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Vorbemerkung

Rudolf Bahro 1980 

 

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Als ich hier ankam, haben gerade einige von denen, die mich nicht nur aus den Medien, sondern über das Geschriebene kannten, mit Sorge oder gar Enttäuschung darauf reagiert, daß ich es nicht vorzog, erst einmal vorsichtig zu schweigen, ausführlich zu analysieren und vor allem überparteilich zu bleiben. 

Ich hätte einigermaßen zurückgezogen, geleitet von Büchern, persönlichen Gesprächen und der Aufnahme von Erfahrungen aus dem Alltagsleben versuchen sollen, die hiesigen Zustände ebensogut kennenzulernen, wie ich die Verhältnisse drüben gekannt habe, ehe ich mir das Wort dazu nahm. 

Natürlich ließ sich absehen, daß mein sofortiges Engagement nicht nur physisch und psychisch anstrengend ausfallen, sondern auch den Verlust der "innen­politischen Unschuld" nach sich ziehen würde. Aber nach der Vorgeschichte wäre es nicht nur schwer, sondern in meinen Augen auch unangemessen gewesen, hätte ich mich nicht von Anfang an als der politische Mensch gezeigt, der ich bin und bleibe. 

Im Interesse der Sache, für die ich mich eingesetzt hatte, mußte ich zunächst schon allein das Bild berichtigen, das die Massenmedien von mir verbreitet hatten. Ich war nie jener "DDR-Regimekritiker", den sich selbst die sich seriös gebende Presse nur selten verkneifen konnte; war nicht hierhergekommen, um nun aus sicherem Abstand auf die DDR zu schimpfen und die selbstgerechten Vorurteile zu bestätigen, von denen sich die Stammtisch-Systemvergleiche nähren.

Das von der Reaktion gepflegte kommune Vorurteil hierzulande und die politische Bürokratie in der DDR sind sich ja in bemerkenswerter Weise darüber einig, daß Kritik am dortigen Regime auf Liquidierung der staatlichen Existenz, wenn nicht gleich des Gemeinwesens überhaupt gerichtet sein müsse. 

Was man seinerzeit für die tschechischen Reformer von 1968 noch begreifen oder wenigstens realistisch hinnehmen konnte — daß sie nicht das Fundament, auf dem sie standen, vernichten, sondern den institutionellen Überbau umformen wollten, um ihren Sozialismus mit dem menschlichen Gesicht zu verwirklichen — wird der DDR-Opposition nur von einer aufgeklärten, vornehmlich linken Minderheit konzediert. 

Wer bei seiner Sympathie für Oppositionelle dort immer noch in erster Linie "Wiedervereinigung" meint — und möge er sich das Resultat noch so sozialliberal oder selbst radikaldemokratisch vorstellen —, der bestätigt dem herrschenden Apparat drüben das Recht, Bücher wie meines "konter­revolutionär" zu nennen.

Es läge im wohlverstandenen Interesse aller politischen Kräfte beiderseits der Grenze, endlich zu begreifen, daß sich die Verhältnisse auf der jeweils anderen Seite nicht nach von außen hineingetragenen Modellen ändern werden, die zudem nur allzuoft die Schranken des eigenen Horizonts verraten. In dieser Hinsicht ist der Denkprozeß drüben wesentlich weiter fortgeschritten, gerade auch in den führenden Kreisen. Hierzulande jedenfalls wird immer noch von allzuvielen verdrängt, daß die Blockgrenze, die seit der sowjetisch-amerikanischen "Begegnung an der Elbe" durch Deutschland geht, erstens Resultat fehlgelaufener Nationalgeschichte, zweitens nun aber nicht mehr allein "deutsch-deutsch", nicht mehr ohne Abbau der Blockkonfrontation Ost-West, drittens nicht ohne tiefgreifende Veränderungen auf beiden Seiten überwindbar ist. 

