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"Die menschliche Herausforderung, der Bahro sich gestellt hat."

 Helmut Gollwitzer an Wolfgang Abendroth (1978)

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Lieber Herr Abendroth,

Eben las ich Ihre Rezension der <Alternative> in <Das Argument>*.  Es ist vielleicht das erste Mal, daß ich einen Text aus Ihrer Feder (wie immer begierig nach ihm greifend) enttäuscht zu Ende las. Was ich für das Wichtigste an Bahros Buch halte, fand ich bei Ihnen so wenig herausgestellt und diskutiert wie in den meisten anderen Anzeigen und Kritiken. Deshalb möchte ich das skizzieren — mit der Frage, ob ich dafür nicht doch Ihre Zustimmung finden kann.

  wikip Das Argument : Zeitschrift (ab 1959) im Februar 1978 (S. 60-66)    wikipedia  Abendroth  1906-1985    detopia  Gollwitzer  1908-1993     wikipedia  Apologetik  Rechtfertigung 

Daß Sie Bahros Verhaftung als «falsch und verhängnisvoll» bezeichnen, hatte ich nicht anders erwartet. Das ist das Moralische, das sich von selbst versteht. Was sich von selbst versteht, ist heutzutage leider nicht selbstverständlich, wie man an einigen Reaktionen auf den Fall Bahro bei Leuten finden kann, die nichts gegen diese Verhaftung, nur sehr viel gegen die Repression in unserem westlichen Bereich einzuwenden haben. 

Weil die sozialistische Entscheidung immer auch eine moralische Entscheidung ist, deshalb bleibt moralische Unempfindlichkeit nicht ohne Folgen für das intellektuelle Niveau: wo das moralische Niveau unterschritten wird, pflegt das - jedenfalls in Sachen des Sozialismus - beim intellektuellen Niveau ebenso zu sein. Das beweist sich an den erwähnten Kritikern Bahros.

Was mich aber an Ihrer Kritik nicht befriedigt hat, ist ein gewisser apologetischer Charakter, der ihr eigen ist, oder viel mehr Ihre Selbstbeschränkung aufs Apologetische. Apologetik kann nötig sein, wo unberechtigte Beschuldigungen abgewehrt werden müssen. Die westliche Pauschalkritik des Sowjet­kommunismus macht immer wieder nötig, für ein historisch gerechteres Bild der östlich-sozialistischen Staaten zu plädieren. Weil aber Bahros Buch im Westen weithin nur als weitere Munition für diese Pauschalkritik begrüßt wurde, haben Sie es für nötig gehalten, die Zwänge, unter denen die sowjetische Entwicklung samt der Entwicklung der DDR gestanden hat und steht, gegen Bahro hervorzuheben. 

Dadurch ist unverhältnismäßig zurückgetreten, was auch Sie im Vorübergehen als «richtig und verdienstvoll» bezeichnen, und der Eindruck bleibt erhalten, die Hauptbedeutung von Bahros Buch bestehe in der Entschleierung und Kritik des repressiven Funktionärsapparats der sowjetkommunistischen Staaten und des damit gegebenen Abstands von einer sozialistischen Gesellschaft, die ihren Namen verdient. Träfe das zu, dann hätte Bahro nicht mehr getan, als die Kritik sozialistischer Dissidenten wie Havemann und Medwedjew durch die Beobachtungen eines Insiders des Apparats zu ergänzen.


Nach meinem Eindruck geht die Bedeutung von Bahros Buch weit darüber hinaus, und eben darin liegt seine Wichtigkeit für eine sozialistische Theorie, die unserer Situation angemessen ist und die für eine heutige sozialistische Strategie unerläßlich ist. Eben darin liegt also derjenige Wert des Buches, den sich auch diejenigen, die seiner Kritik verfallen — also diejenigen, die ihn jetzt einsperren —, nicht entgehen lassen sollten, wenn sie denn überhaupt noch an einer Weiterentwicklung des realen Sozialismus interessiert sind und das kommunistische Ziel nicht in die Traumwelt abgeschoben haben.

