Teil 3      Start      Weiter (Drittens)

14.  Über die Ökonomik der Kulturrevolution (2)

 

"Der Kommunegedanke dürfte in der Perspektive praktische Bedeutung erlangen, sofern man sich darunter die Vereinigung der Bevölkerung in überschaubaren Gemeinwesen vorstellt, die hinsichtlich der reproduktiven Grundfunktionen des Arbeits-, Bildungs- und Lebensprozesses relativ autonom funktionieren."  Seite 508, hier gekürzt

Erstens    Zweitens

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Die positive ökonomische Aufgabe der Kulturrevolution kann unter einem einzigen Begriff zusammengefaßt werden: jene neue Organisation der Arbeit und des gesellschaftlichen Lebens zu schaffen, auf die sich endlich ein Gemeinwesen gründen kann, das den lange vorgeprägten Namen der freien Assoziation solidarischer Individuen verdient. 

Das ist eine Gesellschaft, in der es keine Herrschaft des Menschen über den Menschen mehr gibt, weil auch der auf Unterwerfung unter subalterne Arbeits­funktionen beruhenden sozialen Ungleichheit der Boden entzogen ist. Die Arbeits­organisation im gesamtgesellschaftlichen Maßstab ist der Kern des letzten ökonomischen Emanzipations­problems, mit dessen Lösung bereits die Emanzipation von der Ökonomie, d.h. von ihrer Dominanz über den sozialen Zusammen­hang beginnt. 

Ihre Umwälzung hat natürlich die Konsequenz, die gesamte Ökonomik, das ganze Verhältnis von Produktion und Bedürfnis wie auch die informationelle Regulation des Reproduktionsprozesses umzuprogrammieren. Es gilt die Selbstbefreiung des Menschen von der Herrschaft der Verdinglichung, von der gegen die Individualität gerichteten Fetischisierung der produzierten Sachenwelt. 

Sowohl das Wachstum der Produktion als auch das Wachstum der Arbeitsproduktivität, das einstweilen noch sehr selten kritisch befragt wird, werden praktisch ihres Heiligenscheins als unentrinnbare ökonomische Erfordernisse verlustig gehen, womit übrigens nicht umgekehrt »Nullwachstum« zum Gesetz erhoben, sondern überhaupt das Kriterium der Quantität von der ersten Stelle verdrängt wird. 

Wenn eine Gesellschaft so weit industrialisiert ist, daß sie ihren Mitgliedern die elementaren Bedürfnisse auf der erreichten Kulturstufe einigermaßen zuverlässig befriedigen kann, muß die Planung des ganzen Reproduktions­prozesses allmählich, aber bestimmt auf die Priorität der allseitigen Entwicklung der Menschen, auf die Vermehrung ihrer positiven Glücksmöglichkeiten umgestellt werden. Die nichtkapitalistische Industriegesellschaft ist im großen und ganzen reich genug dazu, zumindest steht sie an der Schwelle, während sie, wie schon gesagt, bei fortdauernder Herrschaft der bisherigen Ökonomie immer zu arm erscheinen wird. 

Diejenigen Ökonomen, die immer so schnell mit Rechenergebnissen darüber zur Hand sind, was alles wir uns »nicht leisten können«, nehmen stets die bestehende Struktur der materiellen Bedürfnisse zur stillschweigenden Voraussetzung.

Die materielle Unersättlichkeit kostet uns die Freiheit der höheren Entwicklung, unterwirft uns psychischen Regulationen, die auf Zwang beruhen, erzeugt die Stiefmütterlichkeit der Gesellschaft. Dabei signalisiert das immer weiter um sich greifende Unbehagen der Individuen in der bestehenden Zivilisation längst einen solchen Widerspruch, der die bisherige Lebensweise auch dann unhaltbar dastehen ließe, wenn die Abnahme bzw. Verschlechterung der Ressourcen der materiellen Expansion keine Grenzen setzte. 

Übrigens zeigen historische Beispiele, daß gleiche oder ähnliche Resultate menschlicher Entwicklung und menschlichen Glücks bei verhältnismäßig großer Differenz in der Quantität des verfügbaren Produkts möglich sind. Auf keinen Fall lassen sich die Bedingungen der Freiheit in Dollar oder Rubel pro Kopf angeben.

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Die Menschen der entwickelten Länder brauchen nicht Ausdehnung ihrer heutigen Bedürfnisse, sondern Gelegenheit zum Selbstgenuß in ihrer eigenen individualisierten Aktivität: Tatengenuß, Beziehungsgenuß, konkretes Leben im weitesten Sinne. Die Neugestaltung des Sozialisationsprozesses in dieser Zielrichtung wird an der ökonomischen Basis zunächst durch eine systematische Umproportionierung und Umstrukturierung der lebendigen Arbeit und der Akkumulation zugunsten der Entfaltungsbedingungen für die menschliche Subjektivität gekennzeichnet sein.

 

Das ist das Maximalprogramm der Kulturrevolution, das nun in einer Reihe abgeleiteter Aspekte mehr im einzelnen zu verfolgen ist:

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Letzten Endes müssen auch diese Forderungen in direkt eingreifende Maßnahmen umgesetzt werden. Eine bestimmte institutionelle Stabilität, vor allem eine auch bei kontroverser Diskussion über jeweils nächste Schritte aktuell handlungsfähige politische Organisation, war auch schon für die Sofortmaßnahmen vorausgesetzt. Sie muß erst recht immer wieder gesichert werden, wenn der Prozeß in sein Reifestadium tritt. Für die Führung wird sich die Frage erheben, womit zu beginnen ist, an welcher Stelle zuerst die Kräfte für den Durchbruch zu konzentrieren sind. Ich will hier den Grundgedanken vorwegnehmen, weil sich danach besser die operative Funktion der genannten Teilaspekte abzeichnet. Denn die Systematik impliziert keine zeitliche Abfolge, gibt noch keinen Aufschluß über das für die Aktion entscheidende Kettenglied des ganzen Netzes.

Dieses Hauptkettenglied ergibt sich aus der Analyse des Kräfteverhältnisses im gesellschaftlichen Bewußtsein: Man muß die bereits spontan in Gang gesetzte Produktion überschüssigen Bewußtseins noch aktiv forcieren, muß mit voller Absicht einen Bildungsüberschuß erzeugen, der nach Quantität und Qualität so groß ist, daß er unmöglich in den bestehenden Arbeits- und Freizeitstrukturen aufgefangen werden kann, daher ihre Widersprüche zuspitzt und ihre Umwälzung unausweichlich macht. 

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Das emanzipatorische Potential, das sich auf diese Weise ansammelt und in der Enge der vorgefundenen Verhältnisse unter Überdruck gerät, findet gar keinen anderen Ausweg als den Angriff auf die alte Arbeitsteilung im Reproduktionsprozeß. Schon jetzt beginnen die Wirtschaftsführer — beider Systeme! — einen Überschuß an Hochqualifizierten zu beklagen, für den sie »keine Arbeit«, d.h. keine ressortierten Planstellen haben: Sind die Ressorts einmal besetzt, so mag sich die Gesellschaft danach richten und nicht mehr Wissen verbreiten, als das wissenschaftlich-technische Fabriksystem in seiner gegenwärtigen sozialen Verfassung verwerten kann. Allerdings, es wäre gefährlich, Menschen, die durch den Charakter ihrer Ausbildung für schöpferische Arbeit motiviert sind, jahraus-jahrein an jene stupiden Tätigkeiten fesseln zu wollen, die man Ungelernten und Angelernten (mit besonderer Vorliebe Frauen), nicht selten sogar Facharbeitern, fortgesetzt zumutet. Wenn es bei der bestehenden Arbeitsteilung bleiben soll, muß man also die Ausbildungsrate eher senken als steigern.