Die Bevölkerung der DDR käme vom Regen unter die Traufe, sollte ihr eine sozialpolitische Veränderung ausgerechnet die hiesigen Zustände bescheren — von den Gefahren, die mit jeglicher Verschiebung des Kräfteverhältnisses verbunden wären, ganz zu schweigen. So ging es mir von vornherein um die Distanzierung von jenen, die meine fundamentale Kritik an der anderen Gesellschaftsordnung nur dazu gut fanden, sie geschäftsmäßig in das Kleingeld des psychologischen Krieges einzuwechseln.

Darüber hinaus hat die Öffentlichkeit des Landes, in das einer kommt, der schon kein unbeschriebenes Blatt mehr ist, überhaupt ein Recht darauf, die Haltung, mit der er eintritt, authentisch zu erfahren. Und ich bin ja nicht in ein fremdes Land emigriert. So sehr die DDR bisher meine Heimat war und so wenig ich abzustreifen gedenke, was mir das Leben dort gegeben hat — jetzt will ich in dieser Bundesrepublik als Staatsbürger im weitesten Sinne zu Hause sein, das heißt ebenso verantwortlich wie ich mich drüben empfunden habe. 

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Ich will meinen Weg hier in derselben Richtung fortsetzen, die ich dort mit der Kritik am real existierenden Sozialismus und mit dem Vorschlag einer Alternative verfolgte. Und zugleich bin ich mir darüber klar, daß dies nicht zu machen sein wird ohne Überprüfung bisheriger Standpunkte (mit denen man ja, wie das Wort schon sagt, leicht stillsteht, statt unterwegs zu sein) und Einstellungen (die noch tiefer als Standpunkte in die Biographie zurückwurzeln). Deshalb können und sollen diese Texte nicht mehr als der Entwurf einer Position sein. Sie dokumentieren eine Einstellung, eine Problemorientierung, keine endgültige Festlegung. Ich habe eingebracht, was zunächst da war. Die Haltung selbst, die ich hierher mitgebracht habe, ist ein Entwurf, der nun nach gründlicher Ausarbeitung verlangt.

"Mitgebracht" — das bedeutet, sie beruht im Kern nicht auf unmittelbarer Erfahrung der hiesigen Zustände. Fürs erste kann ich mich darauf berufen, daß man in der DDR sehr viel mehr von der Bundesrepublik weiß als umgekehrt, und daß es schon immer möglich war, auch aus der Ferne (wie die Geschichts­schreibung beweist, sogar aus der Ferne der Zeit) Wesentliches über ein Land zu wissen, in dem man nicht gelebt hat. Übrigens will ich der Kuriosität halber hinzufügen, daß ich 1946 als 10jähriger einige Monate in einem Dorf bei Biedenkopf an der Lahn war. Ich habe natürlich sehr bewußt verfolgt, was sich hier "drüben" ereignete und entwickelte. Dabei hat mich der andere deutsche Staat nicht so sehr für sich genommen interessiert, vielmehr als Teil der "Ersten Welt", des spätkapitalistischen Metropolenverbunds, in dem er freilich eine besondere Rolle spielt.

Wenn ich mich von Anfang an einigermaßen in der anderen Welt zurechtgefunden habe, so war das möglich, weil ich auch die Verhältnisse in Osteuropa auf ihre Einordnung in die Weltsituation als ganze hin erfahren habe. Ich bin ja davon ausgegangen, daß die Geschichte der Sowjetunion seit 1917 und die Geschichte Osteuropas seit dem II. Weltkrieg nur verstanden werden kann, wenn man sie als Antwort auf die Herausforderung durch den kapitalistischen Industrialismus betrachtet.

