Vergleiche mit:  Berneri (1934) Der Arbeiterkult           Start      Weiter

7. Der Unbegriff der Arbeiterklasse jenseits des Kapitalismus 

   

"Daß das Proletariat das Kollektivsubjekt der allgemeinen Emanzipation sein
sollte, blieb eine philosophische Hypothese, in der sich die utopische
Komponente des Marxismus konzentrierte." Seite 233, hier gekürzt

215-239

Der Begriff des Gesamtarbeiters, von dem ich im vorigen Kapitel ausging, hat trotz quantitativer Überschneidungen nichts mit dem Begriff der Arbeiterklasse zu tun. Insbesondere die linke Kritik an unseren Zuständen, mit der ich stimmungsmäßig sympathisiere, folgt oft einer dogmatischen Logik, wenn sie die irre­führende, ja objektiv reaktionäre, auf eine Wiederholung des durchlaufenen Zyklus zielende Forderung erhebt, nun, endlich die authentische Herrschaft der Arbeiter­klasse herzustellen. 

Der Begriff der Arbeiterklasse ist schlechthin ungeeignet, an die wesentlichen Strukturmerkmale unserer Gesellschaft und an das Problem ihrer Perspektive heranzuführen. 1969/70 grassierte in der DDR die These, die Arbeiterklasse sei die körperlich und geistig produktive, leitende und machtausübende Klasse. Nicht zuletzt zu apologetischen Zwecken, zur Verschleierung der sozialen Widersprüche erfunden, bedeutete sie jedenfalls, daß alle »Arbeiter- und Angestellten« unserer Bevölkerungsstatistik einschließlich unabgrenzbar »großer Teile der Intelligenz« und natürlich der gesamten Partei-, Staats-, Gewerkschafts- und Wirtschafts­bürokratie in einem einzigen Suppentopf theoretisch unter Luftabschluß gehalten werden sollten. 

Gegenwärtig liefert man überhaupt keine Definition der »Arbeiterklasse« mehr, weil sie — wie man natürlich nicht eingesteht — objektiv unmöglich ist. Der Begriff der Arbeiterklasse hat bei uns keinen abgrenzbaren und, viel entscheidender, in der praktischen Aktion als Einheit erscheinenden Gegenstand mehr. 

Jene »Arbeiter und Angestellten« machten damals schon über 80% der Gesamtbevölkerung aus. Mit dem Fortschritt der übergenossenschaftlichen Kooperation in der Landwirtschaft gleicht sich deren Gesamtarbeiter in seiner soziologischen Struktur gerade von den Produktionsverhältnissen her, die wahrhaftig nicht mehr durch das rudimentäre Eigentumsrecht bestimmt werden, dem industriellen sehr rasch an. 

In bezug auf die Grundprobleme unserer Sozialstruktur können »Arbeiter« und »Genossenschaftsbauern« bereits identifiziert werden, was die Analyse und Beachtung der Besonderheiten natürlich nicht überflüssig macht. Sie können und müssen einfach deshalb identifiziert werden, weil nicht mehr eine »horizontale« Klassenteilung, sondern eine »vertikale« Schichtenfolge, mit allerdings noch harten Übergängen, charakteristisch für unsere Gesellschaft ist. Das Grundverhältnis besteht nicht zwischen einer Arbeiterklasse und den übrigen Elementen der Sozialstruktur, sondern in ihrer gemeinsamen Gleichheit gegenüber einem dritten Faktor. Zwischen einem Produktions­arbeiter und einem hand­arbeitenden Genossenschafts- oder vielmehr Kooperationsbauern gibt es im Hinblick auf ihre Stellung im Produktions- und Reproduktionsprozeß kaum mehr als formelle Unterschiede. 

