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Gerhard Schröder  

Hannover, Bundesvorsitzender der Jungsozialisten, Rechtsanwalt von Horst Mahler

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    G. Schröder bei detopia     wikipedia  Horst Mahler  

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9-23

Es geht hier auf diesem Kongreß um inhaltlich begründete Solidarität mit Rudolf Bahro. Ich meine, daß diese Solidarität sich sowohl gegenüber denjenigen abgrenzt, die seinen Namen als Schlaginstrument gegen eine inhaltlich ausgefüllte Entspannungspolitik benutzen wollen, wie auch gegenüber denjenigen Dogmatikern, die Kritik an den nachkapitalistischen Gesellschaften von vornherein für konterrevolutionär halten und dort, wo sie die Macht haben, die Kritik entsprechend unterdrücken.

Ich meine, dies ist in dem Entwurf der Abschlußresolution deutlich ausgedrückt. Ich kann bereits hier sagen, daß ich dieser Abschlußresolution nicht nur für mich, sondern auch für die Organisation, die ich vertrete, zustimmen kann.

Es geht aber auch darum, daß ich hier nicht nur als jemand spreche, der für eine politische Organisation Stellung bezieht, sondern auch als Rechtsanwalt von Horst Mahler. Ich möchte deshalb einige Bemerkungen über jemanden machen, der als Gast dieses Kongresses eingeladen war und zum Ergebnis des Kongresses beitragen sollte und auch wollte. Ich kann mitteilen, daß Horst Mahler nicht kommen wird. Er ist seit heute morgen um 11.00 Uhr, freiwillig - wie nicht anders zu erwarten - in die Haftanstalt Tegel zurückgegangen.

Ich möchte einige Punkte, die in den vergangenen Tagen in der Presse diskutiert worden sind, richtigstellen. Mir scheint, dieser Kongreß ist der richtige Ort hierfür. Horst Mahler hat Hafturlaub erhalten, weniger als ihm zustand, aber er hat ihn erhalten. So ist es im Strafvollzugsgesetz vorgeschrieben. 

Diejenigen, die ihm diesen Hafturlaub verwehren wollten, waren bereit, den Vollzug der von ihnen selbst erlassenen Gesetze durch Opportunismus zu verunmöglichen. 

Ich bin deswegen dankbar - und glaube dies hier feststellen zu müssen -, daß ein rechtsstaatlich denkender Justizsenator, der der Freien Demokratischen Partei angehört, sich an den Inhalt der eigenen Gesetze erinnert hat und eine rechtsstaatlich begründete, von der Person Horst Mahlers abstrahierende Entscheidung getroffen hat. Alles andere, was dagegen vorgebracht wurde, ist juristische Klippschule.

Zum Schluß möchte ich den Kongreß bitten, nicht spektakulär, aber beharrlich dafür zu sorgen, daß die legalen Möglichkeiten, die es gibt und die beantragt sind, um Horst Mahler nach acht Jahren Freiheitsentzug ein Leben in Freiheit zu ermöglichen, durchzusetzen. Wenn dies ein Moment der Arbeit dieses Kongresses hier werden könnte, so wäre dies zu begrüßen.

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Prof. Dr. Ossip Flechtheim  

Vizepräsident der <Internationalen Liga für Menschenrechte> 

und Mitglied des <Schutzkomitees Freiheit und Sozialismus> 

 

Ich begrüße diesen Kongreß auch im Namen der Internationalen Liga für Menschenrechte/Sektion Berlin. Die Liga hat stets und überall für die Einhaltung der Menschenrechte gekämpft. Sie verurteilt jede Verletzung der Grund- und Bürgerrechte in der Bundesrepublik wie in der DDR, im Osten wie im Westen, im Norden wie im Süden, Wenn wir uns in Westdeutschland insbesondere auch gegen den sogenannten Radikalenerlaß wenden, so erst recht gegen die Inhaftierung von politischen Dissidenten in der Deutschen Demokratischen Republik.

Die Liga wird in diesem Jahr zum Tag der Menschenrechte Rudolf Bahro die Carl-von-Ossietzky-Medaille verleihen. Die Parallele zwischen Ossietzky und Bahro liegt auf der Hand: Beide sind mutige und kluge Streiter gegen die etablierten Gewalten und für die Rechte des Individuums. Ossietzky wurde von den Nationalsozialisten zu Tode gefoltert. Wir haben mit Erleichterung gehört, daß die Haftbedingungen von Bahro einigermaßen menschlich sein sollen. Vergessen wir aber nicht, daß auch schon von Ossietzky von den reaktionären Richtern der Weimarer Republik in den Kerker geworfen wurde.

Ich selber begrüße es sehr, daß unser neuer Justizsenator Meyer gegen vielfältigen Widerstand den Mut aufgebracht hat, Horst Mahler Hafturlaub zu gewähren. Es wäre nicht ein Zeichen der Schwäche, sondern der Stärke, wenn die Regierung der DDR diesem Beispiel folgen und Rudolf Bahro Hafturlaub zwecks Entgegennahme der Carl-von-Ossietzky-Medaille gewähren würde. Wir wissen, daß Rudolf Bahro in der DDR bleiben will — er wird also sicherlich aus dem Urlaub wieder in sein "Heimatgefängnis" zurückkehren! 

