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Nachwort

1990 von Rudolf Bahro

 

"Leider habe ich seit 1979 aus Vorurteil versäumt, Wolfgang Harichs <Kommunismus ohne Wachstum> zu lesen. Es ist höchste Zeit, ihm noch zu seinen Lebzeiten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen."  Seite 558, hier gekürzt

545-559

Zuerst will ich jene Menschen nennen, die mit mir waren, als dieses Buch entstand. So anachronistisch das nach dem Modewechsel klingen mag, muß ich voraus­schicken, daß die allermeisten, selbst die Parteilosen, so oder so Kommunisten waren, sich auch so verstanden. Schließlich hat das Buch seinen Titel von dem ausgedehnten Schlußteil »Zur Strategie einer kommunistischen Alternative«. Mehrere waren antifaschistische Widerstandskämpfer. Manche sind heute nicht mehr unter den Lebenden. Hier also sind die Namen: 

Ursula Beneke, damals in der Bibliothek der Biologen an der Humboldt-Universität; dort im Keller haben wir die 70 Exemplare fotokopiert, mit denen das Buch zuerst in der DDR erschienen ist. Für diese meine Gefährtin von damals ging bis heute alles am schwersten, das alte Regime blieb bis zuletzt kleinlich und erbärmlich dabei, sogar noch ihren Kindern Schwierigkeiten zu machen. Zusammen mit ihr haben meine Freunde Werner Busold und Werner Naujok die Verteilung realisiert; natürlich kannten auch sie das Ganze und haben es mitdiskutiert.

Rudi Wetzel, der einmal die »Wochenpost« gegründet hat und bald aufs Abstellgleis geschoben wurde, war vom ersten bis zum letzten Kapitel der Lektor des Buches, unersetzlich auch durch seine Kontakte für den Weg zum Verleger. Meine Freunde Marianne und Dieter Lorf hatten mich mit ihm in Verbindung gebracht. Sie waren jahrelang dabei. Fritz Behrens hat das Buch beim Bund-Verlag des DGB untergebracht, nachdem es der Schweizer DDR-Musikwissenschaftler Harry Goldschmidt durch die Mauer befördert hatte.

Harry Goldschmidt hat mich im solidarischen Gespräch und ebensosehr durch seine tiefsinnige Schubert- und Beethovenforschung durch die ganzen 10 Jahre der Entstehung von 1968 bis 1977 begleitet.

Als Freund begleitet hat mich auch Volker Braun, der manches von mir in seine Gedichte, in seine Stücke — den Großen Frieden etwa und den Che Guevara — aufnahm. Der erste Anstoß aber kam Mitte der 60er Jahre von Walter Besenbruch, der mir politisch ein Vater war. 11 Jahre hatten ihn die Nazis drangsaliert. Ihn im Sinne, schrieb ich 1958 einmal den Text für ein Kampfgruppenlied. Wenn der mich zur Opposition beauftragt! empfand ich. Seine Liebe, sein Zorn, seine vernichtende Kritik an meinem Opportunismus, oder was er dafür hielt, haben mich wieder und immer wieder neu zur Arbeit angetrieben.

Wie ein älterer Bruder ist durch dieselben langen Zeiten Werner Tzschoppe zu mir gewesen, seit seinem Absturz als Parteisekretär an der Humboldt-Universität wegen »Inkonsequenz« gegen Robert Havemann. Ermutigt durch ihr Mitdenken und Mitfühlen, aus einer ganz anderen Psychologie als meiner reformkommunistischen, hat mich Rosemarie Zeplin.

Auch Ingrid und Günter Mayer, alte Studiengefährten, haben mitgetragen, wissend den Kontakt gewagt. Das letzte Jahr vor dem Auftritt saß ich oft mit Guntolf Herzberg zusammen. Hoffentlich habe ich niemanden vergessen, verdrängt. 

Unvergeßlich jedenfalls bleibt mir derjenige, der mir die Qualität des Entwurfes abverlangt hat, ganz besonders die Rationalität der Vision in dem anfangs noch windigen Schlußteil, mein skeptischer Lehrer über mehr als zwanzig Jahre: Wolfgang Heise.