Die Kulturrevolution erfordert die entgegengesetzte Politik, wobei freilich nicht die zahlenmäßige Vermehrung der speziellen Qualifikationen die Hauptsache ist. Sie verfolgt den Bruch mit dem Prinzip der Ausbildungsregulierung nach den Anforderungen isolierter, ressortierter Arbeitsplätze und steuert die Gesamtheit der Entfaltungsbedingungen an, die die massenhafte Herausbildung voll sozialisierter, freier Menschen wahrscheinlich machen. Industrie- und Wissenschaftsorganisation werden dann den Bedürfnissen der umfassendsten polytechnischen und -wissenschaftlichen Ausbildung und überhaupt des Wachstums der Persönlichkeiten angepaßt. 

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Alle wirklich entwickelten Individualitäten, die die Gesellschaft schon besitzt, werden ungeachtet ihrer sonstigen Funktionen zu unprofessionellen Lehrern der Jugend werden. Es steht keineswegs von vornherein fest, daß eine solche humanistische Wende auch nur über einen kürzeren Zeitraum das Gesamtprodukt und die Gesamtproduktivität schmälern würde. Marx hat bekanntlich für längere Sicht eindeutig das Gegenteil angenommen. Zumindest innerhalb der Bereiche, in denen jetzt spezialisierte geistige Arbeit betrieben wird, gibt es Anzeichen dafür, daß sich die alten Rationalisierungsprinzipien in der Zerstörung der Motivation für schöpferische Leistung totlaufen. 

In jedem Falle wird die Kulturrevolution die Gesellschaft über jenen Zustand hinausführen, in der der Ausstoß der Industrie pro Zeiteinheit als maßgebendes Kriterium des Fortschritts behandelt wird. Wenn die Gesellschaft sowohl das Bildungswesen als auch die Produktion so organisiert, daß alle Individuen in entsprechender theoretischer und praktischer Tätigkeit eine wissenschaftliche und künstlerische Allgemeinbildung höchster Stufe erwerben können, die ihnen die differenzierte Aneignung des sozialen Ganzen ermöglicht, so erzwingt dieses Potential in der Praxis die Umverteilung der Arbeit und die Selbstverwaltung aller gesellschaftlichen Angelegenheiten.

Allerdings darf dieser Angriff auf die Kernsubstanz der Herrschaftsverhältnisse nicht planlos vorgetragen werden. Die komplizierte Ökonomik hochindustrialisierter Gesellschaften verträgt keinen Desorganisationsschock. Die ökonomische Revolution muß bei aller Radikalität des Ziels die Form der geordneten Transformation haben, also von vornherein den systematischen Zusammenhang berücksichtigen, der in dem zuvor skizzierten Tableau der Aktionsaspekte — ohne Anspruch auf Vollständigkeit — umrissen ist, und die Proportionalität der verfügbaren Arbeitskraft wahren. Deshalb ist es dringend notwendig, den ganzen Komplex der Folgerungen vorausschauend zu durchdenken. Erforderlich wären kollektive Planspiele an möglichst realistischen Modellen. 

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Man mag durchaus berechtigt einwerfen, daß Schlachtpläne in der Praxis selten oder nie so durchführbar sind, wie sie auf dem Reißbrett der Strategen entworfen wurden. Dennoch sind sie unerläßlich, um mindestens die Aktivisten vorab mit dem Terrain der Operationen und mit den zu erwartenden Momenten der Situation vertraut zu machen.

 

Erstens — Produktionsziel reiche Individualität

Noch sind die Menschen in der nichtkapitalistischen Produktion organisiert wie für einen Krieg ums Überleben, in dem jeden Tag von neuem die letzten Reserven an die Front geworfen werden. Es gibt in diesem Reich der Notwendigkeit keinen sicheren Freiheitsspielraum für die Selbstverwirklichung und das Wachstum der Persönlichkeit. Die emanzipatorischen Interessen sind weitgehend von ihm ausgesperrt. 

In diesem Sinne habe ich die Produktion im 11. Kapitel rein als eine Sphäre des absorbierten Bewußtseins behandelt. Man könnte sagen, daß dies eine vereinfachende Abstraktion ist. Gewiß, und sie war auch nur vom Standpunkt der dort interessierenden politischen Analyse so ohne jede Relativierung herausgearbeitet. Zweifellos gehen von der Produktion auch in ihrer heutigen mehr denn je auf a priori abstrakte Arbeit gegründeten Form nicht nur mittelbar, sondern auch unmittelbar für bestimmte Individuen und Gruppen Entwicklungsanstöße aus. Dies sind jedoch zufällige Effekte; sie füllen nur minimale Anteile der individuellen Zeitpläne aus und haben nur selten einen Bezug auf die zentralen Antriebe der Persönlichkeitsentwicklung. Gerade daraufhin aber ist die Produktion umzugestalten. Die strenge Grenze zwischen den Reichen der Freiheit und der Notwendigkeit muß von der Freiheit überschritten werden. 

Bei dieser Zielsetzung kommt man nicht an Maßstäben vorbei, die infolge des ideologischen Niederschlags der Entfremdung in der offiziellen Wissenschaft seit Beginn der industriellen Ära immer nachhaltiger unterschätzt wurden und erst in den letzten Jahrzehnten wieder voll ins Bewußtsein zu treten beginnen: an bestimmten anthropologischen Konstanten. 

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Der heutige Marxismus-Leninismus hat aufgrund seiner Verhaftung an den nichtkapitalistischen Nachholweg der Industrialisierung ein tief sitzendes Mißverhältnis zur Anthropologie; es gibt kaum einen Punkt, in dem er Marx gründlicher mißverstehen muß als in diesem

Wo Marx die Tatsache konstatierte, daß unter Entfremdungsverhältnissen im allgemeinen und unter kapitalistischen Verhältnissen im besonderen die menschliche Natur von dem gegenüber dem humanen Gesamtzusammenhang verselbständigten ökonomischen Prozeß überrollt wird und daher auch keinen festen Punkt zu ihrer Umwälzung bieten kann, vollzieht der Marxismus-Leninismus den Salto mortale, den ganzen anthropologisch gesicherten Fundus für prähistorisch, d.h. für historisch irrelevant zu erklären und aus der materialistischen Geschichtsauffassung auszuklammern. Da er ein System ideologisch zu rechtfertigen hat, in dem die Entfremdung blüht, umgibt er gerade ihre systemcharakteristischsten Erscheinungsformen mit dem Anschein der Ewigkeit

Wo er der Forderung nach Freiheit begegnet, stilisiert er sie eilfertig zur außergeschichtlichen Illusion absoluter Schrankenlosigkeit zurecht, um die aktuellen Schranken zu vernebeln, die der menschlichen Emanzipation entgegenstehen (es waf nicht zufällig die »liberalste«, die ungarische Parteiführung, die sich gezwungen sah, diese letztere Eskamotage besonders exemplarisch einzuüben). 

Der ursprüngliche Marxismus — daran will ich hier noch einmal erinnern — hält am Kommunismus als vollendetem Naturalismus fest und betrachtet in diesem Zusammenhang die Individualität nicht nur historisch-relativistisch, sondern auch als Schnittpunkt jener gattungsmäßigen Fundamentalbedürfnisse

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Was jeweils Reichtum der Individualität konkret bedeutet, das ist völlig aktualhistorisch bedingt durch die gegebene Höhe und Mannigfaltigkeit der Kultur. Aber es ist eben nicht wahr, was Ranke sagte, es sei »jede Epoche gleich nahe zu Gott«, weil der objektive Reichtum zum einen seit Ausgang des Urkommunismus immer klassenmäßig ungleich aneigenbar war und weil er zum anderen epochenverschieden mehr oder weniger antagonistisch zu den anthropogenetisch ausgebildeten sozialen Grundbedürfnissen strukturiert sein konnte. Der Kapitalismus z.B. ist das »gottferne« Zeitalter. Mehr noch als die materiale Struktur der Kulturgüter ist es oft die Art und Weise ihrer Aneignung selbst, die dem natürlichen Maß des Menschen zuwiderläuft (denken wir etwa, für den Extremfall, an den abstrakten Hunger des Wucherers, den Balzac beschrieben hat). 