* (d-2010:)  Flechtheim bei detopia      wikipedia  Schutzkomitee_Freiheit_und_Sozialismus 

11/12

Bei dieser Gelegenheit möchte ich noch ein Wort zum Verhältnis der beiden deutschen Staaten sagen. Wir müssen für Entspannung eintreten, für die Verbesserung der Beziehungen, für den Ausbau der Verkehrswege, wie er jetzt erfreulicherweise stattfindet. Erst auf dieser Basis können wir um so entschiedener als Bürger und Bürgerorganisationen für die Verwirklichung der Freiheitsrechte hier wie drüben eintreten. Erst dann eröffnet sich die Perspektive eines Dritten Weges jenseits der etablierten Gesellschaftssysteme in Richtung auf eine Synthese von Demokratie und Sozialismus. Alle diejenigen, die hierfür eintreten, müssen sich enger zusammenschließen.

Dieser Kongreß ist also nicht nur ein beachtlicher Versuch, die Befreiung Bahros durchzusetzen, sondern darüber hinaus ein Ansatz für die Bildung einer neuen Dritten Kraft, die von links bis in die Mitte hinein reichen sollte. Die Teilnahme von Euro-Kommunisten ist dabei ganz besonders erfreulich. Es scheint mir, daß sie bereits auf dem Wege sind, zusammen mit uns ein neues Europa zu schaffen, das sich sowohl von dem Kapitalismus Washingtons wie dem Etatismus Moskaus (und Pekings!) unterscheiden sollte. (...) 

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Werner Vitt 

(Stellvertretender Vorsitzender der IG Chemie)

 

Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Genossinnen und Genossen! 

Die Gewerkschaften haben durch die Förderung des Buches von Bahro nach meiner Ansicht zugleich die Möglichkeit geschaffen, andere theoretische Einschätzungen des Sozialismus auch in der Bundesrepublik Deutschland zu verbreiten und zur Diskussion zu stellen.

Derjenige oder diejenigen, die der Vermutung folgen oder die Vermutung verbreiten, die EVA wollte durch ihre Beteiligung an diesem Kongreß manipulierenden Einfluß ausüben, können dies nicht auf Tatsachen gründen. Eine solche Bewertung ist völlig konstruiert. Die Verbreitung einer solchen Vermutung trägt mehr zu einer Vergiftung der Atmosphäre bei.

Die Gewerkschaften haben in der kritischen Phase der gesellschaftlichen und theoretischen Entwicklung nicht immer die Zeichen der Zeit erkannt, weil sie zu sehr mit der Bewältigung der alltäglichen Konflikte in Anspruch genommen wurden. Die strukturelle und längerfristige Krise des kapitalistischen Systems mit seiner Massenarbeitslosigkeit zwingt die Gewerkschaften, über die Veränderungen der Produktionsweise, der Produktionsinhalte und -abläufe und der Verwertungs­bedingungen im Verhältnis zu den Arbeitnehmern nicht nur nachzudenken, sondern neue Gestaltungsmöglichkeiten — wie es bei der IG Druck und Papier und er IG Metall in Ansätzen geschieht — gemeinsam mit den Arbeitnehmern auszuschöpfen. Hier ergeben sich Ansatzpunkte für eine solidarische Kooperation und Vertiefung der theoretischen Grundlagen mit der sozialistischen Opposition in den kommunistischen Ländern.

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Bahros Alternative allein kann nicht die Grundlage für eine sozialistische Lösung sein. Die Perspektiven, die Bahro darstellt, müssen Anlaß sein, die realen Chancen zur Entwicklung eines demokratischen Sozialismus mit humanem Gesicht in Ost und West praktisch und theoretisch voll auszuschöpfen. Die Zeit ist reif dafür. Sie verlangt eine offene und faire Diskussion mit den Gewerkschaften. Einen Bruch zwischen der demokratisch-sozialistischen Intelligenz und den Gewerkschaften darf es meiner Auffassung nach nicht geben.

Meine kritische Solidarität mit Rudolf Bahro ist begründet durch das Grundverständnis für Freiheit im Sinne von Rosa Luxemburg. Meine Mitwirkung an diesem Kongreß ist zugleich Ausdruck für das Ringen, die Gesinnungsfreiheit nicht nur für Bahro zu sichern. Ein System, das Gesinnungsfreiheit verfolgt mit Mitteln der existentiellen und psychischen Repression — gleich in Ost oder West — hat seine Legitimation verloren. Solche Systeme stützen sich nur auf die brutalen Staatsmachtinstrumente — sie sind inhuman und zerstören die Selbstentfaltungsmöglichkeiten der Menschen. Aus diesem Verständnis wirke ich an der Verwirklichung der Ziele dieses Bahro-Kongresses mit.

 

  

Wolf-Dieter Narr 

(Mitglied des deutschen Beirats des 3. Russell-Tribunals)

 

Ich bin von den Veranstaltern dankenswerterweise dazu aufgefordert worden, kurz einiges über das Russell-Tribunal zu sagen. Bevor ich über vergangene und vor allem zukünftige Aktivitäten informiere und zur Unterstützung aufrufe, will ich mit einigen Worten erläutern, inwiefern es m.E. angebracht ist, auf einem Bahro-Kongreß über das Russell-Tribunal zu sprechen. 

Vorwegschicken will ich, daß der Präsident des 3. Internationalen Russell-Tribunals, Vladimir Dedijer, diesem Kongreß seine besten Grüße übermitteln läßt und mir mitzuteilen aufgetragen hat, er stehe voll hinter der Sache dieses Kongresses.