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Schließlich will ich Gundula Bahro danken. Sie hat der Kinder wegen und meiner Ich-Besessenheit wegen die Sache nicht gewollt. Aber sie hat den zunehmenden Alpdruck ertragen und mich alles an ihrer Seite vollenden lassen, sogar noch dafür gesorgt, daß eine erste Fassung sicher in die Schweiz gelangte.

Bei einigen dieser Menschen stehe ich in einer Schuld, weil ich in einer bestimmten Situation der Untersuchungshaft den Hergang aufgedeckt habe, ohne daß es wirklich gerechtfertigt und notwendig war. (Damit habe ich auch einer ganzen Reihe von Kollegen Schwierigkeiten verursacht, die ich im Industriezweig Plast- und Elastverarbeitung für meine Dissertation interviewt hatte. Anders als die zuvor Genannten konnten sie nicht wissen, in welchen Kontext unsere Gespräche später rücken würden; um so mehr muß ich sie um Verzeihung bitten.)

Während der Haftzeit ist Gregor Gysi mein Anwalt gewesen. Untadelig hat er voll seinen nur zu begrenzten Spielraum zu meiner Verteidigung ausgeschöpft.

 

Wie gesagt, die meisten dieser Menschen, und ich mit ihnen, gehörten über Jahre und Jahrzehnte derselben Partei wie die Politbürokraten an, die jetzt für ihre kleinkarierten Mißbräuche zur Rechenschaft gezogen werden. Wer die wahre Dimension ihrer Verantwortung wissen will, mag sich erinnern, was der Prager Frühling war! 

Die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei an der Spitze der Erneuerungsbewegung für einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz — vom Volk geliebt. Diese Chance haben sie in ihrer selbstischen Stupidität, Eitelkeit und Feigheit zerschlagen. Dafür ist eine Zelle zugleich zu wenig und zuviel. Sie sind gerichtet. 

Im Neuen Testament gibt es zwei grundverschiedene Vorstellungen vom Weltgericht, einerseits die Rache- und Bestrafungsphantasie der Johannes-Apokalypse, andererseits das soviel gründlichere und humanere Wort aus dem Johannes-Evangelium: »Das ist aber das Gericht, daß das Licht in die Welt gekommen ist, und Ihr habt es nicht erkannt.«

Dieses Buch ist entstanden auf dem Weg von meinem Haßausbruch am frühen Morgen des 21. August 1968 zu dem Aufstieg Michail Gorbatschows in der Sowjetunion. Politisch betrachtet ist es die Theorie der Perestroika von oben. Hieß es damals bei Freund und Feind, meine Analyse sei gut, der Schlußteil aber rein utopisch, dann hat inzwischen die Utopie einen Einbruch in die Wirklichkeit erzielt. 

Mag auch die sowjetische Perestroika noch in ganz anderen Farben schillern, als mir damals vorschwebte, die Russische Revolution ist nicht in dem Sumpf asiatischer Restauration steckengeblieben. Es war in der Larve, der man den oberflächlichen Namen Stalinismus zu geben pflegt, ein Schmetterling verborgen, und der hat sich selbst aus dem starren Korsett befreit. Andererseits ist klar, daß die Perestroika von oben ihre Schranke hat, in der Wirklichkeit und natürlich auch in meinem Buch. 

Nun ist die Geschichte der DDR über diese Schranke hinweggegangen — und es ist zu früh, schon zu entscheiden, ob wir darüber lachen oder weinen sollen. Wahrscheinlich liege ich jetzt mit diesem Buche hier ebenso quer wie vor 15 Jahren, als es entstand. 

Wenn ich daran denke, wie sozialistisch sich die DDR-Opposition darstellte, als das alte Regime noch da war und wie sozialdemokratisch sich jetzt selbst die gewendete SED gibt, kann ich natürlich sagen, es sei mit meinem Kommunismus von 1968-77 halt bloß gerade ebenso weit her gewesen. Ist doch Kommunismus offenbar das, was wegen Pol Pot und Ceausescu verboten werden muß. Vielleicht ist auch Gorbatschow nur noch nicht aus der KPdSU ausgetreten. Allgemeine Verwirrung.