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Das Werk von Marx, das meinen Bildungsgang geprägt hat, gibt zwar keine heute noch hinreichende, aber doch eine grundlegende Auskunft über den Kapital­ismus; und die neuen Tatsachen werden drüben natürlich zur Kenntnis genommen und irgendwie "eingearbeitet". Überdies ist das größte Problem der Gegenwart, die ökologische Krise, in der sich alle Widersprüche der herrschenden Produktions- und Lebensweise, alle Gefahren der Weltsituation überschneiden und bündeln, seinem Wesen nach nicht aus nationalstaatlicher Sicht erfaßbar. 

Natürlich hängt der Entwicklungsgrad der Produktivkräfte, der über seine Fehlfunktionen das entsprechende Krisenbewußtsein ausgelöst hat, mit Nationalgeschichte zusammen, und eine politische Praxis, die sich auf dieses Bewußtsein stützen will, kommt nicht an den Traditionen vorbei, die sie umzuformen strebt. Aber die Herausforderung selbst ist unspezifisch und kann, wenigstens in erster Lesung, ohne Rekurs auf die nationalen Besonderheiten verstanden werden, deren Berücksichtigung dann ohnehin mehr eine Frage der Praxis als der Theorie ist.

Aus alledem mag sich erklären, daß ich hier fürs erste keine allzu große Überraschung erlebt habe. Auch hat mir die Aufnahme durch Menschen verschiedenster Art, die mit dem Anliegen der Alternative sympathisierten, das Hineinfinden erleichtert. Die Schwierigkeiten der Adaption liegen auf anderer, subjektiverer Ebene, in dem sehr verschiedenen psychologischen Klima, in dem größeren Abstand von Mensch zu Mensch, den die hiesigen Verhältnisse machen.

Einmal entschieden, nach der Haftentlassung auch die DDR zu verlassen, blieb mir in Bautzen noch reichlich ein Jahr Zeit, mich innerlich auf den Wechsel vorzubereiten. Ich habe dort ein wenig Französisch gelernt, über die Möglichkeit einer tieferen Annäherung zwischen Marxismus und Christentum nachgedacht und vor allem an einem (verlorengegangenen) Entwurf über Hintergrund und Horizont des historischen Kompromisses gearbeitet. Sollte es nicht möglich sein, die Anregung Berlinguers umzumünzen auf andere als die romanischen Verhältnisse, besonders natürlich auf die westdeutschen? 

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Wenn das Land nur zur Hälfte und auch auf andere Weise als Italien oder Spanien katholisch ist, können vielleicht die Erfahrungen des skandinavischen Eurokommunismus und Linkssozialismus spezifischer fruchtbar gemacht werden. Ich wußte bereits, daß sich die skandinavische Linke schon auf die "Milieubewegung", wie man dort sagt, eingelassen hatte.

Die Themen, die mich in diesem Zusammenhang bewegten, sind fast alle in dem letzten Teil der Alternative angelegt, wenigstens angedeutet — besonders in dem Kapital über "Bedingungen und Perspektiven der allgemeinen Emanzipation heute". Ich brauchte den Faden nur weiterzuspinnen. So kam ich, obwohl ich von den bundesdeutschen Grünen nicht mehr wußte, als daß sie existieren, zu einem politischen Schluß, der sich in der Form Sozialistische Linkspartei/Grüne Listen darstellte. Der Schrägstrich meinte ein Wahlbündnis. 

Jemand hatte mir erzählt, daß der CDU-Bundestagsabgeordnete Herbert Gruhl mit einem ökologischen Buch hervorgetreten, aus seiner Partei ausgeschieden ist und dazu bereit sein sollte, mit anderen Kräften zusammenzugehen, die die gleiche Gefahr erkannt hatten. Ich hielt sein Auftreten von vornherein für das Symptom einer weiter verbreiteten Stimmung und damit für die Möglichkeit einer neuen politischen Kombination.