1. 
Dem Russell-Tribunal ist immer wieder vorgeworfen worden, es sei einäugig.
Es kümmere sich nicht um Menschenrechtsverletzungen in anderen Ländern, insbesondere versäume es, auf Verletzungen der Menschenrechte in den Ländern des "Ostblocks" hinzuweisen. Diese Behauptung ist unrichtig. Bahro wurde seinerzeit von der Russell Peace Foundation als Mitglied der Jury eingeladen und der Staatsrat der DDR entsprechend angeschrieben. Die Jury beschloß auf Initiative von Lucio Lombardo Radice und Ingeborg Drewitz im Juli dieses Jahres eine Erklärung, die sich in eindeutiger und scharfer Weise gegen die Haft Rudolf Bahros ausspricht.

13


Schließlich ist in den Eröffnungsreden zur 1. Sitzungsperiode spezifisch auf die verschiedenen Erklärungen der Jury der Russell Foundation und einzelner Mitglieder zu Menschenrechtsverletzungen in "Ostblock"-Staaten hingewiesen worden. Für alle Mitglieder der Jury des 3. Russell-Tribunals gilt unbeschadet sonstiger Unterschiede, daß sie die Menschenrechte als universell geltende und unteilbare begreifen und sich entsprechend einsetzen.

2. 
Allerdings haben die Russell Peace Foundation und die Jury des 3. Russell-Tribunals immer klar gemacht, daß Menschenrechtsverletzungen nicht im globalen Rundschlag zu behandeln sind. Vielmehr gilt es, die Wirklichkeit der Menschenrechte in ihrem jeweiligen Kontext genau zu untersuchen, unbeschadet des selbstverständlichen unmittelbaren Geltungsanspruchs dieser Menschenrechte. 

Gerade wenn man radikal gegen alle Verletzungen von Menschenrechten, wo immer sie auftreten, eintritt, gerade dann muß man auf eine genaue, nachdrückliche, auf einzelne Fälle bezogene Untersuchung drängen. Ein globales Eintreten für die Menschenrechte, das wissen wir nicht erst seit Jimmy Carters Äußerungen und seinen Handlungen, gerät allzu schnell zur Ideologie. Diejenigen aber, die es mit den Menschenrechten ernst nehmen, müssen dieselben ungeheuer genau nehmen und Verletzungen konsequent verfolgen. Die Aufgabenbestimmung des 3. Russell-Tribunals lautet demgemäß:

Menschenrechtsverletzungen in der BRD zu untersuchen, weil Gefahr besteht, ja, es den Anschein hat, als sei die Gefahr zu guten Teilen schon Wirklichkeit geworden, daß eine liberal verfaßte Demokratie in den Zustand eines autoritären Wohlfahrtsstaats von oben abgleitet. Es geht nicht an, dauernd von den habhaften Mängeln und Gefahren der BRD ablenken zu wollen, indem man "auf drüben" hinweist.

Es ist an der Zeit, daß sich die Bundesrepublik auch in ihren Mängeln und Gefahren selbst ernst nimmt und nicht den Totschläger der Kritik Staatssicherheit einerseits und den Blitz-Kritikableiter — anderswo ist es schlimmer — andererseits benutzt.

3. 
Es geht nicht nur darum, die BRD in ihrem eigenen Recht und in ihren eigenen Verfehlungen ernst zu nehmen. Man muß auch — wir alle müssen dies in je verschiedener Weise — endlich mit dem Versuch aufhören, die deutsche Identität und das deutsche politische Selbstbewußtsein immer erneut an der Grenze zu suchen und sei es auch die Grenze zur DDR. Diese Bundesrepublik Deutschland gilt es grundgesetzgemäß zu einem sozialen und demokratischen Rechtsstaat auszugestalten, mehr noch in Richtung auf sozialistische Demokratie zu entwickeln. Es geht nicht an und wäre verhängnisvoll, würde man die demokratische, soziale, ja sozialistische Frage an die Bundesrepublik erneut zu einer nationalen und geographischen verschieben, unbeschadet aller geschichtlichen Zusammenhänge.

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Das Einäugigkeitsargument ist demgemäß umzukehren. Ich finde es gut daß so viele für Bahro eintreten und nicht nur für ihn, sondern für alle Dissidenten, und zwar nicht nur im "Ostblock". Ich könnte mir übrigens, wenn diese Spekulation nebenbei erlaubt ist, gut vorstellen, daß das nächste, das 4. Russell-Tribunal die Frage der Dissidenten und die Frage der Rehabilitation — es werden bekanntlich auch Tote weiter diskriminiert und über sie die Lebenden — als das zentrale Thema aufgreift. 

Aber ich finde es nicht gut, daß viele, die für Bahro u.a. eintreten, plötzlich ihrerseits ein- und triefäugig werden, wenn sie beispielsweise auf die BRD und die USA zu sprechen kommen. Dort, so hat es den Anschein, ist fast alles "in Butter". Es ist es nicht. Wer für die Menschenrechte Bahros ehrlich und ohne Hintergedanken eintritt, der kann, der darf zu vielerlei Menschenrechtsverletzungen in der BRD und anderwärts nicht schweigen. Der kann nicht akzeptieren, daß sich die BRD wie auch die USA ihrer guten Beziehungen zum Schah des Iran und seines Terrorregimes rühmen. Wer für Bahro u.a. eintritt, muß, so meine ich, auch die Sache des Russell-Tribunals unterstützen, für die Geltung der Menschenrechte in diesem Lande radikal und unablässig und ohne opportunistisches Hin- und Herbiegen einzutreten. (...)