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Was wir gerade erleben, ist eine Sternstunde — des falschen Bewußtseins, das aus der Angst geboren ist.

Konformismus und Opportunismus, in Jahrzehnten gezüchtet, schlagen jetzt gegen alles zurück, was jemals an der kommunistischen Sache substanziell gewesen ist. Abgesehen von der Abrechnung mit dem Krebsgeschwür der Repression, und sobald es um Perspektiven geht, ist nachgerade alles platt, was als Meinung Konjunktur hat. Es fängt mit der angeblichen Armut und Hilfsbedürftigkeit an und endet mit der offiziellen Anbetung der Kapitallogik. 

Die DDR will umstandslos in die Front der reichen gegen die armen Völker einrücken. Der Kern des geistigen Bankrotts, der moralischen Kapitulation ist die Unwissenheit, die Geschichts- und Theorielosigkeit. 

Wer aus Bequemlichkeit, Geschäftigkeit, Trägheit, Feigheit nie ernstlich Kontakt zur Sphäre der Wahrheit aufgenommen hat, wie sollte der jetzt nicht mit den Wölfen heulen?

Die von Humanismus, Liberalismus, von den Menschenrechten und vom Rechtsstaat her motivierte Kritik am Stalinismus betrifft die augenscheinlich unerträglichste Schicht des Problems. Aber wenn sich jetzt auch die dafür Verantwortlichen — und welches Parteimitglied wäre das nicht? — auf diese Oberflächenkritik beschränken, dann ist es eine bequeme Ausflucht, und es wird die Substanz des Themas verdeckt und verfehlt. 

Was der Westen seit Jahrzehnten als »Totalitarismus« verteufelt, darauf hat ja nicht nur der Stalinismus das Abonnement. Vielmehr ist das nur eine, allerdings besonders ausgeprägte Variante von Entwicklungsdiktatur. Oder in welchen Zusammenhang gehört etwa die iranische Variante, zuerst mit dem Schah, jetzt mit Chomeini bzw. dessen Nachfolgern?

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Nach meiner Analyse ist »Stalinismus« der Name für das Larvenstadium einer neuen Gesellschaftsformation bzw. für die neueste Phase einer älteren, nämlich der »asiatischen« Gesellschaftsformation. In nichtkapitalistischen Ländern vollzieht sich die nachholende Industrialisierung in der Form einer »asiatischen Restauration«.* Es kommt eine »Ökonomische Despotie« zustande. Das heißt ein Apparatstaat, der alle geistige, politische und ökonomische Macht zentralisiert, praktiziert den Fabrikdespotismus im Maßstab der ganzen Gesellschaft.

Daß sich diese Form ganz besonders ausprägt, wo es eine alte Staats- und Reichstradition »asiatischen« Typs gibt, wie in China, Persien, Rußland, ist kein Wunder. Heute erscheint mir die Evolution, die sich unter dem Druck des westlichen Industrialismus in den »Reichssozialismen« Rußlands und Chinas äußert, noch zwingender als vor 15 bis 20 Jahren. Weder Rechtfertigung noch Verurteilung werden ihr gerecht. Die Unvermeidlichkeit des Ablaufs, wie ich sie am sowjetischen Beispiel dargestellt habe, deutet auf ein noch tieferes Motiv hin.

Die Prinzipien, die mit den Revolutionen dieses Typs an die Tür der modernen Welt klopfen, lassen sich nur deshalb (noch) abweisen, weil sie im Kontext einer weltgeschichtlich überholten formativen Struktur auftreten. Eben feiert die Weltregierung durch das Geld ihren scheinbar endgültigen Triumph. Aber daß der Mensch sein Geschick nicht auf eine neue Weise »den Göttern« anvertraut, sondern auf die alte Weise dem »Götterdreck«, wie die Andenvölker das Gold nennen, ist das Geheimnis der Selbst- und Weltzerstörung, das am Grunde der westlichen Zivilisation waltet. Die Wiederkehr der asiatischen Formation ist überhaupt nur als Reaktion auf die materielle Überlegenheit und das spirituelle Vakuum des Westens begreiflich.