Denn genau darin, dieses Ziel wieder in die «konkrete Denkbarkeit» (so auf der vorletzten Seite) herunterzuholen, geht es in diesem Buch. Ich bin nicht Spezialist für marxistische Literatur, aber es kann für marxistische Theoriearbeiter vielleicht doch bezeichnend sein, wenn ein Interessent wie ich Ihnen sagen muß, er habe die «konkrete Denkbarkeit» des Weges zu einer kommunistischen Gesellschaft lange nicht so vorgeführt bekommen wie hier — immerhin doch auch als menschliche Stärkung in solchen Depressionszeiten nicht zu unterschätzen!

Bevor ich auf diesen mir wichtigsten Aspekt zu sprechen komme, möchte ich noch auf einen anderen hinweisen, der Bahros Kritik des «real existierenden Sozialismus» über die bisherige Diskussion darüber, wie dessen Deformationen zu erklären und zu kategorisieren seien, hinaushebt. Bahro verspricht, für diese Deformationen eine historisch-materialistische Erklärung zu geben. 

Sie haben recht: in diesem Eifer vernachlässigt er tatsächlich zu sehr die kontingenten Faktoren — zwar nicht den Zwang zur Rüstung, den er mindestens erwähnt (S. 393) — wohl aber zum Beispiel die westlichen Interventionen von 1917 bis 1940 und die — trotz Plechanow — mindestens für diese kurze Periode eines halben Jahrhunderts gravierende Bedeutung von Persönlichkeiten wie Stalin und Hitler. 

detopia-2015:  Plechanow

Aber warum vernachlässigt er das?  

Doch nicht, um statt dessen die Partei und ihre Führung mit den Anklagen zu bedenken, die diese wahrhaftig verdienen, sondern im Gegenteil, um aus gesetz­mäßigen Faktoren den Abstand zwischen sozialistischem Sollen und Sein zu erklären. Ähnlich wie schon Oskar Rühle und andere ist er überzeugt, daß sich die kapitalistische Phase nicht so überspringen läßt, wie Lenin gehofft hatte. 

«Man muß keineswegs fatalistische Neigungen haben, um einer solchen Auskunft [der verschiedenen Deformationstheorien, die die Schuld bei den handelnden Persönlichkeiten suchen --Goll.] zu mißtrauen» (S. 136), und er scheut den Verdacht des Fatalismus so wenig wie ihren «apologetischen Anschein» (S. 163 — nämlich der Entlastung Stalins und der Partei), um der historischen Zwangsläufigkeit der sowjetischen Entwicklung nachzuspüren. 

Man könnte Bahro dem deterministischen Flügel des Marxismus zurechnen, ginge es ihm um eine geschichtsphilosophische These und nicht um die Aufspürung der Ursachen in praktischer Absicht der Veränderung, also der Brechung dieser Zwangsläufigkeit.

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Um hinter diese Ursachen zu kommen, muß er die Einlinigkeit verlassen, mit der popularisierter Marxismus die Geschichte der Menschheit europazentrisch periodisiert hat. Marx' Hinweise auf die «asiatische Produktions­weise» sind ihm dafür ebenso nützlich wie Rudi Dutschke für dessen Lenin-Buch. 

Die indische wie die lateinamerikanische Diskussion um die Adaption der marxistischen Methode auf die dortigen Besonderheiten der ökonomischen und kulturellen Entwicklung zeigt, daß wir heute, wo alles global zusammenhängt, uns von dieser Diskussion nicht dispensieren, bei unserer Einlinigkeit nicht verharren können. Das ist nötig sowohl wegen der heutigen revolutionären Umwälzung der «Dritten Welt», die so überraschende, nicht nur, aber auch erschreckende, weil extrem terroristische (Kambodscha, Äthiopien!) Adaptionen des Marxismus hervorbringt, als auch deshalb, weil diejenige terroristische Adaption, die die Geschichte des europäischen Sozialismus so tiefgreifend bestimmt hat, die Stalinsche, nur durch Heranziehung des «nichtkapitalistischen Weges» zu erklären ist. 