In den Kategorien der Klassenstruktur läßt sich unsere nichtkapitalistische Ordnung bestenfalls nach ihrer Vergangenheit interpretieren. Unter diesem Gesichtspunkt stellt sie sich als ein Subtraktionsergebnis dar: Summe der Klassen und Schichten der bürgerlichen Gesellschaft minus Bourgeoisie und Junker. 

Selbst unter Einschluß der Feststellung, daß nach dieser Subtraktion die Valenzen und Gewichtsverhältnisse der verbliebenen Elemente maßgeblich verändert sind, kommt man auf diesem Wege nicht über eine bloße morphologische Beschreibung hinaus, deren Einteilungskriterien aus der alten Gesellschaft stammen. 

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Jenseits des Kapitalismus verliert der Begriff der Arbeiterklasse nicht nur seinen operativen Sinn, sondern er wird dann zur Bemäntelung dieser oder jener neuen Sonderinteressen verfügbar, speziell zur Pseudo­legitimation der bürokratischen Stellvertreter-Macht. Es gibt übrigens in den real-sozialistischen Ländern kaum noch einen Theoretiker, der es unternähme, ihn ernsthaft einzugrenzen. Individuen bilden eben nur insofern eine Klasse, als sie in bezug auf ihre Stellung zu den Produktions- und Existenzbedingungen im gemeinsamen Gegensatz zu einer anderen stehen. Klassen sind grundsätzlich korrelative Kategorien, die mit allen anderen und insbesondere natürlich mit den dominierenden Elementen ihrer Formation korrespondieren. Sie können nur aus dem Gesamtgefüge einer Gesellschaft heraus definiert werden. Mit der Bourgeoisie verliert auch das Proletariat seine spezifische sozialökonomische Identität, so daß in der nachrevolutionären Situation ganz andere, interne Strukturkriterien relevant werden müssen. 

(Deren Aufdeckung wird freilich dadurch hinausgezögert, daß die neuen herrschenden Elemente nun verstärkt die alte Identität in die Konfrontation mit dem äußeren Feind, in Gestalt der verbleibenden bürgerlichen Staaten, hinüberzuretten suchen, wofür es ja durchaus eine objektive Basis gibt.) 

Betrachten wir die Tatsachen, nach der Art des indirekten Beweises, zunächst noch vom Standpunkt der traditionellen Begriffe, insbesondere des üblichen Proletariatsbegriffs, der die Industriearbeiter unter Ausschluß der technischen Intelligenz meint.

In den spätkapitalistischen Ländern setzt sich langfristig die sozialreformatorische Tendenz in der Arbeiterbewegung durch. Schon mit der Heraus­differenzierung der »Arbeiteraristokratie«, d.h. mit der Qualifizierung eines großen Teils der Handarbeit auf der Basis der kapitalistischen Industrialisierung und mit dem Anwachsen der auf Differenzierung der Leitungsfunktion basierenden Angestelltenschicht, war die Arbeiterbewegung reformistisch geworden. 

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Ihre Spaltung in divergierende Parteien statt Flügel ist nur unter der Voraussetzung der siegreichen russischen Revolution verstehbar, d. h. sie ist von vornherein kein rein internes Phänomen der hochindustrialisierten kapitalistischen Länder gewesen. Insbesondere die deutsche Arbeiterbewegung ist in den zwanziger Jahren an ihrer Spaltung und an der »Bolschewisierung« der KPD, ihres aktivsten Elements, gescheitert. Rosa Luxemburgs bis zuletzt nicht völlig ausgeräumte Bedenken gegen die Verselbständigung des linken Flügels hatten eben ihren rationellen Kern. In keinem einzigen westlichen Land hat die verselbständigte kommunistische Partei, deren ideologische Intention natürlich durchaus aktuell war, die in sie gesetzten Erwartungen erfüllen können. 

