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9   Partei und Bürokratie 

 

"Der Parteiapparat als Kern der Staatsmacht bedeutet den säkularisierten Gottesstaat, wie er der Kirche zu ihrem Glück nie anders als lokal gelungen ist."  Seite 288

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Die Antriebsschwäche, die sich aus der Wechselwirkung zwischen dem Nachlassen des klassen­gesellschaftlichen Arbeitszwangs einerseits und der büro­kratischen Organisation des allgemeinen Zusammenhangs andererseits ergibt, ist unmittelbare und darum unbestreitbare Alltagserfahrung unserer Bevölkerung, einschließlich der Funktionäre. Unsere Ordnung gibt der »natürlichen« menschlichen Trägheit und Nachlässigkeit (die in Wahrheit selbstredend einen durchaus historischen Pegel hat) größeren Raum als der Kapitalismus, und zwar nicht nur »unten«, sondern auch »oben«. 

Die Indolenz des Bürokraten korrespondiert mit der Interesselosigkeit des Arbeiters, der Unlust des Spezialisten (überflüssig hinzuzufügen, daß sich die lebendigen Individuen nicht auf derartige Tendenzpersonen reduzieren). Fast alles, was unternommen wird, ist durch ein charakteristisches Mißverhältnis zwischen Aufwand und Ergebnis gekennzeichnet. Die individuelle Initiative wird durch — übrigens meist recht undramatische — Sisyphuserlebnisse abgestumpft. Nicht zufällig lautet eine ironische Beamtenregel: »Es erledigt sich alles von selbst.« 

Die Arbeit einer ausführenden Bürokratie besteht eben hauptsächlich darin, einmal Entschiedenes und Angewiesenes in Gang zu halten, alle Eventualfälle darunter zu subsumieren und das Abweichende — als Gesetz und Kontinuität gefährdend — zu eliminieren. Der bürokratische Körper besitzt, erst recht bei seiner heutigen und hiesigen Größe, eine geradezu physikalisch zu nennende Trägheit. 

Die modernen Produktivkräfte, die mehr denn je auf den schöpferischen Menschen gegründet sind, haben gerade in ihrer empfindlichsten, sensorischen Zone an unserem Bürokratismus ihr effektives Bremstriebwerk, das sie überdies fast immer in einer zum jeweiligen Zeitpunkt bereits überholten Entwicklungs­richtung festhält, weil jede unvermeidliche Kursänderung — sofern es nicht gerade um politische Überlebensfragen geht — mit charakteristischer Verzögerung erfolgt. Und die Partei, die unter den von ihr initiierten Verhältnissen allein als Motor des industriellen und gesellschaftlichen Fortschritts fungieren kann, ist durch ihren eigenen Apparat tief in diesen allgegenwärtigen Spinnweb verstrickt, der kein noch so entlegenes Gebiet des sozialen Lebens ausläßt.

Aber wenn die bürokratische Sklerose des Machtapparats die allein herrschende Tendenz wäre, wenn ihre zweifellos schwerlastende Wirkung entscheidend durchschlüge, dann könnten wir niemals das dennoch verhältnis­mäßig hohe ökonomische Wachstumstempo haben, das genau diejenigen nichtkapitalistischen Länder auszeichnet, die unter Parteien marxistisch-leninistischer Tradition arbeiten. Ich hatte gezeigt, wie der Bürokratismus schon in der Leninschen Periode der russischen Revolution sein konservatives Haupt erhob, und daß er sofort die unverwechselbaren Symptome zeigte. Gleichwohl folgte die ungeheure Wirtschaftsdynamik der dreißiger Jahre, und der von Stalin personell weitgehend erneuerte Apparat erwies sich als terroristisch gezähmtes Werkzeug der politischen und industriellen Revolution. 

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Selbst heute noch reduziert die bürokratische Form unseres Überbaus weniger das quantitative als das qualitative Wachstum, dies letztere freilich auf eine im Rahmen der statuierten Prämissen unkorrigierbare Weise. Für die Suche nach einer Alternative ist es aber sehr wichtig, zu begreifen, daß und warum sich unser Machtapparat nicht absolut in seinem Teufelskreis festläuft.

Dafür gibt es zwei Gründe, die zu unterscheiden sind, obwohl sie sich in der politischen Praxis nur schwer entflechten lassen. Der eine besteht in dem Selbst­erhaltungsinteresse des Apparats angesichts der unablässigen Herausforderung durch den materiell-technisch überlegenen welthistorischen Partner und Gegner. Die ursprüngliche bolschewistische Motivation für den ökonomischen Wettbewerb hat natürlich die Masse der Bürokraten nie sonderlich aufgeregt, zumal die weltrevolutionäre Idee des Oktober seit Mitte der zwanziger Jahre verfolgt wurde. Aber das Leninsche Vermächtnis, die Arbeits­produktivität sei letztlich das Entscheidende, läßt sich nicht zum Schweigen bringen, weil es heute die Bedingung für das Überleben unserer Ordnung in einer weitgehend von ihr enttäuschten Gesellschaft formuliert. Die Hektik, die sich immer wieder konvulsivisch von der Spitze herab über den ganzen Wirtschaftsapparat ausbreitet, ist der Fluch der Märchensituation, von der ich sprach. Der Igel ist schon da. 