Dem Kongreß wünsche ich einen guten Verlauf, eine genaue, auf einzelne Länder gezielte Untersuchung der Möglichkeiten alternativer, sozialistischer Politik. Denn es kommt auch für all die linken Gruppen und Parteien darauf an — hierin liegt u.a. Bahros intellektuell-politische Herausforderung —, zu begreifen, daß Kritik, radikale Kritik an den bestehenden Verhältnissen unabdingbar ist. Sie reicht aber nicht aus. Alternativen — verwirklichbar und lebbar — müssen entwickelt, diskutiert und vorgestellt werden. Die Grund- und Menschenrechte als eindeutiger Maßstab aber sind unteilbar und universell. Es gilt, ohne nachzulassen, sich radikal für dieselben einzusetzen.

  

Ernest Mandel

IV. Internationale

 

Solidarität mit Rudolf Bahro bedeutet an erster Stelle Solidarität mit der Bewegung für uneingeschränkte Freiheit der Meinung, der Gesinnung, der Presse, der Kritik innerhalb der internationalen Arbeiterbewegung und in allen Staaten der Welt. Man kann eine solche Solidarität nicht einschränken und nicht konsequent betreiben, wenn man sie nicht ausnahmslos auf alle Fälle ausdehnt. 

Diejenigen, die sich an diesem Kongreß beteiligen, die sich zur Solidarität mit Rudolf Bahro bekennen, die aber nicht die uneingeschränkte Meinungsfreiheit innerhalb der Gewerkschaftsbewegung der westlichen Welt, innerhalb des DGB vertreten, die zulassen, daß man Kolleginnen und Kollegen nur aufgrund ihrer politischen Zugehörigkeit ausschließt, befinden sich dadurch in einer schiefen Situation, in einer nicht prinzipienlosen Haltung.

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Diejenigen, die sich als begeisterte Verteidiger der Sache von Rudolf Bahro darstellen, die aber nichts zur Unterdrückung der Meinungsfreiheit und den politischen Gefangenen in der VR China sagen und nichts über die Art und Weise, wie die Rudolf Bahros vor vierzig Jahren von Josef Stalin in der Sowjetunion behandelt wurden, und die sich nicht zur uneingeschränkten und bedingungslosen Rehabilitierung von Nikolaj Bucharin, von Leo Trotzki, von all den Opfern des stalinistischen Terrors in den Moskauer Prozessen bekennen, befinden sich dadurch in einer schiefen Situation.

Wir wollen nicht vorschlagen, daß sie an diesem Kongreß nicht teilnehmen, wir sind für uneingeschränkte Teilnahme an diesem Kongreß, wir wollen nur auf die Widersprüche derjenigen hinweisen, die wohl für Meinungsfreiheit sind, wo sie sich nicht mit den Machthabern identifizieren, aber immer bereit sind, die Meinungsfreiheit dort einzuschränken, wo ihnen "genehme" Regierungen bestehen und wo sie glauben, "Realpolitik" anwenden zu müssen.

Wir möchten daran erinnern, daß diese Haltung nicht nur moralisch nicht zu vertreten ist, sondern vom Standpunkt der politischen Effizienz, vom Standpunkt der Interessen der Arbeiterklasse absolut unangebracht ist. Wir erinnern nochmals an das alte Wort von Friedrich Engels: "Die Arbeiterklasse braucht die sozialistische Wissenschaft, und die sozialistische Wissenschaft kann sich nicht entwickeln ohne die Freiheit der Bewegung." Das ist der Prüfstein!

Die Diskussion über Bahros Alternative läuft und wird weiter laufen, dieser Kongreß ist ein erster Anstoß dafür, es werden ihm andere Kongresse folgen, in anderen Städten, in anderen Ländern und die SED-Bürokratie wird die Schlußfolgerung ziehen müssen, daß sie durch die Verhaftung Bahros diese Diskussion nicht nur nicht verhindert hat, sondern ihr in einem gewissen Sinne Vorschub geleistet hat. Der Hauptaspekt dieser Solidaritätsbewegung ist nicht nur ideologisch, politisch und theoretisch, sondern praktisch: die Möglichkeit, Rudolf Bahro frei zu bekommen, besteht! Über die Art und Weise, wie wir ihn freibekommen können, welche Art von Kampagnen notwendig sind, um das Ziel zu erreichen, welche Formen sie annehmen muß, dazu möchte ich einige Worte sagen: (Zwischenruf: Durch viele Bahro-Kongresse, oder wie?) Absolut! 

Viele, viele Bahro-Kongresse muß es geben und an erster Stelle viele Bahro-Komitees, die sich an zwei Achsen ausrichten: — Eine erste, die einige von euch vielleicht für unbedeutend halten werden, die aber auch auf die Bürokratie einen sehr konkreten, bedeutsamen Druck ausüben kann, ist die Achse der Gesellschaftswissenschaften; denn das, was Bahro konkret vorgeworfen wird, auch in dem blöden Flugblatt, das die SEW hier verteilt, ist die Veröffentlichung von Statistiken über die Berufsstruktur der DDR, über das Verhältnis zwischen Handarbeitern und Nicht-Handarbeitern. Das sind Statistiken, die in jedem westlichen Land, von Tausenden und Tausenden von Professoren, Lektoren, Assistenten und Studenten der Gesellschafts­wissenschaften laufend gebraucht werden.

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Hinter dem Verbot der Veröffentlichung dieser Statistiken und hinter der Anschuldigung, daß es Spionage wäre, solche Statistiken zu veröffentlichen, steckt in Wirklichkeit ein Verbot der Beschäftigung mit Gesellschaftsanalysen, mit Gesellschaftskritik. Und das lassen sich heute Gesellschaftswissenschaftler weder im Westen noch im Osten gefallen. Darauf müssen wir uns stützen, wenn wir im Westen Komitees von Gesellschaftswissenschaftlern gründen, die gegen dieses Urteil protestieren, die Veranstaltungen, Tagungen, Meetings organisieren, für die Freilassung des aus diesem Grund Verurteilten. 