Eben hat der ererbte Anachronismus der alten Kominternstrategie die Chancen der portugiesischen Revolution entschieden vermindert, indem die PKP dafür sorgte, daß das politische Spektrum des Landes links statt rechts von der Mitte riß und überdies der linke Flügel des Militärs gespalten und seine besten Kräfte verschlissen wurden. Man kann nur hoffen, daß die portugiesische Erfahrung diesem ganzen unglückseligen Typus kommunistischer Strategie endgültig den Totenschein ausstellt. 

Heute, wo der Impuls der russischen Revolution verbraucht ist, während die alte Basis im Westen auf neuer Stufenleiter persistiert, ist die »Resozialdemo­kratisierung« der stärksten kommunistischen Parteien, in Italien, Frankreich, Spanien, Finnland usw., ihre Tendenz zur Reunion unübersehbar (obwohl sie keineswegs auf die Positionen der jetzigen sozialdemokratischen Führungen hinweist). Jedenfalls kommt die traditionelle Arbeiterbewegung in den spätkapitalistischen Ländern nicht an die Macht. Revolutionäre Aktivitäten wie in Frankreich 1968 gehen von gesellschaftlichen Kräften aus, die bisher in der Regel nicht zur Arbeiterklasse gerechnet wurden. 

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Selbstverständlich bleiben die historisch älteren Arbeiterschichten auf dem Plan, und sie müssen in der kommunistischen Partei ihre Vertretung behalten, aber es ist nicht mehr möglich, auf ihre Interessen die allgemeine Strategie zu gründen. 

Mit dem Übergang zum Staatsmonopolismus tritt auch die Sozialdemokratie in eine neue Entwicklungsphase, in der sich die nächste Kräfteverschiebung innerhalb des »lohnabhängigen« Gesamtarbeiters, die Kräfte­verschiebung zum Spezialistentum, widerspiegelt. Wie kann die Sozialdemokratie dominierende Regierungspartei sein? Besonders im klassischen amerikanischen Fall hat sich, wie Whyte nach der Euphorie der »managerial revolution« nachwies, das Management als sozial und politisch konservatives Element erwiesen. Doch handelt es sich in Amerika um einen Spätkapitalismus, der die Prägung durch seine einstige Pionierzeit noch nicht völlig hinter sich gelassen hat und dem insofern trotz des »Pentagonismus« noch die letzte staatsmonopolistische Ölung fehlt Whyte konzentrierte sich gerade auf das Konzernmanagement, wo allgemeine Arbeit noch für — am Rahmen der bestehenden Gesellschaft gemessen — partikulare Zwecke geleistet wird. 

Das vordringende staatliche Management ist in seinem Erfolg und in seiner sozialen Perspektive daran gebunden, die infolge der schnellen Spontan­entwicklung des ganzen Gesellschaftsprozesses in immer schnellerem Rhythmus fälligen Anpassungen reformatorisch, d.h. im Einklang mit dem fundamentalen Klasseninteresse einer selbst in Transformation begriffenen Finanzoligarchie zu bewältigen. 

Der Wille hierzu war das Geheimnis und die Ausstrahlung John F. Kennedys, der den traditionellen Familienreichtum als Sprungbrett für einen höheren Typus nationaler Führerschaft als den des industriellen Bourgeois benutzen wollte. Kennedy wollte dem amerikanischen Staat eine gesellschaftliche Rolle geben, die ihm in der bisherigen amerikanischen Geschichte nach innen niemals zukam. 

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(Die Ermordung Kennedys signalisierte ähnlich wie die Ermordung Walter Rathenaus die Gefahr der konservativ-faschistischen Gegenrevolution, der Flucht nach rückwärts statt der Flucht nach vorn aus der permanenten Krise des Übergangs zu einer neuen, höheren Zivilisation).