In der sowjetischen Problematik von heute steckt im Grunde immer noch viel von der alten äußeren Herausforderung, die Peter den Großen dazu trieb, die Peitsche über Rußland zu schwingen, und das hieß zuerst: über der russischen Bürokratie. Die durchschnittlichen Partei- und Staatsbeamten werden nicht von ihrem ruhelosen Gewissen in den Herzinfarkt getrieben — ihre offenbare Mentalität füllt alle Muster des traditionellen Ämter-Konservatismus aus —, sondern von dem Selbstbehauptungswillen der höchsten Funktionäre, die um keinen Preis von den Hebeln der Macht lassen möchten. Natürlich ist die Parteispitze in dieser Beziehung weniger der Schöpfer einer neuen Zivilisation als der Dolmetscher jener Triebkräfte, die »drüben«, im Spätkapitalismus, den technisch-ökonomischen Fortschritt in Schwung halten. 

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Sie unternimmt verzweifelte Anstrengungen, das ökonomische Getriebe anzukurbeln, in der jüngsten Etappe sogar in biederer Kooperation mit Nordamerika, Japan und der EWG. Ökonomisch gesehen kann die spätkapitalistische Gruppierung auf jede roll-back-Politik verzichten, weil unser Block sukzessiv wieder in den einheitlichen Weltmarkt integriert wird, auf dem sie dominiert. Wenn die sowjetische Führung das Land und dann sich selbst ansieht, hat sie gar keine andere Wahl. Nimmt man die Dinge, wie sie sind und nicht wie sie sein sollten, so ist ihr relativer industrieller und agrikoler Erfolg immer noch die vertretbarste Legitimation. Nach innen besteht das große Dilemma darin, daß die Massen ihre Versprechungen immer weniger an den kleinen Fortschritten messen, die ihnen Jahresplan für Jahresplan zugedacht werden, immer mehr an dem Absolutbetrag des Abstandes zum »Konsumparadies« der spät-kapitalistischen Industrienationen. 

Die bürokratische Oberschicht samt Anhang selbst lebt dem Volk diese Orientierung vor, in der Sowjetunion noch viel auffälliger als bei uns. Nichts mehr von der alten bolschewistischen Bescheidenheit, die es sich zur Ehre anrechnete, die materiellen Entbehrungen der Ärmsten zu teilen. Wenn die Satelliten­technik vollends die anachronistische Isolierung der sowjetischen Massen vom erscheinenden »Weltbild« der Gegenwart liquidiert, wird der Apparat in Moskau über einem Vulkan unbefriedigter materieller Bedürfnisse thronen. Das und nichts anderes ist die Ursache der Panikstimmung, die z.B. in Gromykos Konventionsentwurf »über Prinzipien der Nutzung künstlicher Erdsatelliten für Fernsehdirektsendungen« zum Vorschein kommt, einem Dokument, das an die Handschrift Nikolaus des Ersten erinnert. 

Es geht in der Sowjetunion heute nicht einfach um die Abwehr »ideologischer Diversion« im traditionellen Sinne. Die Propagandamaschine wird völlig machtlos sein gegen den bloßen Augenschein der »Wohlstands­gesellschaft«. 

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Es ist ja ein offenes Geheimnis, daß schon die westlicheren Länder des eigenen Blocks nicht ohne weiteres zur allgemeinen Besichtigung für Sowjetbürger freigegeben werden können. Wenn es in der Sowjetunion zu einem Wandel kommt, dann dürfte zunächst gerade die Wirtschaftspolitik, die sich einem riesigen Nachholbedarf der Massen gegenübersehen wird, der härteste Prüfstein für die neue Führung des Landes sein.

Aber es gibt noch einen zweiten, gewissermaßen höheren Grund für die verhältnismäßige Funktionsfähigkeit unseres Systems als das Selbsterhaltungs­interesse. Wir sehen in vielen Entwicklungsländern Parteien und Bürokratien ohne marxistisch-leninistische Herkunft mit weit geringerem Erfolg um die ökonomische Legitimation ihrer Herrschaft kämpfen. Sie werden schon allein der Korruption nicht Herr — einer anderen Korruption als jener systematischen Bestechung zur Staatstreue, die Stalin von oben zu organisieren verstand und die sich im großen und ganzen nie der Kontrolle der Zentrale entzieht. Letzten Endes beruht auch die charakteristische Disziplin echter stalinistischer Bürokratien weder auf den gestaffelten Privilegien noch allein auf der ständigen Präsenz der indirekten Gewaltandrohung im Falle der Abweichung. Es blieb bis heute ein Rest weltanschaulich-moralischer Loyalität erhalten, für die das formelle Festhalten der maßgebenden Repräsentanten an einem kleinen Katechismus der reinen Lehre entscheidend ist. 

Hier handelt es sich um die bei Weltanschauungsparteien ebenso wie bei Kirchen zu beobachtende Kontinuierung einer ursprünglichen Inspiration, die zu ihren Existenzbedingungen zählt. Die Kirche ist trotz Staatsreligion, Orthodoxie und Inquisition selbst heute noch nicht tot, weil und insofern es ihr gelingt, die im Neuen Testament als Verhaltensideal aufgezeichnete Mission Christi in wenigstens einigen ihrer Glieder glaubhaft gegenwärtig zu halten (in ihren schlimmsten Krisen werden Kirchen von ihren Ketzern gerettet). In allen unseren Parteien an der Macht gibt es bis hinauf in die Spitze noch Menschen, die wenigstens durch ihr schlechtes Gewissen an die Idee gebunden sind.