Eine gewisse Psychologie nährt mit ihren Laboratoriumsexperimenten das konforme Vorurteil, es sei nur eine Frage der »Konditionierung«, an was für Zustände man den Menschen gewöhnen" könne. Aber man darf nicht vergessen, daß sie am Menschen jeweils nur ein isoliertes und präpariertes Anlagen-»Konstrukt« manipuliert und sich aus guten immanenten Gründen weigert, etwas über die menschliche Subjektivität als individuelle Gestalt und über die Bedingungen des menschlichen Glücks auszusagen. Eine der wesentlichen Voraussetzungen für eine kulturrevolutionäre ökonomische Politik ist eine Entwicklungstheorie der menschlichen Individualität, die sich weder von dem Fetischismus der »objektiven Anforderungen« noch von der eindrucksvollen Anpassungsfähigkeit der Psyche übermächtigen läßt und normative Aussagen wagt. 

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Die kommunistische Forderung lautet kurz, den ganzen Produktions- und Reproduktionsprozeß des materiellen Lebens so zu gestalten, daß der Mensch als Individualität dabei — wie es der die Entfremdung spiegelnde Ausdruck apostrophiert — auf seine Kosten kommt. Das zielt dann freilich auf eine ganz andere als die gewohnte Rechnung ab, auf eine Rechnung, die zwar niemals bis zu Ende aufgehen wird, aber um so geduldiger und hartnäckiger verfolgt werden muß. Bisher kann hier niemand von einem Scheitern reden, weil der Versuch noch niemals unternommen wurde. Erfahrungen aus kleinen Gruppen beweisen natürlich wenig, auch im Positiven — sonst wäre ja schon die Praxis bestimmter urkommunistischer Gemeinwesen Beweis genug. 

Wir haben es jetzt mit Gesellschaften zu tun, die als Ganzes nicht mehr im entferntesten von einem Netz primärer Gemeinschaftsbeziehungen überzogen und zusammengehalten sind und deren Praxis nicht unmittelbar zur sinnlichen Anschauung gebracht werden kann. Die Frage lautet, wie und nach welchen Kriterien die proportionale Entwicklung einer großen Volkswirtschaft geplant werden muß, wenn das Produktionsziel reiche Individualität praktisch vordringen soll., Denn im Selbstlauf des ökonomischen Wachstums — wie die offizielle ökonomische Doktrin glauben machen will — stellt es sich gewiß nicht her. 

»Die wirkliche Ökonomie — Ersparung — besteht in der Ersparung von Arbeitszeit«, sagt Marx (Grundrisse/599), und unsere Wirtschaftsleitung spricht es ihm nach. Aber Marx fordert, »die Arbeitszeit für die ganze Gesellschaft auf ein fallendes Minimum zu reduzieren und so die Zeit aller frei für ihre eigene Entwicklung zu machen« (ebenda 596), weil »die Surplusarbeit der Masse... aufgehört hat), Bedingung für die Entwicklung des allgemeinen Reichtums zu sein« (ebenda 593). Dagegen strebt sie genau wie das Kapital danach, »ei» nerseits disposable time zu schaffen, andrerseits to convert it into surplus labour« (ebenda 596), setzt also unentwegt »den Reichtum selbst als auf der Armut begründet und die disposable time als existierend im und durch den Gegensatz zur Surplusarbeitszeit« (ebenda).

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Die Partei- und Staatsbürokratie verhält sich insofern kapitalanalog, als sie sich von dem Bestreben leiten läßt, sich abstrakte Arbeit, Mehrarbeitszeit, Wertsubstanz anzueignen, um ihr geballtes Gewicht als Herrschaftsmittel zu benutzen. Der Zweck ist hier natürlich nicht Profit als solcher, sondern die Legitimation der Macht, immer noch vor demselben Hintergrund wie in dem biblischen Gleichnis von Josef dem Ernährer: Der Speicher muß voll sein, wenn Pharao in den sieben mageren Jahren vor dem Volk bestehen will.

Aber von daher durchzieht der Gegensatz von Arbeitszeit und Freizeit, von gesellschaftlicher Produktion und privater Konsumtion die ganze Lebensform des real existierenden Sozialismus, und die Grenze zwischen den Reichen der Freiheit und der Notwendigkeit wird unablässig von der Notwendigkeit überschritten: leben, lernen, verbrauchen, entspannen, genießen, um die Arbeitskraft für den nächsten Produktionszyklus wiederherzustellen. Es ist von A bis Z der Teufelskreis der alten Ökonomie. Ihn zu durchbrechen, das ist die wirkliche Hauptaufgabe, die die Existenz und die Führungsrolle einer Kommunistischen Partei rechtfertigt, hier wird der neue Bund der Kommunisten das Hauptfeld seiner Tätigkeit haben. Denn hiervon hangt der Spielraum ab, den der Gesamtzusammenhang des gesellschaftlichen Lebens der freien Entfaltung der Individuen, der Entwicklung der reichen Individualität eröffnet.

Verkürzung des Arbeitstages sei die Hauptbedingung, hatte Marx lakonisch resümiert. Das war zu einer Zeit, als 6 Arbeitstage pro Woche noch je 10 bis 12 Stunden hatten. Heute ist man in den entwickelten Ländern nicht allzu weit davon entfernt, diese Dauer halbiert zu haben. 

Die Produktivität in den USA, in Westeuropa und Japan ist so hoch, daß das staatsmonopolistisch dirigierte Kapital zum ersten Mal in seiner Geschichte von sich aus daran denken muß, die Arbeitszeit zu verkürzen, um der Arbeitslosigkeit in der Phase des Konjunkturanstiegs Herr zu werden. 

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Eine wöchentliche Durchschnittsarbeitszeit von, beispielsweise, 5 mal 6 Stunden würde, von relativ wenigen Härtefällen abgesehen, rein quantitativ betrachtet keine Entwicklungsschranke für die Individuen mehr setzen. Die »Nichtarbeit der Wenigen« (einschließlich ihrer verhüllteren Formen) hätte endgültig aufgehört, Bedingung »für die Entwicklung der allgemeinen Mächte des menschlichen Kopfes« zu sein (Marx, Grundrisse/ 593). Indessen zeigt die Erfahrung seit Marx, daß sich die wachsende Freizeit nur sehr bedingt in emanzipatorischen Effekten niederschlägt, weil die von der Gesellschaft vorkonfektionierten Betätigungsweisen in Arbeitszeit und Freizeit für die Masse der Individuen den subalternisierenden Charakter gemein haben, der überdies selbst noch den Bildungssektor dominiert. Verkürzung des Arbeitstages reicht also nicht hin.

Wie mir scheint, ist die Marxsche Perspektive in diesem Punkte etwas unscharf, da er, wie inzwischen öfter ausgesprochen wurde, die Frage des Verhältnisses zwischen Reich der Notwendigkeit und Reich der Freiheit zuletzt in der Schwebe ließ. Im wesentlichen dürfte es sich darum handeln, daß er nicht mehr dazu gekommen ist, hier auf dem Niveau des »Kapitals« (die berühmte Stelle im Dritten Band, MEW 25/828) jene Dialektik zwischen Fähigkeit und Tätigkeit wieder explizit herauszuarbeiten, die er in den Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten so eindeutig bestimmt hatte. In den Grundrissen (595) lautet die Perspektive-Formel: »Die freie Entwicklung der Individualitäten, und daher nicht das Reduzieren der notwendigen Arbeitszeit, um Surplusarbeit zu setzen«, (soweit klar) »sondern überhaupt die Reduktion der notwendigen Arbeit der Gesellschaft zu einem Minimum, der dann die künstlerische, wissenschaftliche etc. Ausbildung der Individuen durch die für alle freigewordne Zeit und geschaffnen Mittel entspricht.« Auch dies ist klar, was die Intention angeht.