* Die Bezeichnung »asiatisch« für die Produktionsweise etwa der alten Ägypter, Inder, Chinesen, auch der Inkas, stammt aus den Grundrissen zur Kritik der Politischen Ökonomie von Marx. Ich habe Siegfried Wollgast dafür zu danken, daß er mir irgendwann um die Mitte der 60er Jahre beiläufig den Hinweis gab, dies könnte ein Zugang zum Verständnis unserer realsozialistischen Zustände sein. Wahrscheinlich hat er mich auch auf Karl August Wittfogels »Orientalische Despotie« hingewiesen. Ich habe diese Quelle in dem vorliegenden Text nicht aufgedeckt, weil ich ihn nicht mit einer zusätzlichen Auseinandersetzung belasten wollte. Wittfogel hatte den Fortgang der Russischen Revolution so traumatisiert erfahren, daß er angesichts der asiatischen Restauration zum hemmungslosen Lobredner des westlichen kapitalistischen Weges geworden war.

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Der Westen hat den Bankrott von Kirche und Kaiser zum Anlaß genommen, die Prinzipien abzuschaffen, die in diesen Instanzen zum Ausdruck kommen, Jahrhunderte bevor die meisterliche und die kaiserliche Instanz in hinreichend Vielen sich innen vorbereiten konnte. Der kategorische Imperativ des Citoyen war bloß ein frommer Wunsch, dem freigelassenen Besitzindividualismus als Feigenblatt angeheftet. Die Psychodynamik des Geldverdienens ist ihrem Wesen nach expansionistisch. Im Kapitalismus sind aus diesem Grunde Freiheit und Weltzerstörung elementar miteinander verkuppelt. Der Kampf um die menschliche Emanzipation wird von der Logik der Selbstausrottung regiert. Mehr denn je herrscht Krieg aller gegen alle, auf allen Gebieten des menschlichen Lebens, menschlicher Selbstbestätigung und -bewährung. Napoleonisch müssen wir jeder eine Welt erraffen, milliardenmal auf dieser endlichen Erde. 

Es ist offensichtlich, daß der Mensch mit dieser Verfassung keine hundert Jahre mehr überleben wird.  

Die ökologische Krise macht offenbar, er muß den Staat wiederfinden, der als Korrektiv zu seiner Natur gehört. Er muß ihn wieder aufbauen von der Sitte her, und die Sitte muß er wieder aufbauen von dem »Königlichen«, dem »Gottköniglichen« her, das in jedem Individuum an- und aufgerufen werden kann. Das akute Grundproblem, das in Gestalt der »Reichssozialismen« eine erste Antwort erfuhr, ist nur aus der Tiefe des historischen Raumes faßbar, in welchem Klassengesellschaft als Kastengesellschaft begann. 

Die Kastengesellschaft der Arya in Indien, idealtypisch genommen, baute sich um folgende Funktionen auf, die an sich zu jeder menschlichen Existenz gehören (hier von unten nach oben zu lesen):

 

Brahmanen

Ksatryas 

Vaisyas 

Sudras 

(Priester):

(Krieger + Beamte):

(Kaufleute):

(Bauern + Handwerker):

Spirituelle Vermittlung 

Politische Vermittlung

Ökonomische Vermittlung 

Produktionsarbeit 

(Kirchlichkeit) 

(Staatlichkeit) 

(Konkurrenz) 

(Subalternität) 

          

In der asiatischen Despotie, die deshalb leicht als »staatssozialistisch« aufgefaßt werden konnte, verharrt die überwältigende Mehrheit der Gesellschaft auf dem Niveau der Subalternität, und es stehen ihr alle übrigen, höheren Funktionen in Gestalt des einen Pharaos, Inkas oder dergleichen gegenüber. Die Arbeitsteilung zwischen Priestertum, Militär, Verwaltung und Handel findet gewissermaßen innerhalb seiner Person statt; er ist auch Erster Kaufmann. Das kam in der Sowjetunion erst einmal neozaristisch wieder. 