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Sogar in der Sowjetunion, wo die Revolution schon so lange her ist, daß die heutigen Führer kaum etwas anderes als Stalinschen Bürokratismus kennen­gelernt haben, entläßt die kommunistische Tradition ihre ungemäßen Erben nicht. Wollten sie sich öffentlich von der Idee lossagen, es fegte sie sogleich hinweg. Von einem unentrinnbaren Legitimitätskomplex verfolgt, brauchen sie die Geschichtslüge wie das tägliche Brot, und sie müssen wenigstens in gewissen unaufrichtigsten Augenblicken sogar daran glauben, um psychologisch überleben zu können. Der verratene und verdorbene Marxismus ist immer noch das Pfund, mit dem sie wuchern. 

Allerdings geht es ihnen analog so, wie Marx und Engels in der Deutschen Ideologie (MEW 3/274) sagen: 

»Je mehr die normale Verkehrsform der Gesellschaft und damit die Bedingungen der herrschenden Klasse ihren Gegensatz gegen die fort­geschrittenen Produktivkräfte entwickeln, je größer daher der Zwiespalt in der herrschenden Klasse selbst und mit der beherrschten Klasse wird, desto unwahrer wird natürlich das dieser Verkehrsform ursprünglich entsprechende Bewußtsein ..., desto mehr sinken die früheren überlieferten Vorstellungen dieser Verkehrsverhältnisse, worin die wirklichen persönlichen Interessen ppp. als allgemeine ausgesprochen werden, zu bloß idealisierenden Phrasen, zur bewußten Illusion, zur absichtlichen Heuchelei herab. Je mehr sie aber durch das Leben Lügen gestraft werden und je weniger sie dem Bewußtsein selbst gelten, desto entschiedener werden sie geltend gemacht, desto heuchlerischer, moralischer und heiliger wird die Sprache dieser normalen Gesellschaft.«

Geistig befinden sich die Leute des Apparats in einer hoffnungslos defensiven Situation. Ihre unmittelbare Verantwortlichkeit für den administrativen Macht­apparat blamiert unausgesetzt die Prinzipien, auf denen die höhere Autorität und Rechtfertigung ihrer Maclit beruht. In Bewegungen, die sich auf ein messianisches Ideal, auf irgendeine »welthistorische Mission« berufen, wird der Widerspruch zwischen emanzipatorischer Intention und repressiver Herrschaftspraxis immer zu Ketzererhebungen führen, die auf eine Reformation abzielen. 

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Der Kern ihrer Argumentation wird stets derselbe sein, ob nun Luther von »des Teufels Sau, dem Papst« spricht oder Trotzki von Stalin als dem »Toten­gräber der Revolution«. Es ist absolut nicht maßgebend, ob und wie weit eine solche Qualifikation jeweils zutrifft. Entscheidend ist die Intention solcher Reformations­bewegungen, die Idee wieder von dem sie pervertierenden Machtapparat zu trennen. Von einem höheren Standpunkt aus kann man sich auch heute auf diesen Mechanismus verlassen.

Worin wurzelt die Schwäche der stalinistischen Bürokratien? Warum sind sie nicht in der Lage, die Flucht nach vorn anzutreten, selbst die Initiative für den Aufbruch aus dem Dilemma zwischen ihrem ursprünglichen revolutionären Auftrag und ihrer Herrschaftspraxis zu ergreifen? Weiterblickende Funktionäre, wie zum Beispiel Kadar, wiederholen den Gedanken Lenins, daß die Partei unter den Bedingungen ihrer Alleinherrschaft zugleich die Rolle der Opposition wahrnehmen müßte. Aber das gelingt ihr nicht effektiv, weil sie infolge ihrer eigenen Bürokratisierung, infolge ihrer Unterwerfung unter den riesigen Apparat und seine Reproduktionsbedürfnisse außerstande ist, sich kritisch von der Staatsmaschine, vom Etatismus zu distanzieren.

Man sollte endlich mit den letzten Resten der Illusion Schluß machen, wir hätten es bei der Masse der politischen und administrativen Bürokraten mit bloß oberflächlich kommissarisierten oder bürokratisierten Kommunisten zu tun, denen man vielleicht einmal gründlicher ins verkrustete Gewissen reden müßte. Nein, der Bürokratismus hat längst aufgehört, eine bloß übergestreifte fremde Form zu sein. Er ist zur gewissermaßen natürlichen politischen Existenzform einer großen Gruppe von Menschen mit ausgeprägten Sonderinteressen geworden, die sich um den Stamm, die Äste und die Zweige des Machtapparats kristallisiert hat. 

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Durch diese Sonderinteressen muß nun das allgemeine Interesse der Gesellschaft hindurchgehen, um offiziell als solches anerkannt zu werden — wie es eben unter allen historischen Herrschaftsverhältnissen der Fall war. Diese soziale Gruppe umfaßt im wesentlichen die hauptamtliche Besetzung der gesamten politischen, staatlichen und »gesellschaftlichen« Leitungspyramide, einschließlich der militärischen, polizeilichen und ideologischen Zweige, also eben die ausgedehnte Partei-, Staats- und höhere Wirtschaftsbeamtenschaft im weitesten Sinne. Polit-ökonomisch gesehen steht sie den unmittelbaren Produzenten (einschließlich Spezialisten, wenn auch ein Teil von ihnen über Stabsfunktionen vom Machtapparat absorbiert wird) tendenziell antagonistisch gegenüber.