In Westeuropa scheint sich der für die faschistische Ausflucht prädestinierte Kräfteblock bereits historisch verausgabt zu haben, seine Stunde dürfte vorbei sein. Der Abstieg des konservativ-reaktionären Blocks im Nachkriegs-Westdeutschland ist ein sehr bedeutendes Symptom für unseren Kontinent. Wenn die Zeichen nicht trügen, wird Westeuropa sozialdemokratisiert, vielleicht sogar Frankreich, obwohl dort die traditionellen herrschenden Mächte einen alten etatistischen Vorlauf hatten. Brandt war Kennedy analog, aber er stieg mit einer ganz anderen (nämlich nicht nur temporär-psychologischen) Massenbasis vergleichsweise »von unten« in die Staatsmaschine ein. 

Die deutsche Bourgeoisie war aus Gründen ihrer ganzen Geschichte nicht in der Lage, einen Kennedy äquivalenten Typus, eben den Typus Rathenau, auch nur für eine Stunde an der Spitze der Nation zu präsentieren. Sie brachte es nur bis zu den Prokuristen Stresemann und Adenauer. Daher blieb den Neoliberalen nichts anderes übrig, als der Sozialdemokratie (deren Namen natürlich nicht wörtlich genommen werden darf) zu sekundieren^Die Sozialdemokratie nach dem Zuschnitt Wehner-Brandt-Schmidt kann — das ist das Wesentliche — einfach deshalb nicht mehr als »bürgerliche Arbeiterpartei« qualifiziert werden, weil sie am Hebel der ökonomisch potenten staatlichen Superstruktur doch etwas mehr als bloß eine von der Bourgeoisie abhängige Größe wird, ohne sich dabei etwa »neoproletarisch« zu regenerieren. Natürlich ist der Ptozeß noch nicht abgeschlossen, die Position noch nicht endgültig konsolidiert. Vieles wird davon abhängen, ob sich in der EWG eine übernationale staatliche Superstruktur durchsetzt.

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Was ist die heutige westeuropäische und speziell auch die westdeutsche Sozialdemokratie (und zwar unabhängig davon, ob ihr politischer Kurs nun mehr rechts wie Brandt oder mehr links wie Palme ist)? Sie ist weder bürgerliche noch Arbeiterpartei, schon gar nicht »Volkspartei«. Dem qualitativen Kern ihrer Massenbasis nach ist sie am ehesten Partei der »neuen Arbeiterklasse«, der breiten Spezialistenschicht, von der wir sprachen, und die natürlich auch ihr verwandte Ideologen erzeugt.

Die Studentenunruhen im Westen sind Rebellion der künftigen Spezialisten im Hinblick auf ihren Anspruch, keine zu werden, nicht in die vorbereitete subalterne Position in den Bienenwaben des Spätindustrialismus einzurücken. Diese Schicht, und ihre Studenten voran, ist antikapitalistisch und anti-managerial (gegen das »Establishment«) zugleich. 

So unreif und neuerdings dogmatisch sie sich — aufgrund ihres noch ganz neuen Selbstgefühls — artikuliert, bringt sie doch wenigstens potentiell Interessen der ganzen Arbeiterklasse und besonders der Arbeiterjugend mit zum Ausdruck, zumal natürlich zwischen den Spezialisten der naturwissenschafttechnisch-ökonomischen Disziplinen einerseits, der qualifizierten Handarbeit andererseits wohl eine Differenz, aber keinerlei Antagonismus auftritt. Sie arbeiten zum Beispiel in den Versuchsabteilungen kameradschaftlich, ohne paternalistische Vormundschaft der einen über die anderen zusammen und fühlen sich in ihrem beiderseitigen Spezialistentum aufeinander angewiesen. Zumindest tendenziell herrscht hier die gelobte »herrschaftsfreie Kommunikation«. 

In dem Maße nun, wie das kapitalistische Element in einer Gesellschaft zurückgedrängt wird, kann diese Schicht als der wahre Gegenspieler des etatistischen Managements auftreten, gleichgültig, ob es sich sozialdemokratisch oder kommunistisch gibt, und dabei an der Spitze der großen Mehrheit stehen, die die ausführenden Funktionen des Gesamtarbeiters wahrnimmt. 

