, regionalen, Länder- und nationalen Reichweiten« (ebd., 26). Die internationale Arbeitsteilung werde entsprechend dieser Vorstellung nur noch in stark eingeschränktem Maßstab fortgeführt.

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Im bereits erwähnten Interview mit New Left Review vom Sommer 1983 präzisierte Bahro seinen Gedanken: »Ich stelle mir vor, daß die materielle Struktur des Weltmarkts durch eine informationelle Weltmarkt-Struktur ersetzt werden könnte. Mit anderen Worten: Die Kommunikation würde aufrechterhalten, aber der Materialtransport würde verschwinden — natürlich nicht aufs Mal.« 

Auf die Frage, ob Bahro für totale Autarkie eintrete, erklärte er: »Wenn wir ein Gleichgewicht und Stabilität erreichen wollen, müssen wir die ursprüngliche Struktur des Weltmarkts neu erschaffen. Dieser war auf eine geringe Menge von Überfluß- und Luxusprodukten begrenzt.« (From Red to Green, 180) Eine Frage müsse noch genauer untersucht werden: »Wie könnte unsere Bevölkerung — angesichts einer Perspektive, in der ohnehin der Nachschub für unsere gefräßige Große Maschine ausbleiben und der kriegstreibende Kampf um die Ressourcen zunehmen wird — auf dem gegebenen Territorium mit den noch vorhandenen Ressourcen ihr Leben reproduzieren?« (Pfeiler, 26)

Vor dem außerordentlichen Bundeskongreß der GRÜNEN im Januar 1983 in Sindelfingen, der ein Wirtschafts­programm verabschieden sollte, meldete sich Rudolf Bahro in der tageszeitung zu Wort: Der aus dem Kommunistischen Bund stammende Ökosozialist Rainer Trampert (er wurde im Dezember 1984 in den grünen Bundesvorstand gewählt) wolle — so heißt es entschieden und selbstbewußt — 

»die Menschen in den Fabriken nicht zum Aussteigen auffordern, weil er ihnen nicht sagen kann, wohin. Er geht eben nicht davon aus, daß der Zug in Richtung Abgrund rollt. ... Möchte er wissen, wohin er sie schicken kann? Wenn ja, dann ist doch mein Konzept, sie gerade nicht ins Nichts zu schicken, sondern unseren potentiellen Machtanteil dafür zu nützen, daß ihnen eine materielle Deckung für den Umstieg geboten wird, ein Vorschlag, auf den er sich einlassen müßte. Ich stelle mir eine andere Umverteilung vor. Heraus aus dem Industriesystem, heraus aus dem Raum des Verteilungskampfes zwischen Kapital und Arbeit im Betrieb, der als historisch perspektivlos erwiesen ist.« (TAZ, 5.1.1983; wieder abgedruckt in Pfeiler, 30)

Konkret ausgefeilt war Bahros Konzept zu diesem Zeitpunkt noch keineswegs. Was man sich unter dieser »anderen Umverteilung« vorzustellen hatte, blieb vorerst unbeantwortet. Ein paar Monate später wird er in einem Gespräch formulieren, es gehe darum, »ökonomische und rechtliche und politische und soziale Startinvestitionen« für einen Neuanfang zu »erobern« und so »den Anfang der neuen Zivilisation zu stiften, was so tief geht, daß man von einem Bruch mit europäischen Grundmustern der Verhaltensdisposition reden muß« (Kommune, Nr. 7, 8.7.1983, 44). 

Hier klingt sein kulturrevolutionäres Motiv des »Kommune wagen« an — mehr dazu im übernächsten Kapitel.

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Nach Bahros Einschätzung kam in Sindelfingen »ein öko-reformistisches, also linkssozialdemokratisches Programm« heraus: Neben einer ökologischen Präambel stünden hier vor allem Vorschläge zur Reparatur des Systems. Trotzdem sei dieses Wirtschaftsprogramm gar nicht so schlecht, bekannte er im Sommer 1983 dem New-Left-Review-Interviewer Fred Halliday: »Die GRÜNEN bleiben sowohl fundamentalistisch als auch reformistisch, und unser parteiinterner Disput dreht sich nicht um die Frage, ob wir die wirtschaftlichen Maßnahmen im Sofortprogramm unterstützen oder nicht, sondern darum, wie unsere Prioritäten aussehen sollen.« (From Red to Green, 171)

Im Entwurf für einen Aufruf zur Bundestagswahl am 6. März 1983 faßte Rudolf Bahro sein politisches Programm zusammen:

»Wir wollen in absehbarer Zeit den Mehrheitskonsens dafür erreichen, daß der überlebens­notwendige Umbau unserer Zivilisation beschlossen, geplant und begonnen wird. Davon unabhängig müssen wir hier und jetzt alle Möglichkeiten ergreifen, um Schäden zu beseitigen und weiteren vorzubeugen. Und wir müssen die Krise nutzen, um in den bestehenden Industriekomplexen und Infrastrukturen zu ändern, was sich ändern läßt, damit sowohl vom Produkt als auch vom Arbeitsprozeß her umwelt- und sozialverträglich verfahren wird.« (Pfeiler, 46) 

Für jene, die aus dem Arbeitsprozeß herausfallen, wie für jene, die noch »drin« sind, aber »heraus« möchten, müsse es »eine hinlänglich gesicherte Möglichkeit des Umsteigens in neue Lebenszusammenhänge jenseits des kapitalistischen Industriesystems geben, und wir denken an mehr als jene Alternativprojekte, die noch auf die Nischen des allgemeinen Marktes angewiesen sind« (ebd., 47).