 

Das Staatseigentum, als Domäne dieser politbürokratischen und administrativen Verfügungsgewalt, stellt ein Produktionsverhältnis sui generis dar. »Zum Wohle des Volkes«, wie sie speziell nach dem polnischen Dezemberschreck von 1970 nicht laut genug betonen kann, entscheidet die Oligarchie an der Spitze der Pyramide über die Ziele, für die das Mehrprodukt verausgabt werden soll, und unterwirft den ganzen Reproduktionsprozeß des ökonomischen, sozialen, kulturellen Lebens ihrem Reglement. 

Wie bei jeder früheren Herrschaft geht die ständige und wenn möglich erweiterte Reproduktion ihres Monopols in den Gesamtkalkül für die gesellschaftliche Entwicklung ein und muß von den Massen mitbezahlt werden. Wie jeder Arbeiter im Kapitalismus durch seine gute, verantwortungsbewußte Produktionstätigkeit nicht nur in den systemgegebenen Grenzen seine eigenen und die allgemeinen Existenzbedingungen verbessert, sondern vornehmlich das Kapital vergrößert, so vermehrt er im real existierenden Sozialismus das Potential für die Verfügungsgewalt der Partei-und-Staatsmaschine, vermehrt er seine Ohnmacht ihr gegenüber.

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Die werktätigen Massen können den im Rahmen einer gegen sie abgeschlossenen Korporation ablaufenden arbeitsteiligen Verfügungsprozeß nur punktuell und akzidentiell beeinflussen, haben grundsätzlich keinen Zugang zu den Stellen, an denen die Fäden zusammenlaufen, können also auch nichts Wesentliches kontrollieren. Sie stehen dem konzentrierten Staatseigentum nach wie vor »proletarisch« gegenüber, und da die Gewerkschaften nicht mehr ihre Assoziationen, sondern Assoziationen für sie sind, sind sie institutionell gesehen machtloser als zuvor. Im real existierenden Sozialismus sind die Menschen gerade in den sogenannten gesellschaftlichen Organisationen atomisiert, ganz speziell übrigens auch die Parteimitglieder in der Partei, wo dies geradezu im Statut verankert ist. Naive wundern sich oft, daß sich die Partei durch die Aufnahme so vieler »Unwürdiger« schwächt; in Wirklichkeit wächst die Macht der Bürokratie mit der Zahl der unterworfenen und verwalteten Seelen. 

Volk und Funktionäre — das ist die unvermeidliche Dichotomie jeder protosozialistischen Gesellschaft. Es ist der wichtigste »Widerspruch im Volke«. Aber die antagonistische Konsistenz, die er in allen sowjetisch inspirierten Ländern aufweist, ist ein Spezifikum. Sie resultiert daraus, daß die Parteiführung nicht für die Überwindung, sondern für die Konsolidierung und Verewigung dieser unserer späten Klassengesellschaft arbeitet und den sozialökonomischen Fortschritt in die ihr notwendigen Schranken bannen möchte. Die Erfahrungen in Jugoslawien und China zeigen, daß es nicht nur theoretisch, sondern praktisch-politisch möglich ist, mit der Realität des Staates in der protosozialistischen Gesellschaft zu rechnen und den Staatsapparat zur revolutionären Umgestaltung zu benutzen, ohne aus der Not (dem Übel, wie Engels sagte) eine Tugend zu machen und eine Pseudo-Dialektik zu erfinden, wonach die von Parteitag zu Parteitag »wachsende Rolle« des Staates — natürlich am Sankt-Nimmerleinstag — zu seinem Absterben führen werde. Aber das ist eben die Ideologie eines Parteiapparats, der in der Permanenz der Staatsmaschine die Bedingungen seiner eigenen unendlichen Reproduktion feiert.

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In Wirklichkeit ist es gerade die gegebene Existenzform der Partei (nicht so sehr des Staates), die die Staatsvergottung notwendig macht. Denn technologisch gesprochen ist der Parteiapparat nicht nur der Motor, sondern auch der Steuermann der sozialen Entwicklung, die Staatsmaschine ist bloß das Werkzeug. Sie produziert bei uns keine eigene Ideologie (wie das z.B. in Jugoslawien durchaus der Fall ist), wenn man von ihrem unmittelbar mit den ökonomischen Prozessen verbundenen wirtschaftsmanagerialen Zweig absieht, der die offizielle Ideologie mit technokratischem Einschlag versetzt. 

Zur Erklärung des Parteiapparats muß ich noch einmal an die Genesis unserer Verhältnisse erinnern. Die Leninsche Konzeption über den Mechanismus der proletarischen Diktatur wollte das Moment der Unterdrückung »nach innen« der weit umfassenderen, prinzipiell an der kommunistischen Perspektive orientierten Erziehungsrolle der Partei gegenüber den Massen unterordnen. Jedoch hat die Transmissionsvorstellung für das Verhältnis Partei-Gewerkschaften-Massen niemals im Leninschen Sinne funktioniert, auch nicht im Bezug auf die Arbeiterklasse im engeren Sinne. 