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Jedoch fragt sich, ob nicht die unvermittelte Dichotomie zwischen »künstlerischer, wissenschaftlicher etc. Ausbildung« und »notwendiger Arbeit« — an und für sich innerhalb antagonistischer Horizonte angesiedelt — die reale Problematik etwas verwischt. Reduktion der notwendigen Arbeit zu einem Minimum — ja, sofern notwendige Arbeit entfremdete Arbeit bzw., umfassender, psychologisch unproduktive und selbst kurzzeitig für den physischen Ausgleich verlorene Tätigkeit ist. Aber es geht eigentlich darum, die scharfe Grenze zwischen notwendiger Arbeit (im allgemeineren Sinne) und freier Tätigkeit zwar nicht einzuebnen (das hieße sicherlich zuviel erhoffen), doch immerhin durchlässig zu machen. 

Teilnahme an allen funktionell charakteristischen Arten notwendiger Arbeit wird stärker denn je zu einem der wesentlichsten Medien der Aneignung von Kultur. Der Realitätssinn der meisten Intellektuellen leidet sehr darunter, daß sie~von der nach wie vor zentralen Sphäre des allgemeinen Zusammenhangs keine nähere Vorstellung haben und nur allzu ungefähr wissen oder zu wissen glauben, wovon Ökonomie — und speziell unter den Bedingungen hochentwickelter Technik — eigentlich handelt, und. über welche Mechanismen sie die Konsequenzen mitzutragen haben.

Ich schlage vor, der Forderung nach Reduzierung der notwendigen Arbeitszeit im Hinblick auf die gegenwärtige Situation präzisierend anzufügen: vorrangig Verkürzung der psychologisch unproduktiven Arbeitszeit innerhalb der notwendigen Arbeitszeit. Daraus ergibt sich eine Reihe wichtiger konkreter Folgerungen für die Planung und Organisation des Reproduktionsprozesses, die in letzter Instanz auf die sukzessive Umverteilung der Arbeit hinwirken, während sie primär darauf abzielen, innerhalb der Arbeitssphäre den Spielraum für die Aneignung übergeordneter Zusammenhänge durch psychologisch produktive Tätigkeiten zu erweitern. Generell muß die sozialistische Wirtschaftsplanung von der lebendigen Arbeit ausgehen, d.h. direkt von der gesellschaftlichen Arbeitszeitbilanz und ihrem Zusammenhang mit der Bedürfnisstruktur, und nicht zuerst von der Bilanz der materiellen Fonds, also von der vergegenständlichten Arbeit. 

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Mehr noch: vom Standpunkt des Produktionsziels reiche Individualität muß man sogar einen Schritt weitergehen, einen Schritt hinter die Arbeitszeitbilanz zurück, und den Anfang mit der gesellschaftlichen Zeitbilanz, mit dem Zeitbudget der Individuen schlechthin machen, um von hier aus, zunächst im Quantitativen, die Gleichheit der Entwicklungschancen in den Rahmenbedingungen für die individuellen Zeitpläne zu verankern. Insbesondere muß gesichert werden, daß den Bildungsaktivitäten in der Jugendphase aller Individuen der notwendige Zeitraum für das im 10. Kapitel skizzierte Bildungsziel reserviert wird (wobei man sich den Bildungsweg durchaus nicht zwangsläufig oder gar ausschließlich in Gestalt des multiplizierten jetzigen höheren Schulsystems vorstellen muß). 

Was so in den Mittelpunkt der Planung rückt, das wird eine neue Ökonomie der Zeit. Das wird die Ökonomie der Zeit, an die Marx für das Reich der Freiheit gedacht hat: zweckmäßige Einteilung der Zeit für Allseitigkeit der Entwicklung und des Genusses im gesellschaftlichen wie im individuellen Maßstab (Grundrisse/90). Diese neue Ökonomie der Zeit wird auch Kosten (abstrakte Arbeitszeit) sparen, aber in erster Linie konkrete Lebenszeit gewinnen. Ihre »Zielfunktion« wird die Maximierung der »Zeit für Entwicklung«, der »Zeit für produktive Aneignung der Kultur« sein. Lebenszeit als Entwicklungsraum — das eben ist, als Prozeß in einer konkreten Kultur gesehen, die reiche Individualität. Die Wirtschaftsplanung legt — soweit ihre prägende Kraft reicht — wie schon angedeutet, die Rahmenbedingungen dafür fest, nämlich die Marken des individuellen Zeitplans, und sie beeinflußt dadurch indirekt ausschlaggebend die in ihm beschlossenen qualitativen Möglichkeiten, die Befindlichkeitsdispositionen für die individuelle Aktivität weit über die notwendige Arbeitszeit hinaus, unter Umständen negativ bis hin zur Einübung absoluter Konzentrationsunfähigkeit.

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Das erste Problem, das im Zeichen des planerischen Primats der lebendigen Arbeit eine völlig neue Antwort verlangt, betrifft die volkswirtschaftlichen Reserven im Verhältnis zum Plan, jedoch nicht etwa beschränkt auf das Problem einer zentralisierten Staatsreserve. Soviel auch offiziell darüber räsoniert wurde, ist es weder praktisch noch theoretisch auch nur ausreichend, nämlich in seiner gesamtgesellschaftlichen Bedeutung verstanden worden.' Praktisch dürfte dann die Planung nicht mehr mit der Festlegung der Wachstumsrate beginnen, bei der die Frage der Reserve nur in der entstellten Form auftaucht, von welcher Schwelle ab die Störungen unerträglich werden müßten. Die weitestgehenden theoretischen Ansätze wurden von ökonomisch-kybernetischer Seite gemacht. Konsequenterweise sollte man von der biokybernetischen Analogie ausgehen. Bekanntlich wird die Stabilität des organismischen Lebensprozesses dadurch gesichert, daß die Elemente insbesondere im fundamentalsten, zellularen Bereich multiplikativ vertreten sind, so daß dann auf den komplexeren Ebenen bis hin zur Organspezialisierung vorwiegend mit Reserven anderer (regulatorischer, man könnte übersetzen »organisatorischer« und »technologischer«) Art gearbeitet werden kann. 

Sozialtheoretisch unbewußt geblieben zu sein scheint aber weitgehend, wie nachhaltig das Moment der permanenten Mangelwirtschaft, als Phänomen nicht der Armut, sondern der ökonomischen Regulation, den ganzen Arbeits- und Lebensprozeß der protosozialistischen Industriegesellschaft vergiftet. Wenn es keinen qualitativen Unterschied zwischen dem Gesundheitszustand der Bevölkerung in den hochindustrialisierten kapitalistischen und nichtkapitalistischen Ländern Europas zugunsten der letzteren gibt, so dürfte eine der wesentlichsten Ursachen darin bestehen, daß hier der Streß der Profit- und Einkommensjagd einen psycho- und physiopathologisch »gleichwertigen« Ersatz gefunden hat. 

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In der offiziellen ökonomischen Theorie spielt das Problem der Reserven im allgemeinen im Hintergrund der Intensivierungsdiskussion eine Rolle, jedenfalls bei den weiterblickenden Autoren, die bei dem Stichwort nicht nur an die letzten Kapazitätsprozente denken, die man noch in den Dienst des laufenden oder nächsten Jahresplans stellen könnte. Aber man wagt sich nicht einmal theoretisch zu den Maßnahmen zu entschließen, die der sogenannten Intensivierung an der Basis wirklichen Vorrang verschaffen würden. Was nützt es, dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt Priorität zuzusprechen, wenn es — symptomatisch für die de-facto-Orientierung, die von dem wirtschaftsleitenden System ausgeht — am Jahres-, Quartals-, ja am Monatsende immer wieder in zahllosen Betrieben notwendig wird, die dafür vorgesehenen Kapazitäten »in die Produktion zu schicken«. Material- und Kapazitätsreserven, auch vom bürokratischen Kapazitätsfraß verschonte Kraftreserven im betrieblichen Vorbereitungssektor, Planungs- und Rechnungswesen, sind unerläßliche Bedingungen eines Durchbruchs zu effektivitätsbestimmtem Wirtschaften. Soweit ist das übrigens noch eine rein immanente Kritik. 