Trotz aller vorhandenen Bereitschaft zur — zumindest vorläufigen — Koexistenz der unterschiedlichen grünen Strömungen war die Abwehr gegen Bahros fundamentalkritischen Ansatz in den Debatten vor der Bundestagswahl stark spürbar. Ein Diskussionsredner, »der es gut mit den GRÜNEN meint«, habe ihm gesagt, er solle doch »wenigstens während des Wahlkampfs nichts sagen, was die Leute erschrecken könnte«, teilte Bahro in der tageszeitung mit. »Die meisten unserer Bundestagskandidaten denken im Prinzip genauso.« 

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Es wolle »den Realpolitikern unter uns partout nicht in den Kopf, daß sehr viel mehr Leute, als uns am 6. März wählen werden, unterschwellig auf eine Kraft warten, die nicht mehr mitspielt, und daß der Aufstieg der GRÜNEN letztlich auf eben dieser unterschwelligen Erwartung beruht«. Die auch von vielen grünen Mitgliedern geteilte Ablehnung des sogenannten Fundamentalismus sei Ausdruck einer »kurzsichtiger] und kleinmütige[n] Befürchtung, wir würden uns zur Sekte isolieren, wenn wir unsere Katze wirklich aus dem Sacke ließen« (taz, 4.3.1983; wieder abgedruckt in Pfeiler, 52).

 

Die Frage nach den Bedingungen für einen »radikalen Wandel, einen Umbruch, einen Aufbruch in der subjektiven Lebenspraxis, fort von den zahllosen Gewohnheiten, die uns an einen bestehenden Zustand der Dinge fesseln, hin zu neuen Ufern der individuellen und kollektiven Existenz« (Wahnsinn, 5), beschäftigte Bahro in dieser Zeit ganz zentral. Die Notwendigkeit einer grundlegenden Veränderung der Lebensweise wurde zu seinem Credo, das er inner- und außerhalb der grünen Partei unermüdlich verkündete. Die Trennung zwischen dem »Privaten« und dem »Politischen«, die sich auch in dieser Partei reproduzierte, wollte Bahro nicht nachvollziehen: Der eigene Lebensstil war ihm der Gradmesser für die Ernsthaftigkeit politischer Überzeugungen. 

Eine solche Herangehensweise galt in der bundesdeutschen Gesellschaft und auch bei manchen Grünen bald als »fundamentalistisch«. Da schwingt das »Religiöse« einer solchen Position mehr oder weniger offenkundig mit. Bahro scheute sich nicht, in diese Sphäre vorzudringen, um den subjektiven Antriebskräften für einen grundlegenden Wandel, den er erhoffte, besser auf die Spur zu kommen.

Wie sah denn dieser Lebensstil bei Bahro ganz persönlich aus? Ursula Beneke berichtet über die ersten Jahre in der Bundesrepublik:

»Ein <Privatleben> gab's für uns eigentlich nicht. Rudi saß, wenn er zu Hause war, am Schreibtisch und schrieb. Zu Anfang, in Köln, wurde er ständig von wildfremden Menschen angesprochen. Es kamen auch Medienleute und solche aus politischen Parteien, die etwas von ihm wollten. In Bremen wurde es im Hause dann etwas ruhiger. Aber auch dort unterschied sich der Sonntag von den Werktagen nur dadurch, daß da keine Post kam.« 

Ursula Beneke kümmerte sich um Termine und alle technischen Fragen, schrieb seine Texte ins Reine. Und sie versorgte den Haushalt. Die alltäglichen Dinge interessierten Bahro wenig. Ein Beispiel dafür: »Oft wußte Rudi nachmittags nicht mehr, was er mittags gegessen hatte.« 

Er war ein unermüdlicher intellektueller Arbeiter, der sich kaum eine Ablenkung gönnte, sondern immer bei der Sache bleiben wollte. Und er war stolz auf das, was da in ihm dachte.

»Sein elitäres Gehabe hat mich manchmal gestört«, erklärt Ursula Beneke heute im Gespräch. Trotzdem möchte sie die Zeit, die sie mit ihm verbrachte, nicht missen. »Gott sei Dank muß ich keinen Tag meines Lebens bereuen.«

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Kurt Seifert 2002  #  Bahro Biographie