Das innenpolitische Kräfteverhältnis in Westdeutschland, zwischen Rechtskonservativismus und Sozialreformismus, schien ja im großen und ganzen festzuliegen. Daran würde sich kaum etwas ändern, wenn es nicht gelänge, über die SPD hinwegzugreifen und in das Potential der CDU/CSU einzudringen. Wie der Schrägstrich zwischen den beiden Komponenten (der originär linkssozialistischen "rot-grünen" und der originär wertkonservativen, "grün-grünen") anzeigt, hatte ich aus der Ferne nicht damit gerechnet, die Kräfte könnten unmittelbar in einer Gruppierung zusammenkommen. 

So habe ich in dem Spiegel-Gespräch gleich nach der Ankunft auf die beharrlichen Fragen der beiden Journalisten erst einmal gesagt, daß die Kräfte vor dem Schrägstrich, also die Sozialisten links von der SPD, zusammenfinden müßten. Ein paar Stunden später erinnerte mich Willy Brandt an seine alte Erfahrung mit der Sozialistischen Arbeiterpartei in der Weimarer Republik und meinte im übrigen, das Problem der zersplitterten kleinen Gruppen würde sich als unlösbar erweisen... Ich dachte, wir wollen sehen, und ich denke es immer noch, obwohl in modifizierter Weise.

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Es gab inzwischen jene erste Sozialistische Konferenz.1) Dieses Potential muß seine gesamtgesellschaftliche produktive Rolle finden und daraufhin gründlich die bisherige psycho-ideologische Verfassung ändern. Ich glaube jetzt, dafür ist alles geeigneter als die Konstituierung zur abgesonderten, selbstbezogenen Partei. Die käme schwerlich aus dem linkshinteren Abseits im Windschatten der Sozialdemokratie heraus, bliebe gerade durch Ressentiment an sie gebunden. Ebenso unglücklich fände ich die dann wahrscheinliche Perspektive, auf dem von der reformistischen Hegemonie bestimmten Terrain um die "bessere" Gewerkschaftspolitik zu konkurrieren. 

Vor allem würde sie sich endlos um das pure sozialistische Programm streiten, wie es sich z.B. die Sozialistischen Studiengruppen allem Anschein nach wünschen: Sie halten schon wieder die Meßlatte bereit, auf der verzeichnet steht, was "sozialistische Positionen" sind — damit wir ja keine ewigen Wahrheiten loswerden. Eine linkssozialistische Partei wäre nichts als eine Ergänzung des bestehenden Parteienspektrums, stünde auf dem Boden seiner insgesamt veralteten Struktur. Sie würde auf der anderen Seite eine konservative Ökologenpartei zur Folge haben, die gleichfalls viel mehr im bestehenden System steckenbliebe. Last not least würde sie den überaus notwendigen Diskussionsfluß unter den Parteigrenzen hindurch, insbesondere (aber nicht nur) zur Sozialdemokratie, behindern.

Die ökologische Bewegung und die Grüne Partei sind deshalb von so großer Bedeutung für uns, weil sie als Katalysator für ein neues politisches Selbst­verständnis und Verhalten der Linken wirken. Der direkte Anstoß für mein Auftreten auf dem Vorbereitungskongreß der Grünen in Offenbach ging von Rudi Dutschke aus. Bei meiner Pressekonferenz im vorigen Oktober in Bonn hatte er mir von dem Bremer Wahlerfolg erzählt. Fazit: die ökologische Sache nicht in einer äußerlichen Verbindung von Linken und Wertkonservativen betreiben, sondern als eine Art linker Fraktion innerhalb der Grünen Partei. So verstand ich ihn jedenfalls, und sicherlich falsch, denn er hat ja eben nicht fraktionell gearbeitet und sich scharf gegen die de-facto-Obstruktion jener Genossen abgegrenzt, die sich als selbstberufene Kaderavantgarde vor den neuen Zug setzen wollten.

1) Die Sozialistische Konferenz tagte vom 2.-4. Mai 1980 in Kassel, um über das Thema Ökologie und Marxismus zu diskutieren. Mehr als 1200 Teilnehmer aus ziemlich allen Fraktionen der unabhängigen Linken nahmen an diesem Treffen teil, das auf eine Initiative Rudolf Bahros zurückging. Vorbereitungen für eine zweite Konferenz sind im Gange. (Anm. der Red.)