Entscheidend in diesem Kontext — und nach den Erfahrungen »unserer Wirtschaftsplanung zweifellos utopisch anmutend — ist aber die Forderung nach einer Arbeitskraftreserve, nach einer bestimmten planmäßigen Überkapazität an lebendiger Arbeit gegenüber der vorhandenen Maschinerie (letzterer und der Material- bzw. Energiebereitstellung wiederum gegenüber dem Ausstoß). Eine gewisse Bewegungsfreiheit im betrieblichen Arbeitszeitfonds ist die elementare Bedingung, um der Phrase vom »Menschen im Mittelpunkt«, vom Menschen als dem »Herrn der Produktion«, ein Minimum an Realität zu verleihen.

Doch es gilt auch in der ferneren Perspektive: Freie Selbstentwicklung kann die Masse der Individuen nur in einer Gesellschaft haben, die mehr produzieren kann, als sie produzieren muß und tatsächlich produziert. 

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Kommunistischer Überfluß — in jedem Falle eine Frage mehr der sozialen Struktur von Produktion und Bedürfnis als der absoluten Güter- und Dienstleistungsmenge — ist in erster Linie Überfluß an Produktionskapazität, Überfluß an potentieller lebendiger Arbeit, »disposable time« im weitesten Sinne. Dieser Überfluß allein kann dem Individuum, jedem Individuum, innerhalb der allgemeinen Arbeitspflicht den Bewegungsspielraum sichern, eine auf seinen individuellen Lebensplan bezogene persönliche Ökonomie der Zeit aufzubauen. Bei wachsender Disponibilität der Menschen werden sich die temporären Abweichungen ihrer Zeitpläne vom Durchschnittsaufwand für notwendige Arbeit mit geringfügiger Steuerung ausgleichen lassen, soweit sich dies nicht automatisch regelt. 

Gegenwärtig müssen die Betriebe ihre Arbeitskräfte so planen, daß deren Kapazität, über die Normzeiten des Sortiments und die durchschnittliche Normerfüllung sowie unter Einbeziehung erst noch zu realisierender Rationalisierungseffekte berechnet, gerade den Plan der Warenproduktion abdeckt. Mütter z.B. werden als volle Arbeitskräfte mitgeplant, obwohl ihre Ausfallquote weit über dem Durchschnitt liegt; selbst wenn sie statistisch in diesen Durchschnitt eingeht, betrifft sie doch die spezielle Abteilung und nährt dort überdies die psychologische Abwertung der Frauen als Arbeitskräfte. Gewiß werden die Primärdaten etwas manipuliert, um »Sicherungen einzubauen«. 

Es wäre verantwortungslos von jeder Betriebsleitung, dies nicht zu tun. Außerdem haben die Betriebe hypothetisch insofern eine bestimmte Arbeitskraftreserve, als sie z. B. überhöht geplante Krankenstände und verschiedenste Verlustzeiten, die auf innerorganisatorischen Mängeln beruhen, abbauen könnten. Aber diese Reserven sind aus den behandelten soziologischen und sozialpsychologischen Gründen nur sehr bedingt zu mobilisieren. Vielmehr ist das Klima der Improvisation und Desorganisation ja selbst die Folge der durch das Planungs- und Leitungssystem verursachten Disfunktionen, darunter nicht zuletzt des Arbeitskräftemangels, der die Demoralisierung der am wenigsten sozialisierten Menschen nachhaltig fördert.

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Treten nun zu irgendeinem Zeitpunkt der Plandurchführung Störungen der Materialversorgung oder technische Havarien auf, verzögert sich ein Rekonstruktionsvorhaben, kann die Kaderabteilung aufgrund des allgemeinen Arbeitskräftedefizits die Planbesetzung nicht gewährleisten, klettert der Krankenstand über das geplante Maß usw., dann steigt für das gesamte Betriebskollektiv — und zwar unter Umständen ohne jegliches eigenes Verschulden — die psychische und physische Arbeitsintensität, wenn der Plan dennoch erfüllt werden soll (und Nichterfüllung, soweit sie das Sortiment und nicht bloß die Warenproduktion in Mark betrifft, ist natürlich volkswirtschaftlich unvertretbar). Für das leitende und Betreuungspersonal häuft sich der Ärger, nimmt die »operative Tätigkeit« zu, weil der normale Rhythmus gestört ist und übergeordnete Organe erscheinen, um nach dem Rechten zu sehen; außerdem wird ein Teil seiner Kapazität zusätzlich für die Produktion beansprucht. 

Für die Produktionsarbeiter nehmen die Sonderschichten überhand, die sozialpolitisch schädlich und betriebswirtschaftlich so uneffektiv wie möglich sind. Die technologische Disziplin sinkt ab, auf Sortimentstreue wird womöglich verzichtet, weil die Stückzahl der teuersten (materialintensivsten) Erzeugnisse zum alleinigen Gradmesser wird, um wenigstens die Jahresendprämie zu sichern. Es entsteht eine unwürdige und auch von allen verantwortungsbewußten Arbeitern, Ingenieuren und Ökonomen als unwürdig empfundene Situation, die um so frustrierender wirkt, als sie nicht mehr diskutiert wird, weil ihre Diskussion nach jahrzehntelanger Wiederholung desselben »volkseigenen Krisenzyklus« (wie es der Volksmund nennt) sinnlos erscheinen muß. 

Man ist hauptbetroffen, aber man kann nichts daran ändern. »Nichts entmutigt so sehr, als ein Spiel nicht zu überschauen, von dem das Leben abhängt«, erklärte einst Auguste Blanqui  ( Joachim Höppner / Waltraud Seidel-Höppner: <Von Babeuf bis Blanqui> Band 2, Reclam Leipzig 1975, S.529 ). 

 

 

detopia-2022:  dnb  hoeppner+babeuf     wikipedia Louis-Auguste_Blanqui  1805-1881, 76

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Eine Entlastung kann nur eintreten, wenn die Betriebskollektive mit einer personell realisierbaren Arbeitskräftereserve produzieren können, d.h. wenn der Gesamtplan der Gesellschaft so ausgelegt wird, daß er nicht mehr Arbeitskraft beansprucht, als — Störungen und Eventualitäten eingerechnet — überhaupt verfügbar ist. Mit anderen Worten erfordert dies, dem von der Zentrale ausgehenden unglücklichen Zusammenspiel von Wachstumsrate und Invest-Strukturpolitik ein Ende zu machen und der tatsächlichen Optimierung der bestehenden Kapazitäten eindeutig den Vorzug zu geben. Die Jagd nach der Quantität, nach dem Zuwachs der Warenproduktion, verursacht in vielen Einzelfällen und höchstwahrscheinlich auch unter dem Strich der Gesamtwirtschaft Kapazitätsverluste. 

Speziell die Investitionen binden für ihre Erstellung wie vor allem für ihr Betreiben eine ständig wachsende Zahl von Arbeitskräften. Deren Abzug von bestehenden Kapazitäten ist erstens nur summarisch planbar, da die betroffene Einzugzone meist zu komplex strukturiert ist, und wird zweitens bei den Grundsatzentscheidungen regelhaft zu niedrig ausgewiesen. Charakteristischerweise wird beispielsweise nur die Hauptproduktionsstufe mit der aufwands­intensivsten Ausrüstung korrekt für den Arbeitskräftebedarf durchgerechnet. Unter Umständen läßt man in den Vorbereitungsdokumenten sogar die Fiktion passieren, man brauchte für einen dreischichtig zu besetzenden Arbeitsplatz auch nur 3 statt in Wirklichkeit (Urlaub, Krankheit, Lehrgänge, andere Verlustzeiten) annähernd 4 Arbeitskräfte. Kurz, die Investitionen binden meist — sei die objektbezogene relative Produktivitätssteigerung noch so hoch — absolut eine höhere Anzahl von Arbeitskräften anstatt Arbeitskräfte freizusetzen. 