Die Gewerkschaften sollten Schulen des Sozialismus und Kampfinstrumente gegen die bürokratische Entartung der Staatsmacht sein. Sie wurden weder das eine noch das andere. Ihre Rolle leidet an einer derartigen Dystrophie, daß es schon für die Staatsmaschine selbst ein Verhängnis ist, wie der polnische Dezember bewies. In Wirklichkeit kann die Transmission der Partei zu den Massen daher nicht hauptsächlich erzieherisch, sondern sie muß primär administrativ und repressiv sein: diese Transmission ist eben der Staatsapparat. Und nun ergibt sich natürlich angesichts des Fehlens aller Korrektive von unten die Frage, wie die Partei die Staatsmaschine kontrollieren soll, damit es nicht zu ihrer Degeneration im Selbstlauf der bürokratischen Routine und Korruption kommt. Die Lösung bestand im Aufbau einer weiteren, dem Staatsapparat übergeordneten Bürokratie als Parteiapparat.

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Selbstverständlich braucht jede politische Partei einen Organisationsapparat in Gestalt von Büros, Sekretariaten oder wie solche Hilfsabteilungen immer heißen mögen. Aber die ursprüngliche Bedeutung der Begriffe ist in der Praxis unserer regierenden Parteien köpf gestellt. Es gab noch nie eine Herrschaft, deren maßgebliche Repräsentanten sich ausgerechnet »Büromitglieder« und »Sekretäre« nannten. An diesen Bezeichnungen allein ließe sich schon die Überwältigung des lebendigen Parteikörpers durch seine Bürokratie ablesen. 

Kaum zufällig erzeugt das Parteileben heute gar keine politischen Führer­persönlichkeiten, keine echten konzeptiven Ideologen mehr. Dafür finden wir in den Parteiinstanzen bis hinauf zum ZK-Apparat, der ja genau besehen nur die ausgebreitete Totalität der Politbürofunktionen ist, ausnahmslos alle Zweige und Ebenen der staatlichen und »gesellschaftlichen« Bürokratie in komprimierter Form verdoppelt, ebenso wie schon ausnahmslos alle Zweige des gesellschaftlichen Lebens in der Apparatur der Regierung und der offiziellen »gesellschaftlichen« Organisationen verdoppelt sind. 

Die Ausarbeitung, Durchführung und Kontrolle der Parteibeschlüsse muß unter eine eigene Bürokratie verteilt sein, weil die Partei nicht, durch die Selbst­organisation ihrer überall vertretenen Mitglieder, sondern nur durch ihren Apparat als Initiator auftreten kann. So erhebt sich über der administrativen Staatsbürokratie nicht die Sphäre der in den Vertretungskörperschaften repräsentierten Volkssouveränität — Sowjets spielen im Sowjetsystem keine nennenswerte Rolle, ihre Zusammensetzung wird nicht durch Volkswahl, sondern durch bürokratische Auswahl unter Parteiaufsicht bestimmt —, sondern eine besondere politische Bürokratie, die ihrerseits die innerparteilichen Wahlen manipuliert. An der Spitze steht in Gestalt des Politbüros eine Institution, die sich de facto selbst beruft. Wer neu in diese Führung aufgenommen werden soll, entscheiden diejenigen, die schon drin sind, und auch sie nicht alle. Diese »Kommunisten« gehen so weit, ein eigenes Protokoll für ihre interne Sitzordnung nach Rangabstufungen vorzusehen.

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Die Diktatur des Politbüros ist eine verhängnisvolle Übersteigerung des bürokratischen Prinzips, weil der ihm gehorchende Parteiapparat Kirchenhierarchie und Überstaat in einem ist. Die ganze Struktur ist quasi-theokratisch. Denn der Kern der politischen Gewalt — ich spreche hier nicht von ihren hypertrophierten Vollzugs- und Polizeiorganen — ist die geistliche Gewalt, mit der ständigen Tendenz zur Inquisition, so daß die Partei schon selbst die eigentliche politische Polizei ist. 

Der Parteiapparat als Kern der Staatsmacht bedeutet den säkularisierten Gottesstaat, wie er der Kirche zu ihrem Glück nie anders als lokal gelungen ist. Nie waren, seit die naturwüchsigen Theokratien der Frühzeit niedergingen, weltliche und geistliche Autorität derart in einer Hand vereint. Da er auf diese Weise in der Tat »für alles verantwortlich« ist, muß er jede Distanzierung von den Details der bürokratischen Praxis als ideologische Ketzerei verdächtigen. Gerade die großen Fehler entziehen sich überhaupt jeder rechtzeitigen Kritik. Mit der Anmaßung, das Gesetz der Geschichte und die wahren Interessen der Massen zu kennen, läßt sich z.B. jede ökonomisch noch so teure politische Entscheidung rechtfertigen. 

Das »Primat der Politik«, zur Magna Charta des Subjektivismus umfunktioniert, schließt bei dem Monopol der politischen Meinungsbildung in einer Clique des Politbüros automatisch ein, daß sachliche Argumente gerade bei den größten Positionen nicht zählen. Überall dort, wo nicht Millionen, sondern Milliarden des von den unmittelbaren Produzenten erzeugten Mehrprodukts auf dem Spiel stehen, darf man nur an der Spitze der Spitze nach den Verantwortlichen suchen. Sie allein haben die Risiken zu vertreten, da sie sie »für die Gesellschaft« statt mit ihr tragen.

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Es rankt sich eine ganze apologetische Sentimentalität um diese »Last der Verantwortung«, die sich ja letzten Endes auf den Weltlauf überhaupt bezieht. Man trägt sie wie ein Kreuz, und sie muß natürlich durch gewisse Annehmlichkeiten des Lebens ausgeglichen werden. Sie ist der Quell aller Rechtfertigungen für die innerbürokratische Korruption von oben, in der sich am sichtbarsten die Aneignung fremder Arbeit durch die Kostgänger des Machtapparates manifestiert.