Was Bahro darüber im ersten Teil schreibt, könnte natürlich ergänzt werden durch die in jener außereuropäischen Marxismus-Diskussion vorgebrachten Beobachtungen, die ihm vermutlich unbekannt geblieben sind, ist aber auch ohnedies ein historisch-materialistischer Abriß desjenigen Zweigs der Menschheitsgeschichte, der nicht zum euroamerikanischen Kapitalismus geführt hat, sondern diesen nur durch den Kolonialismus aufgepfropft bekam, aus sich aber die Form der ökonomisch-politischen Despotie entwickelte, ohne die individualisierenden Grundeigentums- und Sklavereiverhältnisse unserer Antike und unseres Mittelalters. 

In Rußland, dem Zwischenglied zwischen Europa und Asien, stießen die beiden Entwicklungen aufeinander und verbanden sich, und zwar vollends in der Phase, von der Lenin, auf die europäische Revolution hoffend, sich die emanzipierende Europäisierung Rußlands versprochen hatte, in der sowjetischen.

Das mag im einzelnen noch korrektur- und ergänzungsbedürftig sein; dennoch bleibt, so scheint mir, dieser Abriß eine meisterhafte Leistung, ein Beweis für die Fruchtbarkeit der historisch-materialistischen Methode, gerade wenn man sie von den europazentrischen Scheuklappen, von denen ihre Anwendung oft und immer noch beengt ist, befreit; und fruchtbar ist sie ebensowohl zum Verständnis der sozialistischen Bewegungen und Erscheinungsformen in der «Dritten Welt» wie auch zum Verständnis unseres europäischen «real existierenden Sozialismus», in dessen durch nichteuropäische Voraussetzungen bedingte sowjetische Erscheinungsform nun auch die anderen osteuropäischen Völker mit ihren europäischen Voraussetzungen hineingezogen worden sind. 

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Der DDR-Bürger Bahro ist an der Spannung interessiert, die zwischen so unterschiedlichen Voraussetzungen und gleicher heutiger Gesellschaftsgestalt entstehen muß. Hätte er die Muße zu universalen Studien gehabt wie Marx im Britischen Museum, zu einem ruhigen Ausspinnen der Gedanken, dann hätte er die daraus entstehenden Differenzen zwischen der Sowjetunion und den anderen Staaten des Warschauer Pakts vielleicht genauer entfaltet, vielleicht daraus gar eine historische Mission dieser anderen Staaten für die Entwicklung des Sowjetkommunismus, der ihnen zum Schicksal geworden ist, aufgezeigt. Er hatte die Muße nicht, weil er in jetziger, praktischer Absicht schrieb. Aber das mindert seine theoretische Leistung nicht, die meines Erachtens weit über die bisherigen Analysen der Sowjetgeschichte, etwa von Ernest Mandel und Jean Elleinstein, so verdienstvoll diese sind, hinausführt.

 

Nun dient all dies dem Zweck einer (wie Sie sagen) «Strategie der Umformung der DDR [und natürlich nicht nur dieser; H.G] in eine voll entwickelte kommunistische Gesellschaft», und eben hierin sehe ich, wie gesagt, die Hauptbedeutung und die eigentliche Herausforderung dieses Buches für heutige marxistische Theoriebildung.

Die kommunistische Zielsetzung wird hier endlich einmal wieder ernst genommen, wird aus dem Himmel der Ideale heruntergeholt in «konkrete Denkbarkeit»; den schon erreichten Verhältnissen wird die Melodie ihrer Möglichkeiten vorgesungen, und diese wird zum Kriterium der Kritik — zu einem Kriterium, dem keiner sich entziehen kann, dem es um das Ziel des Sozialismus noch ernst ist.