Die Folge sind eben verlustbringende Proportionalitätsstörungen in bereits vorhandenen Betrieben, die relative Entblößung und Vernachlässigung sämtlicher Produktionshilfs- und Nebenprozesse, besonders des Instandhaltungssektors und ein sowohl durch Mangel an Produktionsarbeitern als auch durch Mangel an Reparaturpersonal bedingter hoher Pegel der Maschinenausfälle. Letzterer wiederum verführt dazu, mehr Maschinerie aufzustellen, also erneut zu investieren, Mehraufwand im Maschinenbau zu binden usw. Es ist eine Schraube ohne Ende.

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Man muß jedoch für die Produktionsarbeiter diese Forderung nach einer Arbeitskraftreserve gegenüber dem Plan noch konkretisieren, um ihnen innerhalb der Arbeitszeit die Möglichkeit zur aktiven Aneignung zunächst wenigstens des vollen Abteilungs- und Betriebszusammenhangs durch tatsächliche Mitwirkung an der Planung und Abrechnung der Produktion, durch handgreifliche Verbesserung der Arbeitsbedingungen und der Arbeitskultur, durch Qualifizierung an der Instandhaltung und Pflege der bedienten Maschinerie, durch Rationalisierung der Technologie und der Arbeitsorganisation zu geben. Wieso darf sich derselbe Arbeiter, der sein privates Auto selbst repariert, nicht an der Reparatur seiner Produktionsmaschine üben? Erforderlichenfalls muß er systematisch dazu angeleitet werden. Oder — bei anderer Perspektive: Kann man Produktionsverhältnisse hinnehmen, die so funktionieren, daß die Ingenieure vordergründig in ihrer Meinung bestätigt werden, man müsse die Schaltschränke tunlichst vor den Arbeitern verschließen? 

Und wieso muß der Arbeiter, zumindest nominell, Freizeit einsetzen, wenn er als Neuerer Ingenieurarbeit leisten will, die bei anderen Werktätigen den regulären Arbeitstag ausfüllt? Ohne Arbeitskraftreserve gegenüber dem Plan ist innerbetriebliche Demokratie für die Produktionsarbeiter nahezu unmöglich. Die Angestellten, voran die Hoch- und Fachschulkader unter ihnen, finden nicht nur vom Charakter ihrer Tätigkeit, sondern auch von den Toleranzen ihres täglichen Zeitplans her verhältnismäßig ausreichend Gelegenheit, betriebliche Informationen und Probleme zur Kenntnis zu nehmen und wenigstens an der inoffiziellen Meinungsbildung darüber teilzunehmen. Ein Teil der in den Büros »verquatschten« Zeit ist durchaus notwendig für kollektive Selbstverständigung. Die Arbeiter in der unmittelbaren Produktion haben diese Gelegenheit im allgemeinen nicht. 

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Die — relativ seltene — Versammlung bei Schichtwechsel steht immer unter Zeitdruck. Die eine Schicht will nach Hause, die andere muß an die Maschinen. Da können in der Regel nur die jeweils aktuellsten Symptome der Faktoren moniert werden, die die Produktion und das Arbeitsklima stören. Wenn die Arbeiter »quatschen«, geht das entweder über die Norm auf ihre Kosten oder es erscheint (bei »guter« Norm) zu Lasten des für die Planerfüllung verantwortlichen Leitungspersonals als Produktionsausfall. 

Zwar sieht der Plan für solche Zwecke ein bestimmtes Zeitlimit im Durchschnittslohn vor, aber es wird meist schon für den Ausgleich der verschiedensten anderen Eventualfälle des Arbeits Jahres überzogen. Man erwartet von den Arbeitern, daß sie, während ihr eigentlicher Arbeitsprozeß nicht selten desinteressierend, dequalifizierend, demotivierend wirkt, Freizeit an derartige Diskussionen hänge». Da sie nicht in den Planungs- und Leitungsprozeß einbezogen sind, können sie jedoch gar nicht als souveräne Partner in ihn eingreifen, sondern nur unmittelbarste Interessen zu Protokoll geben. (Der sowjetische Film »Die Prämie« hat völlig zutreffend die Tatsache ausgesprochen, daß sie die Information zur Aufdeckung bürokratischer Sonderinteressen und Machinationen, die den Plan verzerren, nur durch »Verräter« aus den Reihen der technisch-ökonomischen Intelligenz erfahren können, die damit ihrerseits ein echtes Risiko eingehen.)

Um hier eine merkliche Änderung einzuleiten, wäre es zweckmäßig, unter Beibehaltung der 5-Tage-Woche zu etwa 40 Stunden planmäßig nur 5 x 6 = 30 besser vorbereitete und daher optimal ausnutzbare Produktionsstunden anzusetzen. Das hieße, nötigenfalls die 24 Stunden des Tages mit 4 Produktions­schichten abzudecken. Das verlorene Viertel der jetzt vorhandenen Kapazität wäre, global gerechnet, dadurch auszugleichen, daß eine Zahl von Angestellten und sonstigen Berufstätigen, die doppelt so groß zu sein hätte wie die Zahl der eingesetzten Produktionsgrundarbeiter, je 6 Wochen im Jahr an der Fertigung teilnimmt.

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Ein Blick ins Statistische Jahrbuch der DDR (Ausgabe 1976) zeigt, daß dies zahlenmäßig keineswegs undenkbar ist. Leider läßt sich die Zahl der direkt in der Fertigung eingesetzten Produktionsgrundarbeiter nur ungefähr daraus erschließen (die wirkliche Sozialstruktur wird in unserer Statistik buchstäblich versteckt hinter der fast alles zusammenfassenden Firmierung »Arbeiter und Angestellte«).

Die Zahl aller Produktionsarbeiter in den Industriebereichen wird für 1975 mit rund 2 Millionen angegeben (S. 128), hinzu kommen knapp 0,3 Millionen im Bauwesen (S..154) und reichlich 0,4 Millionen im Verkehrs-, Post- und Fernmeldewesen (S. 240), wobei im letztgenannten Bereich viele de-fac-to-Angestellte mit eingerechnet werden, wie überhaupt die Tendenz besteht, die Produktionsarbeiterzahl bereits an der Basis hinaufzufrisieren. Eine indirekte Rechnung aus Angaben zum Neuererwesen (S. 67) führt auf rund 2,9 Millionen Produktionsarbeiter insgesamt. 

Da für 1975 knapp 8 Millionen Berufstätige bzw. knapp 7 Millionen Arbeiter und Angestellte insgesamt ausgewiesen werden (S. 15), stehen den rund 3 Millionen Arbeitern 5 Millionen übrige Berufstätige, darunter 4 Millionen Angestellte gegenüber (in der Differenzmillion ist das Gesamtpersonal der Landwirtschaft enthalten, dessen Struktur ich für diesen Überschlag vernachlässige). Auch befinden sich unter den 5 Millionen übrigen Berufstätigen nicht weniger als 1 Million Hoch- und Fachschulkader (S. 62). Weiterhin werden allein gegenüber den 2 Millionen Arbeitern der Industriebereiche 1 Million Angestellte (natürlich einschließlich eines Anteils Hoch- und Fachschulkader) genannt, eine Zahl, die gewiß nicht zu niedrig liegt. Da es sich zufällig immer um volle Millionen handelt, treten die Proportionen sehr klar zutage (beiläufig bis hin zu der Tatsache, daß in der DDR also auf den 8stündigen Durchschnittsarbeitstag 3 Stunden Produktionsarbeit entfallen).