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Mir gefiel — zunächst eher gefühlsmäßig — gerade der Fraktionsgedanke nicht, und ich kam darauf, daß auch der Schrägstrich, den ich im Kopfe hatte, diesen fatalen Volksfrontbeigeschmack führt: Es kommt dann immer wieder Taktik, kleinster gemeinsamer Nenner heraus, bloß kein ideologischer Prozeß und Progreß auf beiden Seiten. Fraktionell arbeiten hieße innerhalb der Grünen — und leider lief es bisher weitgehend so —, das traditionelle Rechts-Links-Schema fortzeugen, dort in Abstimmungskämpfen immer mal wieder die andere "Klassenlinie" zurückdrängen. Auf diese Weise kann nur schwer etwas Neues herauskommen, weil man sich ja wechselseitig dauernd auf die jeweiligen Vorurteile, auf die geronnene eigene Vergangenheit und Beschränktheit zurückwirft. Die Sache, für die man zusammengehen wollte, bleibt dabei größtenteils auf der Strecke. Wie oft haben die Kommunisten so ihre Partner müde gemacht. 

Nun saßen im vorigen Herbst die "grünen Grünen" schon mit den "roten Grünen" eines bestimmten Spektrums zusammen. Nur war die Atmosphäre denkbar schlecht. Sie war viel schlimmer als im Honigmond und in der Blütezeit irgendwelcher Volksfronten. Chaos und Hammelsprünge in Offenbach. So oder so: eine neue Volksfront jedenfalls war da nicht im Entstehen. Vielmehr schien es, als sollte hier — aber eher als Sketch denn als ernstes Drama — der Klassenkampf, der sonst in der Gesellschaft nicht tobt, nun tatsächlich im Saale, unter dem Dach dieser neuentstehenden Partei stattfinden. Niemand anders als die Linke hat dieses Spiel inzwischen von Parteitag zu Parteitag — Karlsruhe, Saarbrücken, Dortmund — prolongiert und die Sache damit zunächst nahezu zu Tode geritten, indem sie immer wieder die Reizworte ihrer Selbstidentifikation zu "Knackpunkten" erhob. Denn auf der "Gegenseite" hat nur ein schmaler Rand des vertretenen Spektrums keine Kompromißbereitschaft gezeigt; manche sind uns da an Geduld und Einsicht erheblich voraus. 

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Wer sich ernsthaft auf die Perspektive mit den Grünen einlassen will, muß bereit sein, über den eigenen Schatten zu springen. Wenn es wahr ist, daß Blockonfrontation und Kriegsgefahr, Nord-Süd-Konflikt und ökologische Krise übergreifen, was ist das dann für eine Konzeption, zuerst die nationale Vergangenheit zu Ende bewältigen, die überhängenden alten Kämpfe zu Ende fechten zu wollen? Es gibt eine objektive Zuordnung und Rangfolge der zu lösenden Probleme. Falls es nicht gelingt, rechtzeitig die Kräfte für eine vorbeugende Umgestaltung unserer ganzen Lebensweise zusammenzuführen, werden uns Resolutionen, die vor einem neuen Faschismus warnen, nicht vor dem Heraufkommen dessen bewahren, was vage damit angesprochen ist und mit der Distanzierung vom vergangenen Faschismus keineswegs abgefangen wird. 