Bei den indogermanischen Stämmen nun (tendenziell auch bei den Arya in Indien) hatten die politische (»feudale«) und die kaufmännische (»bürgerliche«) Kaste immer eine gewisse Selbständigkeit, einen Autonomie-Spielraum gegenüber der Königs- bzw. Kaiserebene, die sich hier nie ganz gottköniglich ausprägte. So war es in Europa (zuerst klassisch in Athen) möglich, daß die gesamtgesellschaftliche Macht, die nach Platon »eigentlich« dem Heiligen König gebührte, absank — zuerst zur Aristokratie, dann zur Kaufmannschaft, dann zu den Subalternen — bis das Scherbengericht über Sokrates möglich war.

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Man kann aber den städtischen Marktplatz, das Forum, die athenische Agora auch als eine Stufe von unten nach oben betrachten. Was der Aristokratie und den großen Kaufleuten als Plebs und Pöbel erscheint, bedeutet dann in Wirklichkeit eine erste »allgemeine Emanzipation«, bedeutet, daß sich die Mehrheit (wenigstens der städtischen Menschen) von der Stufe zur Arbeit gezwungener Subalternität auf die Stufe unternehmerischer Konkurrenz erhebt! Das ist Europas weltgeschichtlicher Beitrag gewesen. Kapitalismus als Formation bedeutet die Herrschaft des unternehmerischen Prinzips — und zwar in allen Dimensionen unserer Praxis, nicht zuletzt in Wissenschaft, Technik, Staat — und Spiritualität, Kunst, Philosophie.

Gegenwärtig schickt sich nun die Gesellschaft im bisher sowjetischen Machtbereich an, das unternehmerische Moment der menschlichen Existenz in seine Rechte einzusetzen. Das Drama besteht jedoch darin, daß bis heute nicht eindeutig kenntlich ist, wie sich der europäische Mensch von der unternehmerischen auf die politische Verantwortungsebene erheben wird. Der bürgerliche Mensch ist grundlegend von seiner Wirtschaft, von der Geldvermehrung besessen. Die »Reichssozialismen« asiatischen Charakters haben das von Marx als neue Tyrannis (»Diktatur des Proletariats«) für den Westen geforderte Primat der Politik über die Ökonomie auf anderem Wege in die industrielle Welt transportiert. Der »stalinistische« Mensch besitzt seine Wirtschaft, allerdings nicht individuell, sondern kollektiv, und das Prinzip irritiert so sehr, weil es despotisch verlarvt auftritt. 

Es ist aber absurd, die darin enthaltene Notwendigkeit ausgerechnet in dem Moment zu ignorieren, da die DDR politisch volkseigen und damit die demokratische Verfügung über die Grundrichtung des ökonomischen Prozesses möglich wird.

Zumindest was die Mitglieder der SED betrifft, dürften bei diesem Salto mortale Schuldgefühle eine Rolle spielen, die nun allerdings kurzschlüssig abreagiert werden. 

Da ich Genosse war, als ich dieses Buch schrieb, auch danach nicht ausgetreten bin, sondern ausgeschlossen werden mußte, gehören ein paar Worte an diese Adresse hierher, und zwar vor allem an diejenigen gerichtet, die aus Überzeugung dabei waren oder gar noch dabei sind.

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Das Versagen der SED ist in den Zusammenhang der allgemeinen Krise eingebettet, die den real existierenden Sozialismus asiatischer Formation schüttelt. Und da wir hier mitten in Europa sind, drängt sich nun um so stärker eine andere Restauration auf, die nur zu begründet ist, weil echte Errungenschaften der europäischen bürgerlichen Revolution gewaltsam verdrängt worden waren und unbedingt zu ihrem Recht kommen müssen.

Was aber weniger unvermeidlich war und weshalb der Ablauf der Ereignisse jetzt für die SED und ihre Menschen tragikomische Züge annimmt, ist das Verpassen der letzten 5 Jahre, in denen Michail Gorbatschow jene Reformation versucht, auf die so viele von uns jahrzehntelang gewartet haben. Verloren ist damit die Chance, die in der DDR größer gewesen wäre als in der Sowjetunion, autonom den Weg zu realisieren, den ich den ganzen Schlußteil lang die »Strategie einer kommunistischen Alternative« genannt habe. 