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Es gilt nun noch, auf die Zahl der Produktionsgrundarbeiter zu schließen. Z.B. gehen von den 2 Millionen Industriearbeitern 22,2%, also nahezu 450.000 Reparatur- und Transportarbeiter ab (S. 129), die jedoch noch nicht die Gesamtheit der sogenannten Produktionshilfsarbeiter ausmachen. Letzten Endes geht es hier ja um die Zahl derjenigen Arbeiter, bei denen wirklich Produktionskapazität verlorenginge (viele nicht direkt in der Fertigung tätige Arbeiter haben schon gegenwärtig nicht mehr als 6 produktive Stunden, ohne daß die übrigen 2 deshalb für irgendeinen positiven Zweck gewonnen sein müßten). 

Alles in allem dürfte die interessierende Zahl 1,5 Millionen Arbeitskräfte nicht übersteigen, auch wenn man einen Teil des Gütekontrollpersonals zusätzlich einrechnen muß und berücksichtigt, daß der 4-Schichtbetrieb etwas mehr Reparaturkapazität beansprucht. Es müßten also 3 der 5 Millionen übrigen Berufstätigen bzw. der 4 Millionen Angestellten 6 Wochen Produktionsarbeit leisten. Die Lücke im Angestelltensektor wäre zu schließen durch Reduzierung des Bürokratismus (vor allem des Aufwands, den die Kontrollfunktionen im Rechenwerk verursachen) sowie durch dort teilweise angebrachte Intensivierung.

Was außerdem zu lösen bliebe, wäre dann die ernsthafte Einarbeitung dieses Personals aufgrund möglichst weitgehend selbstgewählter, aber auch möglichst stabiler Verbindung zu bestimmten Arbeitsplätzen. Würde dabei eine Durchschnittsleistung von auch nur 80% erreicht, wäre der Ausfall der Produktions­grundarbeiter reichlich wettgemacht, da man annehmen darf, daß in Wirklichkeit nur die Hälfte des nominell verlorenen Viertels ihrer Arbeitszeit für die Fertigung aufgewandt wird. Bei der gedachten Lösung würde die effektive Maschinenlaufzeit sogar merklich steigen, so daß man — falls der Ausstoß nicht im gleichen Maße mitwachsen soll — überdies Maschinerie sparen könnte. Übrigens läßt dieser ganze Globalüberschlag den Faktor Produktivitäts­zuwachs völlig aus dem Spiele, gibt ihn also hypothetisch noch völlig für Mengenwachstum frei, anstatt eine wünschenswerte Verkleinerung der ganzen Produktionsmaschine zu unterstellen.

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Die komplexeste ökonomische Lösung verlangt die Durchsetzung des einheitlichen Bildungsweges für alle. Sie ist deshalb schwieriger als die bisher betrachteten Schritte, weil die Produktivitätssteigerung, die sie sukzessiv ermöglicht, nur scheinbar das Hauptstück ihrer Realisierung ist. Nehmen wir an, daß der reine Qualifizierungsaufwand, also jene Zeit fürs Lernen, die nicht mit notwendiger Arbeit zusammenfällt, in der Jugendphase des Durchschnitts­individuums um 5 Jahre anwachsen und daß außerdem jeder Erwachsene weitere 5 Jahre für Lehren und Lernen verausgaben würde. Dann wäre auch hier wieder etwa ein Viertel der Arbeitszeit, diesmal aber bezogen auf die ca. 40 Arbeitsjahre einer Generation, in Ansatz zu bringen. 

Um die Zeit dafür zu ersparen, müßte dieselbe Generation also nur um ein Drittel ihre Produktivität steigern. Nach der derzeit üblichen, allerdings von der problematischen Basis Industrielle Bruttoproduktion in Mark konstanter Preise ausgehenden Berechnungsmethode verdoppelt sich die Produktivität in der DDR etwa alle 10 Jahre; z. B. stieg ihr Index von 1970 bis 1975 gerade um jenes Drittel (32% laut Statistischem Jahrbuch 1976/126),an. Selbstverständlich kann man nicht plötzlich den gesamten Produktivitätszuwachs für eine einzige Maßnahme in Anspruch nehmen. Aber die Zahlen lassen erkennen, daß die Größenordnung der Aufgabe die Leistungskraft einer einzigen Generation nicht übersteigt. Dies würde auch den unbedingt notwendigen Mehraufwand an Lehrpersonal einschließen, der für die Senkung der Klassenstärken im Normalschulwesen auf die Obergrenze der optimalen Gruppengröße für kollektive Prozesse (15 Schüler) aufzubringen ist.

Indessen liegen die größeren Schwierigkeiten in der sozialen Organisation sowohl des Arbeitsprozesses als auch des Bildungs- und Erziehungswesens, in ihrer kaum mehr als oberflächlich angegriffenen Isolierung voneinander sowie in ihrem gleichermaßen bürokratischen Überbau (eine penetrantere Bürokratie als die pädagogische ist kaum vorstellbar, weil die Hierarchie hier noch auf die spezifisch moralistische Lehrermanier alles besser weiß).

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Die vorgeführte Rechnung kann schon deshalb falsch orientieren, weil sie unausgesprochen die bisherigen Strukturen im Bildungswesen und -prozeß als invariant und eine Veränderung als bloße Verschiebung von Quantitäten denkbar erseheinen läßt. Doch dürfte es, von allem anderen abgesehen, auch ökonomisch nicht die beste Lösung sein, das ganze Bildungswesen, in seinem Umfang vergrößert, als derart separierten, nur von Spezialisten betriebenen, vertikal von einer Zentrale durchgesteuerten Bereich anzulegen, wie es heute der Fall ist, wo Einheit des Bildungssystems vor allem Durchgängigkeit des Reglements bedeutet. Und einfach unmöglich würde es sein, den Reproduktionsprozeß in der hergebrachten, die Individuen subsumierenden Art fortzuführen, wenn nur noch Menschen mit universalen Ansprüchen ans Leben als Arbeitskräfte zur Verfügung stünden, die zugleich fähig sind, sich in spezielle Tätigkeiten auf allen Funktionsniveaus der Arbeit zu finden. 

Wie sich die innerbetriebliche Arbeitsorganisation unter den Bedingungen solcher Disponibilität und Mobilität der Individuen im einzelnen gestalten wird, darf man getrost der späteren Praxis ,und einstweilen den Erkundungen der utopischen Literatur überlassen. Die Verwirklichung der Gleichheit in der Verteilung der Arbeit wird eine solche natürliche Solidarisierung und Disziplinierung der Individuen bei der bestmöglichen Ausführung der notwendigen Arbeit bewirken, daß repressive Kontrollen vollständig überflüssig sein werden und die in erster Linie an Qualität und Materialersparung orientierte Effektivität der Kollektive aus deren interner Regulation ein Optimum ansteuert. Absehbar ist bereits die Notwendigkeit der flexiblen, verbindlichen Vielfachz^uordnung zwischen Individuen und Arbeitsplätzen (mehrere Individuen für jeden Arbeitsplatz, mehrere Arbeitsplätze für jedes Individuum). 

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Auch wird die höhere Bildung — ohne dadurch erneut von der Spezialisierung erdrückt oder provinzialisiert zu werden — jedenfalls dichter an die Arbeits- wie an die Wohnstätten heranrücken. Weil sie kommun wird wie heute die 10-Klassenschule, kann sie kommunal werden. Möglicherweise wird dies mehr als ein Wortspiel sein. Der Kommunegedanke dürfte in der Perspektive praktische Bedeutung erlangen, sofern man sich darunter die Vereinigung der Bevölkerung in überschaubaren Gemeinwesen vorstellt, die hinsichtlich der reproduktiven Grundfunktionen des Arbeits-, Bildungs- und Lebensprozesses relativ autonom funktionieren, wahrend sie mit einer Reihe spezialisierter Leistungen an dem allgemeinen Zusammenhang teilnehmen, der ihnen seinerseits die Versorgung mit einer Vielzahl spezieller Produktionen sichert (näher hierüber unter Fünftens).

  

Zweitens Neubestimmung des Bedarfs. 