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Gegen den privaten Kapitalismus, gegen den Partikularismus der Monopole aber gehen ihre Interessen bedingt mit dem etatistischen Management überein, das sich in seinem Bestreben nach rationaler Regulierung von oben durch den traditionellen »Pluralismus« der Bourgeois, der Konzerne gehindert und damit in seinen sozialen Erfolgsaussichten geschädigt sieht. (Wie oft geben die Ideologen und Journalisten seiner couleur ihrem Neid auf die dirigistische Macht unserer maßgebenden Bürokraten Ausdruck!) 

Die Sozialdemokratie an der Macht ist die Partei des Interessenkompromisses zwischen der »systemtranszendierend« votierenden Spezialistenschicht und dem »systemreformatorisch« orientierten Teil des Managements, besonders des »öffentlichen«, das natürlich nach wie vor in den langfristigen Interessen des Monopolkapitals seine Grenze respektiert. Genau besehen finden die beiden Flügel nur in der Konfrontation mit der konservativen Fraktion der Bourgeoisie eine gemeinsame Sprache. 

Die Rivalität kann sich jedoch, besonders dann, wenn der Flügel der Nichtetablierten stark ist und sich faktisch zum Fürsprecher aller außerhalb des Managements stehenden Werktätigen macht, also eine höhere Version des Allgemeininteresses verficht, für eine längere evolutionäre Periode als relativ fruchtbar erweisen und dialektisch einer grundsätzlicheren antikapitalistischen Linie der Massen den Weg bereiten. Um den jungsozialistischen Flügel der Sozialdemokratie gruppieren sich heute die progressivsten Elemente der westdeutschen Gesellschaft, was nicht heißt, daß sie alle in ihm aufgehen und den Kompromiß mit der sozialdemokratischen Parteidisziplin auf sich nehmen sollten. Doch ist Sektierertum heute die schlimmste Sünde. Auf die Dauer kann die Stunde einer großen marxistischen Partei, einer Union aller wirklichen Sozialisten in Westdeutschland nicht ausbleiben. Aber sie wird ein qualitativ anderes Subjekt als »die Arbeiterklasse« politisch artikulieren. 

Wie steht es mit der Arbeiterklasse in den Ländern des real existierenden Sozialismus? Die Diktatur der Bolschewiki war von Anfang an ebensowenig mit der Herrschaft der Arbeiterklasse identisch wie die Jacobinerdiktatur mit der Herrschaft der Sansculotten.

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Keiner der früheren und keiner der jüngsten sozialen Zusammenstöße läßt auf etwas schließen, was auch nur annähernd als Tendenz zur Herausbildung einer authentischen Arbeitermacht interpretiert werden könnte. Die Einführung der Selbstverwaltung in Jugoslawien hat zunächst primär zur Teilung der sozialen Macht zwischen dem Staat und einem dezentralisierten Management geführt, das von den unmittelbaren Produzenten im allgemeinen zwar formal verantwortlich gemacht, aber nicht wirksam kontrolliert werden kann. Immerhin kann dort der Bund der Kommunisten noch das abstrakte Prinzip der Arbeitermacht behaupten, weil er sich weder an die Staatsmaschine noch an das Management ausverkauft hat.

Die »Große Proletarische Kulturrevolution« in China hat die Arbeiterklasse des Landes (obwohl darin keineswegs ihr Wesen bestand) eher als Objekt betroffen. In der Tschechoslowakei dominierte 1968 eindeutig »die Intelligenz«, der es hauptsächlich um ihre »glorious revolution« ging (in Analogie zu dem bekannten Ereignis der englischen Geschichte, bei dem die wirklichen Nutznießer der dortigen bürgerlichen Revolution das politische System an ihre Bedürfnisse anpaßten).