Ich möchte zu dem Präzedenzfall von Heinz Brandt einen weiteren zitieren, der mit einem mächtigeren Staat in Verbindung steht als die DDR: Es ist das Mathematiker-Komitee in Frankreich mit seinen internationalen Verknüpfungen, dem es gelungen ist, den Genossen Pljuschtsch, einen aufrichtigen sozialistischen Dissidenten aus der Sowjetunion, zu befreien. Allerdings unter der Bedingung, daß er in den Westen emigrierte. Wir können auf der Basis von solchen Komitees die Freilassung von Rudolf Bahro ebenfalls erzwingen, ohne die Bedingung, daß er nach dem Westen emigriert.

Die zweite Achse — und die wichtigste für so eine Solidaritätsbewegung — ist die internationale Arbeiterbewegung. Es ist absolut klar, daß die Machthaber in der DDR wie die in der Sowjetunion für den Druck der internationalen Arbeiterbewegung und vor allem der großen Arbeiterorganisationen sehr sensibel sind. Deshalb ist die Hauptaufgabe der Solidaritätskampagne für Rudolf Bahro, es nicht beim Wort der Gewerkschaftsführer oder von Willy Brandt zu belassen, sondern die Gewerkschaften, die eurokommunistischen Parteien, die sozialdemokratischen Parteien zu zwingen, eine wirkliche, aktive, kontinuierliche Kampagne für die Befreiung Rudolf Bahros zu organisieren (...).

 

   

Heinz Brandt

(ehemaliger Redakteur der IGM-Zeitung "Metall")

 

Wir sind ein Anfang von vorn, nach vorn, in Richtung Sozialismus. Wir haben erlebt, daß es hier einen Tomatenberg, einen Butterberg, einen Milchberg gibt. Ich glaube, wir empfinden uns als jener Menschenberg der in dieser Gesellschaft Überflüssigen, derjenigen, die in dieser Gesellschaft keine Zukunft haben. Dieser Menschenberg wird sich in Richtung Sozialismus in Bewegung setzen. Nachdem der <reale Sozialismus> nicht zum Menschen gekommen ist, wird der Mensch zum Sozialismus kommen.

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Ihr seht in mir die Verkörperung eines Menschen, der durch die internationale Aktion der Arbeiterbewegung befreit wurde. Dies ist auch gleichzeitig ein Anklagepunkt, denn Rudolf Bahro sitzt noch im Kerker, weil wir bisher nicht die moralische Kraft aufgebracht haben, die uns z.B. Bertrand Russell und Otto Brenner als Verkörperung der internationalen Gewerkschaftsbewegung gezeigt haben. (...)

In diesem Zusammenhang ist der Aufruf an die Eurokommunisten von mir in der letzten Nummer des <Neuen Langen Marsches> zu verstehen. Ich will ihn hier verlesen:

"Es ist eine frohe Botschaft, die von Rudolf Bahro ausgeht: universal, europäisch und beiderlei deutsch; sie hat dem Humankommunisten die Kraft gegeben, den DDR-Knast zu wagen und zu ertragen. Unsere Solidaritätsaktion kann gar nicht breit genug sein, darf an keinerlei Vorbedingungen geknüpft, durch nichts eingeengt werden. Sein Aktionsprogramm zur Einebnung der Privilegien-Pyramide ist darauf angelegt, aus dem Ostdeutschen ins Westdeutsche übersetzt, umprogrammiert zu werden — und aus dem Osteuropäischen ins Westeuropäische. Seine praktikable Veränderungsstrategie eröffnet einer vereinigten ost-westdeutschen Linken die Zukunftshoffnung auf ein wirksames Kampfbündnis: Um sein Programm können sich die unterschiedlichsten Strömungen versammeln, ohne Meinungsvielfalt und Experimentierfreiheit kann es gar nicht durchgesetzt werden. 

Bahro appelliert erneut an uns (in seinem Knast-Kassiber), seine Thesen solidarisch zu diskutieren — mithin öffentlich. Insbesondere liegt ihm daran, daß die eurokommunistischen Parteien offiziell Stellung nehmen. Er fragt allzu bescheiden: <Betrachten sie mich als Kommunisten, mit dem man sich zeigen kann?> Sind die Eurokommunisten bereit, Rudolf Bahro auch <Unter den Linken> zu grüßen? Das wird für uns nun zum Testfall. Werden sie sich plötzlich vor dem Berliner Bahro-Kongreß drücken, just nachdem vom Kreml und dem Ostberliner Herrensitz in Niederschön­hausen Teilnahmeverbot gefordert und Ketzer Bahro zum Unberührbaren erklärt wurde? Jetzt wird es sich herausstellen, ob die Führenden der KPI, KPF, KPS Kommunisten sind, mit denen sich ein Humanist zeigen kann! (...)"

Sicher sollte im Mittelpunkt solch einer Tagung Bahros optimistisches Egalitätsprogramm stehen: die Überwindung konservativer kompensatorischer Bedürfnisse durch Einebnung der Pyramide, Aufhebung der vertikalen Arbeitsteilung: "Die Zeit ist reif ... Ein Anfang muß aber gemacht werden." (...) 