 

Wenn die reiche Individualität als Produktionsziel durchdringen soll, muß sich die materiale Struktur, die Matrix der Gebrauchswerte an Gütern, Diensten, Leistungen ändern, die durch die planmäßige proportionale Entwicklung der Volkswirtschaft anzustreben ist. Art und Tempo dieser Änderung sind allerdings nicht von vorgefaßten ideologischen Wertkonzepten — einschließlich des in diesem Buch dargelegten — zu dekretieren und der Gesellschaft nach dem Prinzip »Friß Vogel, oder stirb!« zu oktroyieren. Vielmehr können die neuen Präferenzen nur in einer umfassenden politischen Praxis demokratisch herausgearbeitet werden, deren Grundlagen in den Kapiteln 11 und 12 diskutiert wurden. Genau in diesem Punkte hat die Selbstbestimmung der Gesellschaft als der freien Assoziation der Individuen ihr entscheidendes Kriterium. Wenn sie sich hierin nicht herstellt, ist im Politischen der Ansatz verfehlt oder — solange sich die Kulturrevolution noch im Frühstadium befindet — zumindest unzureichend. 

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Ich will noch einmal unterstreichen, daß mir das Hineinwachsen der Gesellschaft in diese reale Freiheit und bewußte Selbstbestimmung ihres Geschicks undenkbar erscheint ohne die Vereinigung der engagiertesten, problem- und verantwortungsbewußtesten Elemente zu einem gesellschaftsoffenen Bund der Kommunisten. 

Ohne einen wirksam organisierten ständigen Einfluß auf die erworbenen Denk- und Verhaltensstrukturen ist die Transformation der Zivilisation unmöglich. Und andererseits erfordert diese bestimmte, jetzt notwendige Transformation aus ihrem, immanenten Zweck, daß dieser Druck emanzipatorisch funktioniert, d.h. Subjektivität ausweitet, ermutigt, vorwärtstreibt, ermächtigt, befreit. Das ist die politische Dialektik der Kulturrevolution, das diktiert dem Kommunistischen Bund die Form und die Mittel der Einflußnahme. 

Was den Bedarf betrifft, so existiert in jeder Gesellschaft ein sogenanntes, auf das — ausgesprochene oder unausgesprochene — Produktionsziel gerichtetetes ökonomisches Grundgesetz. Es bedeutet weiter nichts, als daß die gegebene Gesellschaft jeweils ein ihr spezifisches Optimum zwischen der Produktion der Subsistenz-, Genuß- und Entwicklungsmittel und den Bedürfnissen des sozialen Ensembles anstrebt, wobei natürlich das Interesse der herrschenden Klassen oder Schichten an der Reproduktion ihrer eigenen Individualitätsform je nach deren relativem Einfluß bei der Bestimmung dominiert.

Ich habe es mir erspart, explizit ein solches ökonomisches Grundgesetz für den real existierenden Sozialismus zu benennen; die Elemente der Definition sind im Zweiten Teil des Buches enthalten. Das ökonomische Grundgesetz der sozialistisch-kommunistischen Formation wird sich von dem aller Klassengesellschaft dadurch unterscheiden, daß das Subjekt der Bedarfsbestimmung keiner anderen Differenzierung mehr unterliegt als der natürlichen nach Alter, Geschlecht und Begabung, vielleicht noch der quasinatürlichen nach dem Charakter, daß also die Interessen bzw. Bedürfnisse aller Individuen in gleichem Maße eingehen. 

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Und es wird sich von dem urgemeinschaftlichen unterscheiden durch den von der Höhe der Produktivität und des Reichtums ermöglichten Vorrang, den die Produktion der Entwicklungsmittel bei der Festlegung der Gesamtstruktur des Bedarfs, d.h. des Gebrauchswerts und demzufolge des Arbeitszeitaufwands, erhält. 

Wenn man hiervon ausgeht, so erweist sich tatsächlich die Ökonomie der individuellen Zeitpläne als entscheidender Durchgangspunkt der Planung. Läßt sich die Gesellschaft ernstlich davon leiten, welche Zeitanteile in welcher Folge optimal für die verschiedenen Betätigungsweisen der Individuen verfügbar (man lese nicht »vorgeschrieben«) sein sollten, so daß sich ihr Zeitbudget nicht mehr nur nachträglich als ermittelter Durchschnittswert, sondern planmäßig entsprechend ihren allgemeinen Entwicklungserfordernissen ergibt, dann wird die Überwindung der Entfremdung wirklich ökonomisch fundamentiert, das Reich der Notwendigkeit unter das Reich der Freiheit subsumiert. 

Das ist der springende Punkt der kommunistischen Ökonomie, der sicherlich nur solange als Planungsgegenstand in Erscheinung treten wird, als er sich noch nicht fest in der Grundstruktur des ganzen Reproduktionsprozesses etabliert hat. Der Konsum der Subsistenzmittel verliert dann von selbst ganz, der der Genußmittel weitgehend seine kompensatorische Prestigeorientierung und wird weiterhin durch das Streben nach Zeitgewinn für psychologisch produktive Tätigkeit und Kommunikation auf ein der reichen Individualität natürliches Normalmaß gebracht. Ihre Produktion wird relativ uninteressant für den Plan, weil sie als Nahezu-Invariante eingeht. Überhaupt wird der Planungsumfang sehr zurückgehen können, wenn eine nicht mehr primär auf Wachstum, sondern auf Qualität abzielende Wirtschaft einmal ein Gleichgewicht zwischen Produktion und Verbrauch hergestellt hat.

Ein ökonomisches Problem, das sehr an Bedeutung zunehmen wird, ist das des ausreichenden Objekts für psychologisch produktive Tätigkeit aller Individuen. 

510/511

Hier wird der Bedarf einzig dadurch eingeschränkt, daß die Herstellung realer Gemeinschaftlichkeit aller Wahrscheinlichkeit nach einen viel größeren Anteil der individuellen Zeitpläne mit dem Genuß- und Entwicklungsmittel erfüllter partnerschaftlicher Kommunikation in verschiedensten Formen und zu vielfältigsten Zwecken belegen wird. Das Übrige, und allerdings für den vorausschauenden Ökonomen ein schwerer Rest, ist dann eine Frage der materiellen Natur, d. h. eine Frage vor allem des Materialaufwands der Entwicklungsmittel. Man mag sich, um sie, etwas unhistorisch, zuzuspitzen, überlegen, ob die reiche Individualität á la Goethe nicht doch einen beträchtlich größeren materiellen Aufwand voraussetzen würde als die heutige Durchschnittsindividualität samt Auto und Kellergarage. 

Der Zeitaufwand reguliert sich durch die Grenze, bis zu der er verfügbar ist, ohne daß die Produktion der Entwicklungsmittel wieder Entwicklung blockiert. Hier wird die optimale Einstellung des ökonomischen Prozesses teils berechnet (siehe das nachfolgende Viertens), teils in der Konfrontation betroffener Interessen ausgekämpft. 

Der Materialaufwand dagegen reguliert sich zwar letztlich auf die gleiche Weise, aber über zu lange Rückkopplung.

Hier kann die gerade lebende Generation auf Kredite leben, die sie nicht selbst zurückzahlen muß. Sie kann Zeit gewinnen durch Materialverschwendung, für die spätere Generat­ionen mit dem hundertfachen Zeitaufwand aufkommen müssen. 

Augenscheinlich betrifft dies die Umweltproblematik insgesamt, die sich ja bei weitem nicht auf die Endlichkeit der mit vertretbarem (vor dem Produktions­ziel vertretbarem!) Aufwand habhaften Materialressourcen reduziert. 

Die Kulturrevolution muß also, während sie Schritt um Schritt das Primat der Entwicklungsmittel bei der Bedarfs- und Aufwandsplanung (die natürlich nicht nur stoffliche Güter betrifft) zu verwirklichen trachtet, zugleich den Verzicht auf materialintensive Entwicklungsmittel anstreben.

Aber das führt bereits auf den umfassenderen Zusammenhang ihres nächsten Aktionsaspekts.

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Rudolf Bahro 1977 Die Alternative Zur Kritik des real existierenden Sozialismus