Die Stunde für die Idee eines »Bundes der Kommunisten« ist vorbei. Es hat ein anderer Weg begonnen, der einen anderen Typ von Führung verlangt.

Die Menschen jedoch, die hier einen Frühling wie den Prager hätten machen können, waren da und sind da, wenn auch der Impuls unter der Asche verschüttet und vergiftet ist. In der Tschechoslowakei hatten eine halbe Million Genossinnen und Genossen die Ehre, »Partei der Ausgeschlossenen« zu sein, nachdem sie 1968 Gelegenheit gehabt hatten, ihren Willen zum Bruch mit dem dumpfen Despotismus zu beweisen. Es liegt zwar nicht nur, aber auch an den verwandten Menschen hier, wenn sie jetzt 20 Jahre später viel unglücklicher dastehn.

Wie gesagt, auch ich war SED, im Guten wie im Bösen, Kandidat seit 1952, Mitglied seit 1954. Ich bin mitverantwortlich für ihren ganzen Weg. Da wir so steckengeblieben sind, frage ich mich auch jetzt noch einmal, wodurch ich daran beteiligt war. 

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Ich war beispielsweise beteiligt an unserer gegenseitigen Inquisition am Philosophischen Institut der Humboldt-Universität Ende der 50er Jahre. Ich habe mich damals nicht klar zu Robert Havemann bekannt und mich hinter kleinen politischen Meinungsverschiedenheiten zu ihm versteckt. 1959 habe ich, der ich 1956 diese Art Kritik an meiner Ungarn-»Abweichung« gar nicht liebte, in einer Dorfzeitung im Kreise Seelow einen schwungvollen Hetzartikel gegen einen Bauern, SED-Mitglied, losgelassen, der nicht in die LPG wollte. Zum Glück hat mir der alte Jan Petersen dann auf einer Tagung scharf den Kopf dafür gewaschen. Später, 1965, habe ich in der Zeitschrift Forum mit dem Dichter Günter Kunert ( G. Kunert bei u1 ) gestritten, als wüßte ich nicht, daß hinter meiner Schreib­maschine noch andere Mächte mitwirken. Das war allerdings eine der Selbsterfahrungen, die mich aufgeweckt haben.*

Ich bin auch mitverantwortlich für den Weg der SED in den letzten zehn Jahren. Ohne eine Verbundenheit mit der sozusagen überwirklichen Idee der Partei wäre ich jetzt nicht hier. 1979 habe ich die DDR verlassen, ohne es unbedingt zu müssen. Ich hatte gute Gründe, und doch sind sie nicht alle selbstlos gewesen. Manche Motive ließ ich gar nicht bewußt werden; Und ich habe Anfang 1987, als ich endgültig sah, was Michail Gorbatschow versuchen will, nicht energisch und vernehmlich wieder an die Tür geklopft. Ich habe die Unruhe nicht vermehrt. Auch mich traf so der Spruch: »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.« 

Nach dem »Sieg« des Überdauerns, der den reaktionärsten Apparatleuten gelassen wurde, ist die SED zu nichts mehr gut, muß sie als Partei verschwinden. Sie ohne Kontinuitätsbruch — samt Apparat und samt halb feudal, halb asiatisch erworbenem Eigentum — reformieren zu wollen, gehört zum Krankheits­bild. Jede »Plattform«, die sich im Augenblick der äußersten ideologischen Beliebigkeit noch auf die Partei bezieht, zeugt den Krebs mit fort. Was wir heute als SED-PDS sehen, ist nur die um ein weiteres Stadium fortgeschrittene Agonie.

Das Namenskürzel steht für Stalinismus-Sozialdemokratismus, zwei scheinbar weit voneinander entfernte Phänomene, die aber in puncto Prinzipienlosigkeit und Opportunismus von jeher ebenbürtig sind. 