 

  

Ludvik Kavin 

(Sprecher der Charta 77, lebt in Wien)

Entwicklungstendenzen der osteuropäischen sozialistischen Opposition (Auszug) 

 

In den letzten Jahren habe ich die Krise der bürokratischen Regime (Berlin 1953, Polen und Ungarn 1956, CSSR 1968) mehrfach als ambivalent charakterisiert: einerseits ist sie Symptom der langwirkenden Agonie des politischen Systems und andererseits der Prolog zu einem tiefgreifenden und grundlegenden Befreiungsprozeß, der zu einer Niederlage der diskreditierten Despotie führen wird. Meiner Meinung nach müssen die Kräfte der inneren Opposition, die unbedingt vorhanden sein muß, zwei Voraussetzungen erfüllen: 

 

*  (u2010:)   univie.ac.at/pawlatsche/DiasporaHP/ludvik_kavin.htm  Kavin *1943 

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  1. Sie müssen von den sozial-politischen Veränderungen, zu denen es in den zu diskutierenden Gesellschaften in der nachrevolutionären Ära kam, ausgehen.

  2. Sie müssen zu der Einsicht gelangen, daß alle Reformvorstellungen bezüglich einer Verbesserung des Systems als solchem, seiner Veredelung, als naiv zu betrachten sind. 
    Zur Einsicht gelangen, daß eine Alternative geschaffen werden muß, aber nicht die Alternative eines Partei- oder Intellektuellen­kabinetts, sondern die Alternative einer theoretisch fundierten Methode zur Änderung der Praxis.

Die letzten 2-3 Jahre brachten eine radikale Klärung. In Polen, der Tschechoslowakei, aber auch — wenn auch weniger spektakulär — in der DDR, in Jugoslawien, der Sowjetunion, dort vor allem in bestimmten Unionsrepubliken; in geringerem Ausmaß und noch dazu in mehr anonymer Weise in Rumänien, Bulgarien und sogar im relativ ruhigen und zufriedenen Ungarn setzten und setzen sich Gruppierungen durch, deren Credo die Verwirklichung der Menschenrechte ist. 

Es beteiligt sich an ihnen die Mehrzahl der politisch orientierten oppositionellen Gruppen. Es handelt sich um ein oppositionelles politisches Spektrum, zu dem in der Sowjetunion Demokraten, verschiedene religiöse Strömungen, die vor allem Gewissensfreiheit verlangen, verschiedene patriotische und nationale Strömungen, Neomarxisten und die nicht sehr zahlreich vorhandenen sozialistischen Strömungen zu zählen wären. 

Diese allgemeine Einteilung stammt von Leonid Pljuschtsch1) der bemerkte, daß in der sowjetischen Opposition auch eine antidemokratische, chauvinistische Bewegung am Werk ist. In Polen sind vor allem die Strömungen der katholischen Kirche sehr stark, aber es haben auch revolutionäre Marxisten und Marxisten verschiedenster Schattierungen Fuß gefaßt. In der Tschechoslowakei deklarierten ihre oppositionellen Positionen vor allem die Reformmarxisten (in ihrer Mehrzahl ehemalige Mitglieder der KPTsch), radikale Marxisten, respektive revolutionäre Sozialisten, die zwei Gruppen bilden. (Es handelt sich einerseits wiederum um ehemalige Mitglieder der KPTsch, andererseits um eine sich an der IV. Internationale orientierende Gruppierung). 

Die zahlenmäßige Schwäche dieser Gruppen wird vor allem durch das von ihnen bewältigte Arbeitspensum und durch den Beitrag, den sie zur Einigung der oppositionellen Strömungen zusammen mit dem christlichen und dem künstlerischen Underground geleistet haben, aufgewogen. Besonders stark sind die sozialistischen Tendenzen ausgeprägt. In Ungarn und Jugoslawien sind vor allem die Versuche der marxistisch orientierten Intellektuellen, das ideologische Brachland wieder fruchtbar zu machen, von Bedeutung. In der DDR sind es vor allem junge Marxisten (oft nicht nur dem Alter nach) und die kulturelle Opposition, die sich um die Durchsetzung der Menschenrechte bemühen. 

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Die ostdeutsche demokratische Opposition hat vielleicht die höchste Zahl der offenkundig revolutionär-sozialistisch orientierten Deklarationen. In den letzten 2-3 Jahren gab es auch in Bulgarien und Rumänien Versuche, eine Bewegung zur Verteidigung der Menschenrechte ins Leben zu rufen, wobei es sehr schwierig ist, die weltanschauliche Orientierung ihrer Träger zu bewerten. Bei den Bürgerrechtsbewegungen handelt es sich in den meisten Fällen um erklärtermaßen unpolitische Bewegungen, aber ihre politische Bedeutung ist den zur Opposition in diesen Ländern gehörenden Bürgern und den bürokratischen Herren völlig klar. Durch den vorgeschlagenen Dialog mit der Staatsmacht, durch den offenen Kampf für die Menschenrechte, der zu einem wichtigen Faktor der inneren politischen Situation in diesen Ländern geworden ist, erfährt der Weg zur politischen Freiheit in diesen Ländern eine qualitative Verbesserung (...).