Wer Bahro als einen Träumer der roten Blume abtut, beweist nur seinen Zynismus, der seinen Sozialismus schon zersetzt hat.

Das Ziel als eine nicht «utopische», sondern irdisch realisierbare Denkbarkeit durchzusetzen und die Stufen dahin zu analysieren, ist in der heutigen Situation von großer Wichtigkeit.

Denn die Resignation, mit der wir es ins Schlecht-Utopische abschieben, widerspricht nicht nur dem sozialistischen Ansatz; sie widerspricht auch dem, was in der heutigen Menschheitsgefährdung nötig ist.

Wir haben die Alternative <Sozialismus oder Barbarei>, von der die Klassiker sprachen, ja nicht mehr nur vor uns, wir stecken schon tief in der Barbarei drin, und keiner weiß, ob wir aus ihr herausfinden werden.

Der Ausweg wird aber nur erreicht werden, wenn wir nicht in der skeptischen Bescheidenheit verharren, in der wir, wie wir es heute ja zunächst müssen, reformistisch arbeiten, sondern wenn zugleich unsere Zielsetzung so radikal ist wie unsere Kritik der Barbarei. Erst dann entsprechen wir den durch die Entwicklung der Produktivkräfte heute und morgen schon gegebenen Möglichkeiten, deren Realisierung der Ausweg ist, den wir finden müssen. 

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Überleben der Menschheit ist nicht möglich, wenn damit nur das Gelingen des Dahinvegetierens in der Barbarei gemeint ist; es ist nur möglich, wenn die Bedingungen der Barbarei überwunden werden. Es ist als solches schon identisch mit dem Ziel einer nicht mehr in partikularistische Interessen zerrissenen, einer freien und solidarischen Gesellschaft. Billiger, mit einem bescheideneren Ziel, wird nicht einmal das bloße Überleben zu schaffen sein.

Ich zitiere einen nichtmarxistischen Denker, der das überzeugend begründet hat: 

«Die Zukunft der Freiheit wird zur Frage an den Menschen: Vermag er eine neue Qualität des Lebens zu erobern, die ihm diese Freiheit schenkt, oder ist das Defizit an Freiheit zugleich das Signal für das endgültige Defizit an Zukunft? Sollte das letzte der Fall sein, so ist das Schicksal des Menschen besiegelt. An dieser Stelle wird deutlich, daß in der Frage nach dem Überleben in der Industrie­gesellschaft die Frage nach der Freiheit des Menschen enthalten ist. Wer Überleben will, der muß Überleben für alle wollen, und wer Überleben für alle will, der muß Freiheit für alle wollen»

(Klaus Müller: <Die präparierte Zeit: Der Mensch in der Krise seiner eigenen Zielsetzungen>, Stuttgart 1972, S. 122).

 

1972, 666 Seiten

Das ist die menschheitliche Herausforderung, der Bahro sich gestellt hat, und zwar, wie ich meine, entschlossener als viele andere Marxisten; denn von ihnen haben sich viele schon abgefunden mit der unaufhebbaren Konstanz heutiger gesellschaftlicher Verkehrsformen — des Geldes, der Spezialisierung, der vertikalen Gliederung der Gesellschaft usf. —, unvermeidlich alles Formen der Unfreiheit und Ungleichheit. 

Bahro setzt demgegenüber am schwierigsten Punkt ein, bei der Arbeitsteilung, und nimmt damit ernst, daß Marx der Aufhebung der Arbeitsteilung die entscheidende revolutionäre Bedeutung zugewiesen hat. Wie soll sie aber durch die Entwicklung der Produktivkräfte möglich werden, wenn genau diese Entwicklung eine hochgradige Spezialisierung zu ihrer dauernden Bedingung hat? 