Der politbürokratische Zentralismus tut sich — das ist ein unerläßlicher Glaubensakt — viel auf seine Wissenschaftlichkeit zugute. Nach dem versimpelten Geschichtsverständnis, das er sich gegen die Intention von Marx aus ihm zurechtgestutzt hat, gibt es historische Gesetze, die unabhängig von den konkreten Bedürfnissen und Aktionen der Menschen existieren, um von der Partei erkannt und auf die wirkliche Gesellschaft angewandt zu werden, so sehr die sich in ihrer Unaufgeklärtheit über die eigenen Interessen dagegen sträuben mag. Der Wille der Partei muß daher von der Gesellschaft als ein auferlegter Zwang empfunden werden und ihr um so mehr auch tatsächlich aufgezwungen werden. Er erscheint gerade so weit »wahr« und »wissenschaftlich«, wie dieses Aufzwingen effektiv funktioniert.

Es ist überhaupt ein Unsinn, anzunehmen, eine Gesellschaft, die noch in wesentliche Interessengruppen unterschieden ist, könnte ihre allgemeinen Interessen auf einen wissenschaftlichen Generalnenner bringen, der den sozialen Widersprüchen unvoreingenommen die Entwicklungsrichtung vorschreibt. Die Wissenschaft, nun gar die soziale, bringt primär diejenigen Interessen zum Ausdruck, die am meisten mit den vorherrschenden Mächten einer Gesellschaft übereinstimmen. Wenn die Rationalität nur über den Staat und über die Partei realisiert werden kann, dient die Wissenschaft diesen Institutionen und wird zum sozialen Kampfmittel der mit ihnen verbundenen sozialen Schicht. Es ist »wissenschaftlich bewiesen«, daß der hochgestellte Bürokrat für seine Leistungen ein Sondergehalt von 2000 Mark aufwärts erhalten muß, während der Reinigungskraft 400 Mark zuzuteilen sind.

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Unser System besitzt gar kein soziales Organ für unvoreingenommene Erkenntnis, für eine objektive Analyse der bestehenden Verhältnisse. In jede Untersuchung gehen von vornherein interessierte Prämissen ein, die gerade die Grundstruktur der sozialen Tatsachen verfälschen, ehe auch nur der erste Blick darauf geworfen wurde. Es kann und darf gar nichts herauskommen, was der herrschenden Interpretation widerspricht. Geschieht dies ausnahmsweise doch, dann muß die Konzeption falsch gewesen sein, die zu den unerwünschten Aussagen führte. Es heißt dann, die Forscher hätten es an Parteilichkeit fehlen lassen. Eine solche Wissenschaft verdient nur Verachtung, gerade vom marxistischen Standpunkt. 

So experimentiert die Parteiführung im besten Falle — nämlich wenn man von den nur durch Schocktherapie zurückzudrängenden Sonderinteressen der ihr anhängenden hauptamtlichen Schicht absieht — rein objektivistisch mit der Gesellschaft. Der Parteiapparat ist die institutionalisierte Weigerung, die Subjekt-Eigenschaft des sozialen Objekts auszunutzen. Anstatt sich selbst nur als immerhin prominenten Teil dieser allgemeinen Subjektivität zu begreifen, tritt die Parteiführung der Gesellschaft mit dem Anspruch gegenüber, in jedem Augenblick ihr gesamtes relevantes Bewußtsein zu repräsentieren. Sie als Erkennende gibt ständig vor, dem sozialen Objekt bereits vorauszusein, sie beansprucht dem Wesen der Sache nach den Status göttlicher Allwissenheit in Fragen der grundlegenden sozialen Bedürfnisse.

In ihrer allgemeinen Vernunft ist die »Bestimmung des Menschen« immer schon beschlossen. Aber diese theologische Anmaßung ist nur der Reflex der objektiven Rolle, die sie als souveränes Subjekt der zentralen Planung spielt. Im Rahmen ihres mechanizistischen Gesellschaftsmodells, dessen Elementen und Strukturen nur lineare »Weiterentwicklungen« zugeschrieben werden, ist sie natürlich »allwissend«, wie jeder weniger Eingeweihte, der auf dem Boden ihrer Prämissen mit ihr diskutieren will, immer wieder gedemütigt feststellen wird. 

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Alles in allem besteht in der Unkontrollierbarkeit der Politbüros und ihrer Apparate, in dieser institutionellen Identität von Staatsautorität, ökonomischer Verfügungsgewalt und ideologischem Ausschließlichkeits­anspruch, das politische Frontproblem im real existierenden Sozialismus, der erste Gegenstand der notwendigen Umgestaltungen. Die zentralistische Monopolisierung aller ökonomischen, politischen und geistigen Entscheidungs­macht führt zu einem unüberwindlichen Widerspruch zwischen dem sozialen Auftrag der Partei und ihrer politisch-organisatorischen Existenzform. Die Parteidiktatur versagt auf der elementarsten Ebene, auf der sich jede beliebige Herrschaft bewähren muß, wenn sie ihre gesellschaftliche Funktion erfüllen will:

Die Rolle der Partei ist gar nicht zu Unrecht oft mit der Rolle des Gehirns im Gesamtorganismus verglichen worden. Ein solcher Vergleich setzt natürlich schon voraus, daß wir noch tief in dem Zustand der Polarisierung von gesellschaftlichem Denken und unmittelbar produktiver Arbeit stecken. Aber dies hingenommen, muß die Partei mindestens das Erkenntnisorgan sein, mit dessen Hilfe sich die Gesellschaft institutionell regelmäßig und rechtzeitig an die Veränderungen ihrer selbst und ihrer Umwelt anpaßt. Wenn ein individuelles Gehirn nicht mehr bereit oder fähig ist, die Umwelt so zu nehmen, wie sie ist und den Organismus darauf einzustellen, praktisch mit ihr fertig zu werden, dann spricht man in der Psychologie von Neurosen oder Schlimmerem. In gesellschaftlichen Institutionen besteht das Problem nicht hauptsächlich in den persönlichen Malaisen der Repräsentanten, wenn auch reaktionäre Institutionen z. B. besonders viele Zwangscharaktere und andere aktive Neurotiker anziehen. Es handelt sich vielmehr um die strukturelle Analogie zwischen der psycho-physischen Organisation des Individuums und der institutionellen Struktur der Gesellschaft in ihrer Eigenschaft als informationsverarbeitendes System.

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Was ich behaupte, ist, daß die Parteiorganisation, wie wir sie jetzt konkret vor uns haben, ein veraltetes Weltbild und Verhaltensmodell konserviert, daß sie als soziales Erkenntnisorgan auf »physiologischer« Ebene sklerotisch, auf »psychologischer« neurotisch funktioniert. Solche leistungsgeminderten und funktionsgestörten Gehirne pflegen ihre Organismen früher oder später zugrunde zu richten, weil die Entscheidungen, die sie treffen, zu weit vom Optimum abliegen, abliegen müssen, oft nur geeignet sind, das Gesamtsystem noch tiefer in die Krise zu verstricken. Die heutige Parteiorganisation ist eine Struktur, die aktiv massenhaft falsches Bewußtsein produziert. An der Spitze gerinnt dieses falsche Bewußtsein zu Entscheidungen und Beschlüssen, die insgesamt keine adäquate Interpretation der gesellschaftlichen Bedürfnisse, Notwendigkeiten und Möglichkeiten darstellen können. Sie ist konditioniert wie ein Pawlowscher Hund, der eine lange Zeit braucht, um eine einmal eingeübte Reaktion auf irgendein Signal zu verlernen, wenn dieses Signal seine Bedeutung verändert.

Sie ist sogar schwerfälliger als dieser Hund: sie tut das Mögliche und manchmal auch das Unmögliche, um dem gewohnten Signal soviel wie möglich von seiner verflossenen Bedeutung zu erhalten. So weit ihre Macht reicht, kann sie dafür sorgen, daß die Erwartungen, nach denen sie reglementiert, bestätigt werden, und zwar besonders die negativen, die'immer wieder die Beibehaltung des repressiven Mechanismus rechtfertigen. Was an Informationen passiert, ist erstens durch den Filter entstellt, der von vornherein die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen spediert, und vor allem geht natürlich in das Resümee stets das Apriori der Bewertung ein, das mit dem starren Programm gegeben ist. Hinter unliebsamen Erfahrungen steckt ohnehin der Klassenfeind, sei's der vergangene oder der gegenwärtige. Was sich dem Schema nicht fügt, weil es in dem vorgefaßten offiziellen Selbstbild nicht vorkommt, wird als Diversion qualifiziert, weggelassen oder in seiner Bedeutung heruntergespielt (als »untypische Erscheinung«).

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Der Apparat ist — weit über die individuelle Beschränktheit seiner Träger hinaus — blind gegen alle Reaktion der Gesellschaft auf seine eigene lastende und provozierende Existenz. Der einzelne Bürokrat kann irren — oder wenigstens nachträglich geirrt haben —, aber die Partei, das heißt der Apparat als ganzes, hat immer recht, wie unser freireligiöser Louis Fürnberg dichtete. Daher sieht man die amtlichen historischen Materialisten so regelmäßig nach Sündenböcken suchen, um die Fehlfunktionen des sozialen Ensembles zu kaschieren, dem sie vorstehen.

Wenn die Gesellschaft die Partei beim Wort nehmen will, so kann sie das alles in einen einzigen fundamentalen Vorwurf zusammenfassen: Sie sollte die soziale Struktur zur Entfaltung des gesellschaftlichen Erkenntnisprozesses, etwas wie die Großhirnrinde des sozialen Nervensystems sein, ein Organ, an dem alle denkenden Elemente des Volkes partizipieren können (wahrhaftig keine Maximalforderung!). Statt dessen schiebt sie sich wie eine verfärbte, systematisch mit Dunkelfeldern durchsetzte Zerrlinse zwischen das gesellschaftliche Denken und die Wirklichkeit. Die werktätigen Massen, die nicht darüber unterrichtet sein können, wie diese Linse gewachsen und konstruiert ist, wie sie eingestellt und gedreht wird, was sie abblendet, welche systematischen Fehler sie verursacht, können nur darauf verzichten, dieses Instrument zu benutzen, und sie tun es auch: sie »schalten ab«, noch ehe die offiziellen Gebetsmühlen den ersten Satz geklappert haben. Aber die Tragödie besteht darin, daß sie damit überhaupt auf differenzierte Erkenntnis verzichten müssen, weil die Gesellschaft keine alternative Struktur dafür besitzt. 

