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2  "Wir wurden eines Schlimmeren belehrt" - Nachtrag zur Kritik der östlichen Systeme

"Im Sommer 1968 haben wir gehofft, sie werden es nicht wagen:
für unwahrscheinlich gehalten haben wir ihren Einmarsch nicht.
Afghanistan durften wir zwar schon nicht mehr für unmöglich
 halten. Aber für wahrscheinlich halten mußten wir es nicht.
Wir wurden eines Schlimmeren belehrt."

Von Prag nach Kabul  

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Seinerzeit habe ich gedacht und auch geschrieben, die militärische Polizeiaktion gegen die Prager Reform sei das größte Verbrechen der Sowjetführer seit dem II. Weltkrieg gewesen. Das ist jetzt nur noch so weit richtig: Wenn wir damals durchgekommen wären, in Prag, und dann auch in Warschau, gar in Berlin, Hauptstadt der DDR, und wenn es dann in Moskau wenigstens eine Spur der Anpassung an eine solche neue Realität in der westeuropäischen Peripherie gegeben hätte — dann gäbe es jetzt nicht den Einmarsch in Afghanistan. 

Was auch immer sich der Rat der Ältesten im Kreml dabei gedacht haben mag: Das ist ein Verbrechen gegen den Frieden weit über Afghanistan hinaus, weit über die Stunde von Kabul hinaus. Das ist ein Verbrechen gegen Entspannung und Abrüstung. Das stellt die Niederwerfung des Prager Frühlings in den Schatten. Das übertrifft auch Dengs unverschämte "Lektion" für Vietnam.

Damals, 1968, hatte der schamlose Bruch des Völkerrechts eine für die ganze Weltöffentlichkeit einsehbare defensive Motivation. Die Novotnys in allen Ländern des sowjetischen Blocks zitterten um ihre Machtpositionen, erschrocken bis ins Mark und bis ins Moskauer Zentrum. Indem sie deshalb schon seit dem Frühjahr 1968 ihre militärischen Muskeln spielen ließen, erzeugten sie selbst jene Stimmung in der Tschechoslowakei, die später zum Ausscheiden des Landes aus dem Warschauer Pakt hätte führen können. Immerhin war das Land ein angestammtes Mitglied der "sozialistischen Gemeinschaft". 

Es wies, bei allen Unterschieden, dieselbe soziale und politische Grundstruktur auf. Die Sowjetunion hatte hier — vor dem Hintergrund ihrer Opfer für die Befreiung der Tschechoslowakei im Kampf gegen Hitler-Deutschland — etwas zu verlieren. Deshalb hat die Intervention von 1968 zwar — und das bleibt von keinem andern Standpunkt so unverzeihlich wie von unserm — eine Hoffnung aller Demokraten und Sozialisten zerschlagen. Aber wenigstens direkt den Frieden und das Überleben gefährdet hat sie nicht.

Alle Schicksalsfragen der Menschheit hängen an Frieden, Entspannung und Abrüstung. Jetzt zeigt uns die Intervention in Afghanistan, daß diese Werte und Ziele nicht an erster Stelle der sowjetischen Aspirationen stehen, daß man bereit ist, Mittel anzuwenden, die diesen Werten und Zielen demonstrativ ins Gesicht schlagen. Diese Aktion kann keine andere Folge haben, als die Psychologie des Wettrüstens in aller Welt zu nähren. Sie greift treibend in den verhängnis­vollen Prozeß ein, in dem in verhältnismäßig kürzester Frist die Lebensgrundlagen der Menschengattung auf dieser Erde vernichtet werden.

Afghanistan kann das Vietnamabenteuer einer sowjetischen Führung werden, die so unverhüllt wie niemals zuvor das Gesicht des Großmachtchauvinismus, des bürokratischen Imperialismus zeigt. Und äußerst bedenklich: Die Leute leben in ihrer Isolation vom eigenen Volk so wenig in der Welt, wie sie jetzt wirklich ist, daß sie aufrichtig vor dem Spiegel erschrecken, in dem sie sich wiedererkennen müssen. Sie fühlen sich allen Ernstes unverstanden. Ich würde glauben, wenn man mir erzählte, daß dort wieder irgendeiner heult. Dabei ist alles darauf angelegt, den Rest an Vertrauen zu zerstören, der sich an das nichtkapitalistische Fundament, an den objektiven Auftrag der Sowjetunion klammert, dem Aufstieg der Unterentwickelten Deckung zu bieten. 

Im Sommer 1968 haben wir gehofft, sie werden es nicht wagen; für unwahrscheinlich gehalten haben wir ihren Einmarsch nicht — aus den angeführten Gründen. Afghanistan nun durften wir zwar schon nicht mehr für unmöglich halten. Aber für wahrscheinlich halten mußten wir es nicht. Wir wurden eines Schlimmeren belehrt. 