Ich kann mich nicht erinnern, darüber so eingehende, Rationalität und Phantasie verbindende Überlegungen irgendwo in der heutigen marxistischen Literatur gelesen zu haben (am ehesten noch bei Andre Gorz, aber auch dort doch mehr in aphoristischer Form), und eben dies dürfte ein Zeichen der Resignation sein, die mit dem verpönten «Ausmalen» der Zukunftsgesellschaft auch noch das nötige Denken der Möglichkeits­bedingungen dieses Ziels und der Schritte zu ihm unterläßt.

Resignation ist der Feind des Sozialismus und führt notwendig in den Reformismus, in dem man auch dann stecken kann, wenn man ihn bei anderen denunziert.

Der Anschein der Unaufhebbarkeit der Arbeitsteilung als einer Bedingung für alle höhere Kultur war immer das große Argument gegen die Realisierbarkeit einer kommunistischen Gesellschaft. Es schöpfte seine Kraft aus der natürlichen Ungleichheit der Menschen nach Individualität, Begabung, Charakter, physischer und psychischer Ausrüstung und Lebensalter und verband sich mit der Notwendigkeit immer weitergehender Spezialisierung in einer hochindus­trialisierten Gesellschaft mit Wissenschaft als Produktivkraft. 

* (d-2014:)  A.Gorz bei detopia 

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Ideologische Bedeutung bekam das Argument zur Rechtfertigung der vertikalen Arbeitsteilung in manuelle und geistige Arbeit in Gemeinwissen und Führungs­wissen, und zur Rechtfertigung der damit gekoppelten unterschiedlichen Aneignung der Produkte, zur Belohnung der Vorzüge (ob der Geburt oder der Leistungen) durch materielle Vorteile, kurz der Unaufhebbarkeit von Herrschaft und Ausbeutung. 

Ob eine sozialistische Leistungsgesellschaft («Jeder nach seinen Fähigkeiten...») mit ihren bleibenden Inhumanitäten (Leistungsdruck und Konkurrenz, Vorrechte der Stärkeren usw.) das höchste aller Gefühle sein müsse, ob kommunistische Gesellschaft irdisch real als eine Gesellschaft nicht von Engeln, sondern von sterblichen, fehlbaren, immer noch reichlich egoistischen Menschen möglich sei und welche Schritte in den Obergangsphasen getan werden müssen, damit die Entwicklung wirklich dahin führe — das müßte, sollte man meinen, ein Hauptthema marxistischer Theoriearbeit sein. 

Hier liegt die — leider einsame — Bedeutung von Bahros Buch, und seine Einsamkeit mag sehr wohl ideologisch enthüllbar sein: das eigene Interesse drängt weder die marxistischen Intellektuellen im Westen noch die Theoriebeauftragten im Osten auf dieses Thema, hält sie eher davon ab.

Bahro sagt selbst von diesem wichtigsten Teil 3, er «stellt die schwierigste Aufgabe dar und wird den ungesichertsten und lückenhaftesten Text liefern» (S. 299). Er trifft genau mit dem eben zitierten Klaus Müller zusammen, wenn Bahro das kommunistische Ziel mit der «Forderung des Überlebens» gleichsetzt:

«Die allgemeine Emanzipation ist heute die absolute Notwendigkeit, weil wir in dem blinden Spiel der subalternen Egoismen, in der Unsolidarität, dem Antagonismus der atomisierten, entfremdeten Individuen, Gruppen, Völker, Konglomerate aller Art immer schneller dem Punkt zueilen, von dem es keine Wiederkehr im Guten mehr gibt. Das muß man wissen, ehe man fragt, wie sie möglich sei». (S. 300)

Ich kann mich, von christlichen Voraussetzungen her auf dem Wege nationaler Überlegungen zum gleichen Ergebnis kommend, nur freuen, wenn er in dieser Perspektive feststellt: «Im Kampf gegen die Herrschaft der Verdinglichung ist die Tradition, die sich auf die Bergpredigt Christi beruft, ein unverzichtbarer Verbündeter» (S. 446). Daß er zugleich das bisherige Verständnis des materiellen «Überflusses» der kommunistischen Gesellschaft vom Quantitativen zum Qualitativen korrigiert, wie es angesichts der heutigen Wachstumsproblematik nötig ist (S. 484 f), sei ebenfalls notiert.