Schlimmer noch: die einzige Theorie, die geeignet ist, den Dschungel des bürokratischen Zentralismus und sein politbürokratisches Allerheiligstes zu durchdringen, der revolutionäre Marxismus, ist infolge der totalen Verfügungsgewalt des Apparats über die Massenkommunikationsmittel und das Erziehungswesen noch immer so effektiv von der Parteibürokratie usurpiert, daß ihn das allgemeine Mißtrauen der Massen mitbetrifft. 

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In welchen Varianten er auch immer auftritt, die Menschen haben den Verdacht, er sei eigens dazu geschaffen worden, die jetzige Parteiherrschaft zu begründen. In das hochprozentige Vakuum, das so entstanden ist, schießt die ideologische Massenproduktion des Westens ein, wo immer dessen Kommunikationstechnik hinreicht. Und die Widersprüche unseres Systems sind so weit gediehen, daß der bürgerliche Propagandaapparat wenigstens zum Teil eher die Rolle eines nützlichen Korrektivs spielt: wo sein Einfluß fehlt, wie zur Zeit noch in weiten Teilen der Sowjetunion, ist die geistig-politische Situation der Werktätigen gegenüber dem politbürokratischen Regime ungünstiger als bei uns, in den peripheren Ländern des Blocks. 

Woher kennen die Kommunisten der osteuropäischen Länder das wirkliche Leben der fortschrittlichen Bewegungen in aller Welt? Woher wissen sie etwas von den sozialistischen Erfahrungen Jugoslawiens, Chinas, woher von dem 68er Aktionsprogramm der tschechoslowakischen Partei? Wer zitiert, wie tendenziös auch immer, die »Rinascita« der italienischen Kommunisten? 

Man könnte das endlos fortsetzen. Der antiprometheische Charakter der maßgebenden »Bruderparteieri«, allen voran der sowjetischen und unserer deutschen, ist die verheerende Tatsache. Ihre innere Verfassung und ihre Herrschaftsform als Überstaatsapparat sind die entscheidenden Entwicklungshemmnisse auf dem Wege zur weiteren Emanzipation der Menschen in unseren Ländern. 

Die Partei, die einmal Lenins war, die Partei, die von Liebknecht, von Luxemburg begründet wurde — sie wirken heute mit umgekehrter Fackel.

Die Kommunisten sind in solchen Parteien gegen sich selbst und gegen das Volk organisiert. 

Schon durch sein bloßes physisches Dasein, ohne jede speziellere Perfidie, ist der heutige Parteiapparat der Totengräber der Parteiidee und der individuellen Parteigesinnung. 

Er macht gerade jene Menschen, die aus der Notwendigkeit ihres Charakters und ihrer Überzeugung Kommunisten sind, als Parteimitglieder überflüssig. 

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Mehr noch: 

Wenn es nicht gelingt, sie zu Bürokraten zu machen, in den Apparat zu integrieren, können sie in der Tat nur »schaden«, so daß es logisch ist, die Maschinerie gegen sie in Alarmbereitschaft zu versetzen. Es ist noch das Beste an der mechanistischen Logik, die in dem ganzen Gebäude herrscht, daß der Parteistil selbst dort schon Opposition hervorruft, wo Genossen mit Gesinnung sein Gesetz noch nicht durchschauen. Die ursprüngliche emotionale Basis aller artikulierteren Oppositionen war der Protest der denkenden Mitglieder gegen die vormundschaftliche Stupidität eines nicht mehr dienstbaren, sondern herrschenden Parteiapparats.

In der Stunde der Umgestaltung wird sich überall wie 1968 in der CSSR herausstellen, daß unter der harten Schale eine andere, neue Partei — wir müssen sagen: mindestens eine — auf ihre Entbindung gewartet hat. Wir müssen versuchen, vorauszusehen, was das für eine Partei sein wird, denn es versteht sich, daß sich ihre wirkliche Natur nur sehr bedingt nach unseren prinzipiellen Wünschen richten wird. Der Marxismus bietet uns nur die Möglichkeit, aus dem Charakter der gegebenen Gesellschaft und ihrer Widersprüche zu extrapolieren. Und dem einzelnen Kommunisten wird das historische Recht bleiben, seine persönliche Wahl zu treffen und seinen Einfluß auf die Richtung der Ereignisse geltend zu machen — eine Möglichkeit, die er jetzt nicht besitzt. Das allein schon wäre ein großer Fortschritt. 

Es ist unsinnig, im vorhinein Garantien zu verlangen, alles habe nach irgendwessen klugem Kopfe zu gehen. Das sollten alle diejenigen, besonders unter den alten Kommunisten, bedenken, die angesichts der neuen Entwicklungen und Theorien immer zuerst ihr moralisches Postulat auf die Grundsätze anmelden, mit denen sie in einer sehr anderen Situation groß geworden sind. Kann man denn vergessen, daß diese Grundsätze in die Metamorphose der Partei zum Herrschaftsapparat mit eingegangen sind, und daß ihre Beschwörung heute nur darauf hinauslaufen kann, alles so zu lassen, wie es ist? Hat nicht mancher alte tschechoslowakische Kommunist aus solchen subjektiv begreiflichen Motiven dabei mitgeholfen, das abgewirtschaftete Novotny-Regime nach dem August wieder zu restaurieren? Wir müssen Kurs auf einen neuen Anfang nehmen, statt uns unter dem Ballast unserer vorigen Niederlagen zur Untätigkeit zu verdammen.

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1973-1975 

 

 

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Rudolf Bahro 1977 Die Alternative Zur Kritik des real existierenden Sozialismus