Es ist für niemand wichtiger, diesen Verein aufzulösen, als für die Hauptbetroffenen, die sich gegenseitig darin gefangen halten. Zur SED gehörte sicherlich gut die Hälfte der Menschen, die für eine gesellschaftliche Erneuerung aktivierbar sind. Ich wüßte nicht, wie es zu einer bei der eigenen Bevölkerung aussichtsreichen Konzeption kommen soll, wenn sich nicht die Reformkräfte innerhalb mit denen außerhalb der bisherigen SED zusammenfinden. Aber das kann nur auf dem Terrain der neuen politischen Kräfte geschehen. Toleranz dafür, daß Leute, die bei was Neuem mitwirken wollen, immer »noch« nicht ausgetreten sind, »Probleme« mit dem Schlußstrich haben, kann nur verderblich für die Zukunft sein. Wenn die SED nicht en bloc aus dem Wege geht — das tut sie offensichtlich nicht —, dann müssen ihr die Menschen aus dem Wege gehen, die dieser Gesellschaft noch etwas geben wollen. Man kann nicht auf einer Müllkippe biologisches Gemüse anbauen. 

Soweit sich die Gesellschaft darüber klar ist, daß das Versagen der SED zugleich ein Spiegel der Volksseele ist, kann ihr Schicksal — was auch immer da die fernere Perspektive sei — eine allgemeine Erfahrung der »Reinigung durch Furcht und Mitleid« sein. Denn natürlich ist die Partei in ihrer gesamten Geschichte psychologisch gesehen auch ein zugehöriger Schatten der DDR-Bevölkerung und des ganzen deutschen Volkes, wie Honeckers Politbüro noch einmal der Schatten der ganzen SED war. Der Menschentypus, der in München eher in die CSU, in Bremen eher in die SPD ging, war halt in Leipzig eher in der SED.

555-556


Der Leipziger Delegierte K.Klein hat auf dem Dezember-Parteitag treffend von dem kleinen Josef Wissarionowitsch gesprochen, der in uns allen steckt. Dieses Männlein stammt eben nicht einfach aus Moskau oder aus Gori im Kaukasus, sondern ist in dem einen Augenblick die Ausgeburt unserer eigenen Angst, im anderen die Ausgeburt unseres eigenen Mißtrauens, im dritten die Ausgeburt unseres Willens zur Macht. Und diese drei zusammen — Angst, Mißtrauen, Wille zur Macht — setzen ein beklemmtes Herz voraus.

Der ganze historische Mummenschanz hat mit unserer inneren Bühne zu tun. Warteten dort nicht alle die Puppen und Requisiten in den Kulissen, Hitler und Stalin wären verkrachter Maler und entlaufener Seminarist geblieben. Anders als nach 1945 sollte es diesmal eine Vergangenheitsbewältigung in den Seelen geben, auch in den subalternen, die im Grunde ein Regime brauchen, auf das sie schimpfen und die Verantwortung abschieben können. Wer immer dieses Buch durchgelesen hat, wird spüren, daß es unmöglich wäre, ihm durch eine aktuelle Redaktion den Kommunismus auszutreiben. Ist es auch nicht orthodox und antwortet es auch auf die Gretchenfrage wie Goethes Faust »Name ist Schall und Rauch«, so besteht es dennoch um so mehr auf dem ausschlag­gebenden Zusatz »umnebelnd Himmelsglut«. Es ist aus einem Glauben geschrieben, und der Berg ist nicht erloschen.

Die Grundmotive, die mich in den siebziger Jahren bei der Niederschrift geleitet haben, erscheinen mir unverbraucht. Besonders weit bin ich von der jetzt herrschenden Meinung entfernt, daß der »Stalinismus« — unter dieser Überschrift wird ja momentan der ganze historische Prozeß seit 1917, samt China, Kuba usw., abgeschrieben — nichts und der »moderne« Kapitalismus nur noch nicht genug gebracht hat, um die Menschheitsprobleme zu lösen. In meinen Augen gilt von der ökologischen Krise her mehr denn je, was mit der Alternative »Sozialismus oder Barbarei« gemeint war (obwohl Grün geistig-politisch völlig anders als Rot darauf reagiert).