In Polen wurde die Arbeiterklasse im Dezember 1970 von der Stupidität des Partei-Staats-Apparats zur Rebellion provoziert, sah sich jedoch danach sogleich vollständig auf eine annehmbare Alternative innerhalb des Apparats angewiesen: die Erhebung gab den Anstoß zu einer, wie man sagen könnte, »kleinen proletarischen Kulturrevolution« von oben, nämlich zur Säuberung des Apparats von einigen der reaktionärsten, rücksichtslosesten und unbelehrbarsten Bürokraten. Wir sollten dies als ein den sozialökonomischen und politischen Voraussetzungen adäquates Ergebnis auffassen. Das Wesen unserer inneren Situation kommt gerade auch darin zum Ausdruck, daß die Arbeiterklasse keine anderen Kader, keine anderen Organisationen besitzt als die, von denen sie beherrscht wird.

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Sofern ihr der neue Staat als allgemeiner Kapitalist gegenübertritt, also gerade in derjenigen Hinsicht, in der sie ihre alte Lohnarbeiter-Identität noch wahrt, steht sie in dieser Konfrontation ohne andere Führer als ein paar spontan erhobene, unerprobte Sprecher da. Die Gewerkschaften, die ursprünglichen Kampforganisationen für ihre besonderen Klasseninteressen, treten fast nur in Hilfsfunktionen der Staatsmaschine auf (sei es auch in der an sich sehr angenehmen sozialen Betreuung). Dieser ihren unmittelbaren Interessen angemessenen Assoziationen beraubt, sind die Arbeiter dem Regime gegenüber automatisch atomisiert. Sie sind jedenfalls keine »Klasse für sich« mehr, und schon gar nicht in politischer Beziehung.

 

Bei einem Erfolg — welcher Art auch immer — der tschechoslowakischen Reformbewegung hätten die Arbeiter ihre Gewerkschaften zurückbekommen, was ihre sozialpolitische Lage verbessert hätte. Doch andererseits wäre gerade mit dieser Restauration ihre subalterne Rolle als Lohnarbeiter des von einer Bürokratie gehandhabten Staates anerkannt worden. Wieweit man mit den vorgesehenen konzessionierten, nichtsouveränen Arbeiterräten über diesen Zustand hinauskommen konnte, muß offen bleiben, weil die Gesellschaftspolitik der neuen Partei noch nicht praktisch hervortrat. 

Es kann jedenfalls kein Zufall sein, daß das Prinzip der Arbeiterräte bisher nie zu den erhofften Ergebnissen geführt hat. Gerade im real existierenden Sozialismus hat sich mit aller Deutlichkeit erwiesen, daß das Industrieproletariat als solches nicht die ihm vorausgesagten Perspektiven besitzt. Was Marx in den Begriff einer welthistorischen Mission des Proletariats zusammendrängte, löst sich auf in die Geschichte nicht- bzw. nachkapitalistischer Industriegesellschaften. Wenn aber die allgemeine Emanzipation ein generationenlanger Prozeß ist, kann sie nicht die Bewegung eines bereits harmonisierten Subjekts sein, das sich dabei gleichbliebe. 

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Ihren selbst noch antagonistischen Charakter leugnen, heißt ihr Resultat theoretisch an den Anfang setzen. Die ungeheure Mehrheit der proletarischen Individuen kann ihre Lage nur nominell verändert finden und muß für den bescheidenen Gewinn, der hauptsächlich in »sozialer Sicherheit« besteht, unter Umständen sogar mit einem langsameren Wachsen des Lebensstandards bezahlen.