Ich bin auch nicht sicher, ob uns unser Antifaschismus — Mittel der Auseinandersetzung mit einer Generation, deren Schicksal wir nicht gelebt haben — davor bewahrt, ebenso schuldig zu werden, wie alle jene, die damals "nichts gewußt" haben. Die Gesellschaft, in der wir leben, ist unter anderem Ursache dafür, daß bis zum Ende des Jahrhunderts mindestens 200 Millionen Menschen Hungers sterben werden. Ungeachtet der Tatsache, daß dies noch nicht an die Ursache heranführt, müßten wir, mit eigenem Beispiel vorangehend, zum Beispiel dafür kämpfen, daß die Menschen der reichen Länder ihren Verbrauch an Fleisch und anderen tierischen Produkten einschränken, weil unsere Veredlungs­produktion ein Vielfaches an Kalorien aus pflanzlicher Nahrung kostet.

Soweit unser verbaler Radikalismus die Konsensbildung für Erfordernisse dieser Art hindert, dürfen wir uns die Hände keineswegs in Unschuld waschen. Der wirkliche Maßstab liegt in der adäquaten Erkenntnis der historischen Prioritäten sowie in ihren Folgen für den Umgang mit der übrigen Gesellschaft und mit uns selbst.

Die ökologische Krise — das eben sieht man in der grünen Bewegung — berührt jetzt schon mehr Leute in ihren existentiellen Interessen als jeder andere Wider­spruch. Daß und wie ihre Lösung doch mit dem Kampf der übrigen sozialen Interessen zusammenhängt, kann um so schneller Allgemeingut werden, je enger der neue Diskussions­zusammenhang wird. 

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Es werden alle essentiell Engagierten begreifen, daß man die sozialen Realitäten nicht ausblenden kann. Sollte versucht werden, die ökologische Krise auf dem Rücken derer zu lösen, die schon ohnehin zu kurz kommen, würden gerade die Zunahme des Angstempfindens und die Verschärfung der Verteilungs­kämpfe die erforderlichen Schritte blockieren. Es dürfte der übergroßen Mehrheit der in der Sache Sensibilisierten einleuchten, daß wir schon deshalb einen Durchbruch zu mehr sozialer Gerechtigkeit und Sicherheit brauchen, um den Spielraum für die grundlegenden Veränderungen zu gewinnen, ohne die es keine Zukunft mehr gibt. Die Linke ihrerseits muß begreifen: die Perspektive hat sich so radikal verschoben, daß sie völlig andere Positionen beziehen muß, wenn sie das Parallelogramm der Kräfte günstig beeinflussen will. Beharrt sie auf den bisherigen Koordinaten und Kampfrichtungen, kann sie sich leicht selbst als Bestandteil jenes Blocks wiederfinden, der den bestehenden Zustand reproduziert. 

Selbst die grüne Linke ist noch nicht gegen diese Gefahr gefeit. Das ist nicht mehr bloß taktisches Versagen, wenn man in Dortmund, nachdem schon eine für den eigenen Standpunkt passable Wahlplattform verabschiedet worden ist, so "auf dem Boden des Programms von Saarbrücken steht" wie ein Hund einen mühsam eroberten Knochen festhält, mit Anti-Resolutionen Politik machen will und dem wichtigsten Repräsentanten des anderen Flügels den Platz in der Führung vorenthält. Solange wir stets noch so unseren kleinen Sieg haben müssen, beweisen wir, daß wir den Stellenwert der ökologischen Herausforderung doch noch nicht hinreichend verinnerlicht haben. Was nützt uns, vor allem, was nützt dem Land auf längere Sicht eine Zwei-, Drei- oder Vier-Prozent-Partei links hinter der SPD? Wollen wir mit einem jugendlichen Alternativ- und Protestpotential in einen neuen Engpaß marschieren, oder einen zugleich autonomen und integrierten Bestandteil der umfassenderen konstruktiven Kräfte bilden, die sich der Dekomposition und Selbstzerstörung unserer Zivilisation entgegenstellen?