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Immerhin erkannte mich der westdeutsche Politökologe Carl Amery 1979 als heimlichen Grünen, ehe ich eintraf. In der Dynamik der westlichen Industrie­zivilisation ist eine Logik der Selbstausrottung am Werke. Dagegen habe ich eine »Logik der Rettung« entworfen, die sich mit den Grundlagen ökologischer Politik befaßt. Zum Beispiel habe ich darin in ausführlicher Debatte mit Kurt Biedenkopf gezeigt, daß der Marktmechanismus — wofür auch immer er gut sein mag — keine Handhabe bietet, um den Expansionismus unserer Produktiv- oder vielmehr Destruktivkräfte wenigstens zu begrenzen.

So habe ich im November 1989 — als ich bei Franz Alt in <Report> meine Rückkehr in die DDR ankündigte — auf die Frage nach meinem Thema geantwortet: Kommunismus und Ökologie. Zur Kürze gezwungen, hatte ich keine Zeit, mich wortreich gegen die allfälligen (allenfalls, gegebenenfalls, etwaig, eventuell) Mißverständnisse abzuschirmen, und es war gut so, denn das ist das Thema der Epoche: Kommunismus und Ökologie, oder besser umgekehrt: Ökologie und Kommunismus. In dem Augenblick, wo sich der Zusammenbruch des realsozialistischen Industrialisierungsmodells vollendet, wird es im Westen nur um so dringlicher, eine politische Sphäre zu schaffen, mit der sich die — von ihrer Wirtschaft besessene — Gesellschaft Zügel anlegen kann.

 

Leider habe ich seit 1979 aus Vorurteil versäumt, Wolfgang Harichs <Kommunismus ohne Wachstum> zu lesen. Wahrscheinlich steht da, konzentriert auf das grüne Paradigma, im wesentlichen dasselbe drin wie im vorliegenden Text, Kapitel 10, und wahrscheinlich noch ein bißchen mehr. Jedenfalls erschien Wolfgang Harich im Dezember 1989 bei einer Veranstaltung unterm Berliner Fernsehturm, an der ich beteiligt war, und unterstützte meine Grundposition in einer Weise, wie ich selbst sie nicht noch zusätzlich hätte unterstreichen können. Ich muß annehmen, daß wir von weither übereinstimmen. Völlig unabhängig davon ist es höchste Zeit, ihm noch zu seinen Lebzeiten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen — juristisch (er hat viermal so lange gesessen wie ich) und als Denker, dessen Schriften verlegt werden müssen, weil sie gebraucht werden. 

Für die ökonomische Dimension der menschlichen Existenz bleibt Kommunismus die notwendige einfache Lösung, die vor allem dann schwer zu machen ist — wenn wir nicht Schüler jener Meister werden wollen, die sie immer lehrten (darunter laut Apostelgeschichte auch Jesus aus Galiläa). Politisch freilich geht das nicht kollektivistisch, sondern nur als Republik der Könige und Königinnen, wie sie unsere größten Aufklärer verlangt haben. Geistig-geistlich setzt das aber die innere Befreiung voraus, zu der uns jene Meister den Weg gewiesen haben: den Weg des Ich-Entwerdens, der Selbst-Vergessenheit. 

Der idealistische Kommunismus des materialistischen 19. Jahrhunderts, den wir von Marx gelernt haben, hat da nur den einen Fehler: bei weitem nicht hinreichend zu sein. Gegen den meist vulgären praktischen Materialismus des 20. Jahrhunderts, der uns träg ins Verderben reißt, hilft nur das innere Erfahrungswissen, daß der lebendige Geist die Mauern jedes zum Gefängnis gewordenen Tempels niederzureißen vermag. Wenn sich der Sturm aus der Tiefe der menschlichen Wesenskräfte erhebt, vergeht die Anziehungskraft der Konsumtempel in einer Nacht. 

Noch kann der Mensch sich retten. In den Zeiten tiefster Umbrüche und Krisen wird die Geschichte durch die konzeptionelle Initiative fortgeschrittener Minderheiten neu entschieden. Wir mögen jetzt in der DDR an einem Ende sein — vor allem sind wir an einem Anfang. #

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Rudolf Bahro 1977 Die Alternative Zur Kritik des real existierenden Sozialismus