Es ist, als wollte das Moskauer Politbüro den Chinesen und dem Herrn Strauß bestätigen: Ihr habt uns richtig gesehen. Diese in summa viel zu alten Männer im Kreml mußten wissen, daß ihre Aktion das Klima für Entspannung und Rüstungsbegrenzung zerstört, daß sie der Rüstungslobby der anderen Seite schlagende Argumente für den freilich sowieso geplanten Einstieg in die nächste Runde Wettrüsten liefert. Sie mußten wissen, daß sie dem freilich schon ebenso bereitliegenden Aufmarschplan der anderen Seite für die "Sicherung der Ölquellen" die letzte Weihe geben. 

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Aber es ist offensichtlich: Sie rechnen nicht einmal mehr am Rande mit dem psychologischen Faktor einer tendenziell doch deutlich progressiven öffentlichen Meinung, mit dem Widerstand zahlloser Menschen auf dieser Seite der Blockgrenze gegen ein hemmungsloses Spiel der Machtinteressen. Ihr Partner ist allein das Pentagon. Sie bringen es dahin, daß sich die Objekte der großen Ausbeutung, die Länder der Dritten Welt, mit einer Hand gegen Moskau wehren müssen statt mit zwei Händen gegen Washington und die NATO. Mit diesem Einmarsch fungieren sie ohne Einschränkung als Komplicen der Weltreaktion. Sie nehmen die Rolle an, die wir ihnen nicht und immer noch nicht zuschreiben wollen: eine der beiden Supermächte zu sein, die auf dem Rücken der Völker ihre tödliche Rivalität austragen.

Wie ist es zu der Tragödie des afghanischen Volkes gekommen? Seit über 20 Jahren hat die Sowjetunion dort im Geiste jenes Wechselbalges von (objektiver) antiimperialistischer Solidarität und immer konventionellerer Machtpolitik Positionen für sich aufgebaut. Die inneren Widersprüche des überaus rückständigen Landes waren tief genug, um eine autonome national-revolutionäre Widerstandsbewegung hervorzubringen, die unter den dortigen Bedingungen nur in der Intelligenzija — einschließlich der militärischen — ihren Kern und ihre Spitze haben konnte. Der große Nachbar aber hat — wenn nicht direkt, dann jedenfalls indirekt — vorsteuernd und deformierend eingewirkt. 

Die Konstellation hat der afghanischen Avantgarde das Modell und den falschen Zeitplan nahegelegt. 1978 haben Mohammed Taraki und seine Genossen keine Revolution gemacht, sondern einen Putsch veranstaltet, um ihrem Volk dann die probate Revolution von oben zu bescheren. Sie haben - wohlmeinend, wie ich denke - eine Agrarreform dekretiert, die den Lebenszusammenhang der Bauern zerstörte, so daß sie mit dem zugewiesenen Land nichts gewonnen hatten. Effektiv haben sie die afghanischen Bauern in ein ähnliches Schicksal gestürzt, wie es den Bauern des Iran unter der Diktatur des Schah zuteil wurde. Die geplante Beglückung schlug dem ganzen Land und Volk zu unabsehbarem Unglück aus. 

Die afghanische Partie war schon in dem Augenblick verloren, als man sie eröffnete, schon im Hinblick auf die gleichzeitige iranische Revolution, die dem islamischen Widerstand, der sich nun natürlich mit den traditionellen Mächten verbindet, einen unschlagbaren Rückhalt gibt. Nicht an die Amerikaner — an die Moslems werden die Interventen Afghanistan verlieren. Und man muß ihnen diese Lehre wünschen. Anders als beim Prager Frühling, handelt es sich hier um einen schwerwiegenden Fehler selbst vom Standpunkt der orthodoxesten Apparatinteressen. 

Daher kann Kabul direktere innenpolitische Folgen haben. Es ist noch gar nicht abzusehen, wohin der Wahnsinn führen kann, Öl in das islamische Feuer zu gießen. Kabul unterstreicht, die Völker der Sowjetunion und ihrer Verbündeten müssen ihre Novotnys in Rente schicken und ihren ganzen politischen Überbau grundlegend umbauen. Und linke Organisationen im Westen müssen sich schnell von verantwortlichen Politikern entlasten, die den sowjetischen Führern bis in ihr afghanisches Abenteuer hinein Rückendeckung geben. Wer diese Intervention gutheißt, zeigt, daß er Fleisch vom Fleische der büro­kratischen Apparat­herrschaft ist.

Im übrigen bin ich der Meinung, daß den Kräften der Vernunft hier im Westen jetzt eine große Verantwortung zufällt: die von den herrschenden Kreisen der USA und der Sowjetunion betriebene Eskalation der Spannung in keiner Weise zu unterstützen und speziell in der Bundesrepublik die in der besten Zeit der sozial-liberalen Koalition durchgesetzte Politik der Ostverträge zu verteidigen. Frieden, Entspannung und Abrüstung — jetzt erst recht!

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