Es zeugt jedoch von einem noch größeren Konservatismus, wenn sich diese Regime über die grundlegenden sozialistischen Forderungen hinwegsetzen, die bei ihrer Gründung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die sozialdemokratischen Parteien aufstellten. Und daß dem wirklich so ist, daß sie sich über die Forderungen hinwegsetzen, zeigt z.B. das Dokument "100 Jahre tschechischer Sozialismus".(2) 

Mit diesem Dokument konstituierte sich in der CSSR eine neue unabhängige Strömung politischen Denkens und politischer Praxis, eine Strömung unabhängiger Sozialisten, in der nicht nur Marxisten, sondern all jene Gruppen vertreten sind, die grundsätzlich prosozialistisch orientiert sind, denen die gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse klar sind und die die Wurzeln der gegenwärtigen Probleme in meinem Land angehen wollen. Die Grundsatzerklärung haben aus diesen Gruppen nur die tschechoslowakischen revolutionären Sozialisten nicht unterschrieben. Aber auch für sie ist die grundlegende Orientierung dieser Erklärung annehmbar, auch für sie — und für uns parallel in der Emigration — ist es möglich, sich um die Schaffung eines oppositionellen gesellschaftlichen Blocks mit den Intentionen des oben genannten Dokuments zu bemühen.

Was steht in diesem Dokument? Es wird angeführt, daß zwar die große Mehrheit der Produktionsmittel in der CSSR verstaatlich worden ist, daß es jedoch strittig sei, ob die Erträge der Arbeit zum allgemeinen Wohl der Gesellschaft verwendet würden und ob die Entlohnung der arbeitenden Bevölkerung nach dem Prinzip der Gerechtigkeit erfolge. Des weiteren wird angeführt, daß sich zwar der Grundsatz des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts bereits vor mehr als 60 Jahren bei uns durchgesetzt hätte, er jedoch durch das bestehende Wahlsystem, wonach der Bürger nur einen Kandidaten wählen könne, aufs gröbste verletzt werde. 

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Weiter wird ausgeführt, daß die Forderung nach "voller Pressefreiheit, Vereins- und Versammlungsfreiheit sowie voller Koalitionsfreiheit" unerfüllt geblieben ist, ganz zu schweigen von der Forderung nach "Unabhängigkeit der Gerichte, der direkten Wahl der Richter durch das Volk, der Einführung der kostenlosen und mündlichen Gerichtsverfahrensführung, der kostenlosen Rechtsverteidigung" und von der Forderung nach "Aufhebung der Todesstrafe".

Die Beseitigung jedweder sozialen und politischen Ungleichheit ist bis dato nur ein Traum der tschechoslowakischen Werktätigen geblieben. Für eine Verwirklichung dieser bis heute nicht erfüllten grundlegenden sozialistischen Forderungen treten sowohl Marxisten, Sozialisten und Christen ein als auch unabhängige Persönlichkeiten, die nicht einer bestimmten politischen Richtung angehören. So schaut die Situation der Opposition bei uns in der CSSR aus. Es sind Möglichkeiten da, einen Oppositionsblock zu bilden, der nicht die Mängel des Systems optisch übertünchen möchte, sondern deren radikale Überwindung anstrebt. (...)

Die Solidaritätsbezeugung für Rudolf Bahro hat nicht nur für uns Marxisten, sondern für alle unsere Verbündeten eine grundlegende Bedeutung: nicht nur, weil es sich um einen politischen Gefangenen, nicht nur, weil es sich um einen Marxisten handelt. Dies alles ist heute doch selbstverständlich. Wir solidarisieren uns mit allen politischen Gefangenen in den Ländern des sogenannten realen Sozialismus. Wir solidarisieren uns mit ihnen, unabhängig davon, welcher weltanschaulichen Richtung sie angehören bzw. nicht angehören. Die Solidarität mit Bahro ist jedoch gleichzeitig eine Solidarität mit dem Individuum Bahro, das zusammen mit uns auf der Suche nach einer Alternative zu einem Regime ist, das unserem in der CSSR so ähnlich ist, daß man mit dem nötigen abstrakten Vorstellungsvermögen die beiden miteinander verwechseln könnte. 

Rudolf Bahro hat auf seiner Suche nach einer Alternative eine der umfassendsten kritischen Arbeiten über das ökonomisch-politische System in den osteuropäischen Staaten geschaffen. Bahros theoretischer Ausgangspunkt ist seine Interpretation der Weltgeschichte als einer Geschichte der Arbeitsteilung: die vertikale gesellschaftliche Arbeitsteilung in den osteuropäischen Ländern wurde zur Grundlage neuer Machtverhältnisse, und zusammen mit dem Staatseigentum konserviert sie die herrschenden Verhältnisse. 

Der revolutionäre Prozeß im Osten muß nach Bahro nicht nur eine Änderung des politischen Überbaus bewirken (nach Trotzki z.B. einen Sturz der Bürokratie), sondern auch Eingriffe in den bestehenden Charakter des Eigentums mit sich bringen. Das Staatseigentum muß in gesellschaftliches Eigentum übergehen. In dieser These Bahros sehe ich eine Aufforderung zum Dialog und die eigentliche Bedeutung seiner Arbeit. Eine andere Bedeutung seiner Arbeit sehe ich in der konkreten Problemstellung bezüglich der Verbindung von Theorie und Praxis sowie der Beziehungen zwischen der Arbeiterklasse und den Intellektuellen.

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Meiner Meinung nach geht Bahro nicht von einer Hegemonie der technischen Intelligenz a priori aus. Wichtig ist seine Beurteilung der historischen Aufgabe der Arbeiterklasse im Prozeß der Überwindung des Kapitalismus und beim Aufbau einer neuen, sozialistischen Gesellschaft. "Die marxistische Theorie", sagt Bahro, "baut auf die Existenz der Arbeiterklasse, ist aber selbst nicht die Theorie der Arbeiterklasse." Das Proletariat selbst kann nicht die Rolle des Subjekts im Emanzipationsprozeß und bei gesellschaftlichen Veränderungen übernehmen. Ich bin mit dieser gedanklichen Konstruktion einverstanden. 