Bahros Skizze der zum Überleben nötigen «Kulturrevolution» ist eingestandenermaßen ein Versuch zu einer ersten Ausfüllung der klaffenden Lücke heutiger marxistischer Theoriearbeit. Sein intellektueller Mut, nicht geringer als sein existentieller Mut, sollte ihm honoriert werden mit einer Kritik, die weiterführt, statt dieses Vortasten in «utopisches» Neuland abzublocken. 

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Deshalb ist meines Erachtens die Beschäftigung mit Bahros Teil III wichtiger als die mit seinem Teil II, der den «real existierenden Sozialismus» kritisiert. Daß aber dieser Vorstoß gerade von einem in der Aufbauarbeit seines Staates erfahrenen, diesem Staat und seinen Zielsetzungen treuen Bürger der DDR gemacht wird, dürfte kein Zufall sein. Der Grund dafür dürfte nicht nur in der Erfahrung des Abstands der Empirie vom sozialistischen Anspruch liegen, die sich bis zur Anklage des Verrats steigert und einen Ausweg in der Idee eines neuen «Bundes der Kommunisten» sucht, bei dem nicht nur die Organisierbarkeit unwahrscheinlich ist, sondern bei dessen «Führungsanspruch», wie Sie mit Recht andeuten, wohl immer noch die Suggestion des alten Parteidenkens nachwirkt. 

Ein wichtiger Grund könnte zu erwägen sein: 

Bahro will die Staaten des «real existierenden Sozialismus» und ihre tragenden Schichten bei der menschheitlichen Aufgabe fassen, die ihnen in der heutigen Situation zufällt: Die «ökonomisch-politische Despotie» könnte eine Möglichkeit enthalten, die im kapitalistischen Teil der Welt mit dessen realen Antagonismen und dessen Ideologie, die den Fortschritt aus der Summierung von Millionen Egoismen verspricht, nicht gegeben ist. 

In den sich sozialistisch nennenden Staaten ist der privatkapitalistische Widerspruch gegen einen Fortschritt der Gleichheit aufgehoben; die Staatsmacht kann, wenn sie will (hier natürlich liegt das objektive und subjektive Problem, das Bahro mit seinem «Bund der Kommunisten» nicht zu bewältigen vermag und an dem vorerst wohl jeder sich die Zähne ausbeißt!) die Schritte zur Überwindung der vertikalen Arbeitsteilung steuern (welche zugleich Schritte zu ihrer graduellen Selbstentmächtigung wären!); die Bildungseinrichtungen schaffen eine Potenz von «überschüssigem Bewußtsein»; die offiziell gelehrte Ideologie, wenn auch oft noch so sehr auf dem Papier und immer wieder zur Heuchelei entartet, weist in die richtige Richtung und schafft eine Bevölkerung, die diese Richtung bejaht, statt ihr entgegenzustehen. 

Insofern läßt sich Bahros Buch sowohl als eine Kritik als auch als eine Apologie der Staaten des «realen Sozialismus» lesen, und eben deshalb taugt es nicht zur antikommunistischen Munition und wird darum nach erster Sensation des «Falls» von westlichen Massenmedien, Politikern und leider auch Gewerk­schaften mit bezeichnender Zurückhaltung behandelt.

Ich schreibe dies in der Vermutung, es werde bei Ihnen auf Verständnis, ja Zustimmung stoßen und Sie könnten dies mehr als eine Ergänzung denn als eine Kritik Ihrer Rezension ansehen, und schließe mit dem Dank für alles, was ich von Ihnen gelernt habe.

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Ihr Helmut Gollwitzer 

 

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