Wenn wir weitermachen wollen wie bisher, müssen wir das lassen mit den Grünen. Wollen wir sie nicht länger stören! Lassen wir sie die bürgerliche Ökologen­partei machen, die die meisten von ihnen selber gar nicht wollen. Das wäre konsequent — in der Art konsequent wie so manche linke Option, mit dem Endergebnis einer Kräfteverschiebung gegen uns und gegen Veränderungen schlechthin. Dabei ahnen selbst die ihrer Herkunft und Mentalität nach bürgerlichsten und konservativsten Menschen, die sich der ökologischen Bewegung angeschlossen haben, oder daran denken, es zu tun, daß wir über den kapitalistischen Horizont unserer Wirtschaftsordnung hinaus müssen, und sind bereit, in eine andere Perspektive hineinzugehen. Anders ließe sich ihre Geduld auf den grünen Parteitagen gar nicht erklären. Gerade infolge ihrer — wie manche meinen — "ökologischen Einseitigkeit" sind sie viel eher als andere bereit, etwas hinter sich zu lassen. Besitzen wir oder besitzen wir nicht den gleichen Mut, die gleiche Fähigkeit?

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Nachsatz

Diese Vorbemerkung und auch die Betrachtung am Schluß des Büchleins sind im Sommer entworfen worden. Viel Wesentliches finde ich jetzt, im Spätherbst, nicht hinzuzufügen. Vor der Wahl und nach der Wahl — der 5. Oktober war und ist kein historisches Datum. Ich konstatiere einfach, was immerhin abzulesen ist.

Der Antritt des Unionskandidaten war nicht umsonst: Er hat die bestehende politische Struktur gegen die Möglichkeit einer Veränderung, gegen einen ersten Einbruch des in der Gesellschaft anwachsenden Problem­bewußtseins in die offizielle Sphäre abgesichert. Aber signifikanter als seine Niederlage erscheint mir der Zählerfolg der FDP, der den Grundstock an allgemeinem Systemkonservatismus in der Bevölkerung sehen läßt.

Der Stimmenzuwachs galt gewiß mehr dem Erhalt des etablierten Dreiparteiensystems, das für den Geist der ersten dreißig Nachkriegsjahre steht, als der einen Partei, die halt sein schwächstes Glied ist. Insofern hatten es die gelben Plakate klar getroffen: Den Leuten ging's tatsächlich um dies Ganze. Diese systemkonservative Stimmung liegt hierzulande so sehr in der Luft, daß selbst ein Neuhinzugekommener wie ich sofort nach den knapp 5 % der Liberalen in der Nordrhein-Westfalen-Wahl sicher sein konnte, sie würden sich nun um den Herbst kaum mehr zu sorgen brauchen. 

Was sich diesbezüglich in der Mitte abspielte, hat links davon sein genaues Pendant in jener ebenso auf den Status quo fixierten und fixierbaren Mentalität, die sich unfähig zeigt, eine fundamentalere Alternative als Strauß oder Nicht-Strauß zu denken. Wenn Politik Aktion, Intervention, Initiative sein soll — die Linke innerhalb wie außerhalb des SPD hatte keine. Was für eine politische Psychologie, gegen die Ängste, auf die der Gegner spekuliert, nichts als andere Ängste mobil zu machen! Programm: etwas verhindern. "Wir müssen wissen, daß wir in der Defensive sind", beschwor soeben Wolfgang Abendroth. Ja, gewiß, vor allem aber konzeptionslos, nachdem unsere alten Rezepte nichts mehr versprechen. 

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Der anachronistische Zug war ja wohl trotz mancher Einfälle im einzelnen vor allem selbst auch ein Stück weit anachronistisch, von der Ungenauigkeit zu schweigen. Den Spielraum, um zwischen den Sozialliberalen und Strauß etwas Neues zu versuchen, hat es offensichtlich gegeben. Wer Augen zum Sehen und Ohren zum Hören hatte, konnte die 45%-Marke des Kandidaten abschätzen. Ich glaube nicht, daß die tapferen Genossen anders votiert hätten bei doppelt so großem Manövrierfeld. Der Bayer war wohl der Wunschgegner nicht nur des Ersten Angestellten im Bund (den die allerklügsten Rechner unter uns so gern mit der absoluten Mehrheit geschlagen gesehen hätten — ach, die großen Möglichkeiten für das Flügelspiel in der Arbeiterpartei!). Man kann nicht sagen, daß sich die Linke weigerte, die bewährten Spiele mitzuspielen.