Ich glaube jedoch, daß daraus nicht automatisch geschlossen werden darf, daß die Initiative im historischen Veränderungsprozeß nur den verschiedenen Gruppierungen der Intelligenz zukommt. In diesem Punkt könnte man mit Bahro zu polemisieren anfangen. Es wäre angebracht, sich in einer speziellen Gruppe unseres Kongresses mit dem Begriff der Arbeiterklasse im gegenwärtigen Stadium der osteuropäischen Gesellschaften auseinanderzusetzen.

Allgemein ausgedrückt: die Problemstellung Bahros rückt die traditionellen marxistischen Probleme in ein neues Licht, wenn man neue historische Erkenntnisse und die neue historische Realität berücksichtigt. (...)

Gegenwärtig wird vom tschechoslowakischen Regime der Charta-Sprecher Jaroslav Sabata(3) gefangen gehalten, der in einem im August publizierten Gespräch für die Wiener linksgerichtete Zeitschrift Extrablatt sagte:

"Wenn man in Machtbegriffen denkt, sind wir schwach. Wir stehen einem riesigen repressiven Apparat gegenüber. Aber obwohl wir in diesem Sinne schwach sind, sind wir sehr stark im moralischen Sinne. Und das ist auch eine Kraft. Für einen Marxisten ist es ja nicht so, daß gegenüber einer physischen Kraft nur eine physische Kraft zählt."

Das Regime inhaftierte Sabata unter dem unsinnigen Vorwand, daß er Angehörige der Staatssicherheit angegriffen hätte. Die Unsinnigkeit, aber auch die Absicht der Herrschenden, die dahinter steckt, wird einerseits durch den ganzen Verlauf dieser Geschichte offenkundig, indem die Zeugen den blutig geschlagenen Jaroslav Sabata und die unversehrt gebliebenen Polizisten sahen, die Sabata wegschleiften. Sie ist andererseits auch jenen offenkundig, bei denen Sabata ein außerordentlich hohes Ansehen als Mensch von hohen moralischen Qualitäten und als tiefdenkender Marxist genießt. (...)

Der <Internationale Kongreß für und über Rudolf Bahro> stellt meiner Meinung nach einen wichtigen Solidaritätsakt mit der osteuropäischen Opposition dar. Er darf aber nicht eine einzelne Aktion bleiben. Dieser Kongreß findet zu Beginn einer neuen Etappe des antibürokratischen Kampfes und des Kampfes gegen den Großmachtchauvinismus in den sogenannten sozialistischen Ländern statt. 

Als solcher hat er seine unbestrittene Bedeutung für alle antitotalitären, fortschrittlichen Bewegungen in diesen Ländern, die sich nicht nur auf Marxisten beschränken und schon gar nicht eine Angelegenheit nur einer Gruppe von ehemaligen Mitgliedern der KP sind. Verharren im Gegenteil die Letzteren oft auf ihren Reformpositionen und schwächen dadurch die Bemühungen der Opposition, wenn ich auch nicht die Bedeutung des Echos, das sie bei den eurokommunistischen Parteien des Westens hervorrufen, unterschätze. 

Die Bedeutung des Kongresses wird sich vor allem in der Zukunft für den Fall zeigen, daß es ihm gelingen sollte; umfassendere und langanhaltende Solidaritätsaktionen der westeuropäischen Linken mit der mittel- und osteuropäischen Opposition und konkret mit den Opfern der politischen Repression zu initiieren. Das betrifft nicht nur Aktionen ähnlichen Ausmaßes, sondern vor allem ein systematisches Interesse für mittel- und osteuropäische Probleme, das natürlich bei der osteuropäischen Opposition entsprechenden Widerhall finden würde. 

22-23

Anmerkungen Kavin

1) Leonid Pljuschtsch, geb. 1939, wissenschaftlicher Mitarbeiter des kybernetischen Instituts der Ukrainischen Sowjetrepublik. Wegen seiner Tätigkeit in einer Initiativgruppe zur Verteidigung der Menschenrechte in ein psychiatrisches Krankenhaus in Dnjepropetowsk eingewiesen. 1976 aufgrund internationaler Proteste entlassen, danach Emigration nach Frankreich.

2) Das Dokument "100 Jahre tschechischer Sozialismus" wurde am 7.4.1978 von etwa 20 Unterzeichnern der Charta 77 veröffentlicht. Anlaß war der 100. Jahrestag der Gründung der tschechoslowakischen sozialdemokratischen Partei. Auf deutsch in: Jan Skala, Die CSSR. Vom Prager Frühling zur Charta 77, Berlin 1978, Verlag Olle & Wolter, S. 191 f.

3) Jaroslav Sabata, 1968 Mitglied des ZK der KPC, akzeptierte als ZK-Mitglied nicht die Okkupation der Warschauer-Pakt-Staaten. 1971 verhaftet und zu 6 1/2 Jahren Gefängnis verurteilt, 1975 vorzeitig freigelassen. Er löste im Frühjahr 1978 Hajek als Sprecher der Charta 77 ab. Am 1. Oktober 1978 erneute Festnahme beim Treffen von Mitgliedern des polnischen Komitees der gesellschaftlichen Selbstverwaltung (KOR) und Mitgliedern der Charta 77. Am 11.1.1979 Verurteilung zu neun Monaten Gefängnis. Unklar ist, ob S. noch die restlichen 18 Monate seiner ersten Haftstrafe absitzen muß. 

 

 

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