Ich hatte mit 3 statt der 1,5 Prozent für die Grünen gerechnet.* Der Unterschied wäre nicht prinzipieller Natur, aber wichtig genug gewesen. Wenn man hört, wer sich so alles für links hält, dann hätte die Linke allein die an 5% fehlenden anderthalb Millionen Stimmen aufbieten können. Nirgends sonst als hier hätten sie einen positiven Sinn gehabt. Da das, was auf der anderen Seite des Feldes fehlt, wie weiter oben schon mal angedeutet, auch ziemlich viel mit uns zu tun hat, muß man wohl sagen, namens der Verantwortlichkeit, die Linke doch für sich in Anspruch nehmen, die vertane Chance geht auf das Konto dort unseres Defätismus, hier unserer Unreife. Natürlich ist beides mehr als bloß subjektiv bedingt. 

Insbesondere wären die Querelen bei den Grünen kaum ganz vermeidbar gewesen. Übrigens hat der Wahlantritt nach meinen Erfahrungen bei den Diskussions­veranstaltungen mehr Einstellungsänderung in der Sache bewirkt, als an dem Zählergebnis ablesbar ist. Es war stets eine nachdenkliche Atmosphäre. Wer über den Protestwählerkreis hinaus diesmal seine Stimme für die Idee einer Gesamtalternative abgegeben hat, der mußte immerhin zu dem weitgehenden Schluß gekommen sein, daß die Antwort auf die Herausforderung der ökologischen Krise wichtiger als alle Variationen innerhalb des gewohnten politischen Spektrums ist. Dazu muß die Akkumulation an Betroffenheit und Einsicht des einzelnen erst einen kritischen Pegel überschreiten, so etwas wie eine 50%-Hürde in seinem Kopf. Das ist ein psychologischer Prozeß, der Zeit braucht, dem es aber nicht an Nahrung fehlen wird.

Noch ist das Experiment mit der Grünen Partei keineswegs gescheitert. Ob sie in der gegebenen Gestalt tragfähig genug werden kann, wird sich in den nächsten zwei, drei Jahren entscheiden. Sicher muß sie zunächst etwas zurückgenommen werden, vom Bund mehr in die Länder, von dort mehr in die Kreise, zurück an die Basis, dorthin, wo die ökologische Bewegung lebt. 

Sie lebt vor allem in jenen Bürgerinitiativen, in denen die Aktivität der Betroffenen die Dämme der überkommenen Parteiprofile überschwemmt, erst recht also die Schranken zwischen Ökologen verschiedener Tradition relativiert. Zugleich gilt es, die Inhalte ökologischer Politik stimmiger und treffsicherer herauszuarbeiten (linke Theoretiker verschiedenster Gebiete, die etwas auf sich halten, sollten zu immanenter Kritik übergehen, Vorschläge machen). 

Vor allem muß die auf einen weiteren als den lokalen Horizont zielende politische Aktivität bewahrt und qualifiziert werden. Wer nicht so "autonom" denkt, daß er meint, das politische System gänzlich ignorieren zu können, weiß, daß die ökologische Bewegung in all der Vielfalt, die man unter diesem Namen fassen kann, auch auf der politischen Ebene — u.a. Massenmedien, Justiz, Verwaltung — eingreifen muß, und natürlich viel effektiver als bisher. Die geeignete Organisationsform wird so oder so gefunden werden.

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* (d-2009:) 1990 bei der der letzten Volkskammerwahl hatte ich mit 30% für <Bündnis 90> gerechnet - gekriegt haben wir 2,9 + 2,0 (Grüne)   
     wikipedia  Volkskammerwahl_1990  

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