Heute dient das Bestehen der offiziellen Theorie und Propaganda auf der »führenden Rolle der Arbeiterklasse« einzig und allein der Rechtfertigung der Apparatherrschaft. Die Idee der Arbeitermacht wird dazu benutzt, eine Realität zu verschleiern, die ihr ganz und gar ins Gesicht schlägt. Die Arbeiterklasse als ganze, die Arbeitermitgliedschaft der Partei im besonderen — sie sind politisch gesehen dazu bestimmt, den nötigen Ballast abzugeben, der die Trägheit der Partei-Staats-Maschine gegen jeden Versuch einer effektiven Kurskorrektur verstärkt. Nicht zufällig hat Novotny, wenn er auch erfolglos blieb, vor seinem Sturz noch an die Arbeiter zu appellieren versucht! Nicht zufällig wacht der Organisationsapparat der Partei mit Argusaugen über den »Arbeiteranteil« als den einzigen Sektor der Mitgliedschaft, den er künstlich forcieren muß! Denn freilich: die Arbeitet drängen sich nicht nach der Art von »führender Rolle«, die ihnen das System zumutet. Vielmehr hat sich sowohl in der CSSR wie in Polen gezeigt, daß sie gerade dann eine progressive Rolle in der Gesellschaft spielen können, wenn sie sich von der Vormundschaft des Parteiapparats emanzipieren.

Nun werden diejenigen, die ihre Augen vor dem wirklichen Verhältnis von Arbeiterklasse und Partei-Staats-Apparat verschließen möchten und deshalb stets auf dogmatische Diskussionen über orthodoxe Lehrsätze aus sind, natürlich darauf verweisen, daß sich der Proletariatsbegriff von Marx zwar ökonomisch-analytisch auf die Industriearbeiterschaft konzentriert, aber keineswegs darauf beschränkt. 

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In dieser Hinsicht konstatiere ich zunächst nichts weiter, als daß der historische Block, der sich um die »proletarischen« Interessen kristallisierte und in den sozialistischen Parteien seinen avanciertesten Ausdruck fand, von vornherein durch den inneren Widerspruch gekennzeichnet war, an dem er nach der politischen Machtergreifung auseinanderklaffen mußte. 

Die Parteikonzeption von Marx und noch mehr die von Lenin haben ja gerade diesen Widerspruch zum Thema. Sie waren das Programm einer revolutionären Elite, die das intellektuelle Element der Arbeiterklasse an sich heranzog, mit sich vereinte, um mit dem Material der wirklichen Arbeiterbewegung, die — während sie ihre besonderen Klasseninteressen verfolgt — eine solche Tendenz nicht hat noch haben kann, Aufgaben wie die allgemeine Emanzipation des Menschen oder die Erneuerung Rußlands in Angriff zu nehmen.

Es ist eines, die Arbeiter zum vollen Bewußtsein ihres ökonomischen Klassengegensatzes zu den Bourgeois zu führen, ein ganz anderes, ihnen ihre »universellen« Interessen bewußt machen zu wollen. Das heißt die spezifische Entfremdung der Arbeiterklasse zugleich als Realität konstatieren und verleugnen, heißt die Möglichkeit der Emanzipation für das proletarische Individuum mit der Möglichkeit der Emanzipation der ganzen Klasse gleichzusetzen. Wir können an dem folgenden Text des jungen Gramsci studieren, wie diese Substitution des einen Problems durch das andere funktioniert. 

Gramsci — den ich gerade deshalb zitiere, weil er damals bereits einen über den heutigen Durchschnitt hinaus fortgeschrittenen Einblick in das Problem hatte — schrieb im September 1920 im Ordine Nuovo (Philosophie der Praxis/83):

»Welche Kraft der Expansion können die Gefühle eines Arbeiters haben, der, über seine Maschine gebeugt, acht Stunden täglich die berufliche Geste wiederholt, monoton wie das Abbeten eines Rosenkranzes, wenn er einmal >Herrscher< sein wird, wenn er zum Maß der gesellschaftlichen Werte wird? Ist nicht allein die Tatsache ein Wunder, daß es dem Arbeiter noch gelingt zu denken, obwohl er etwas tun muß, ohne das Wie und Warum seiner praktischen Tätigkeit zu kennen?

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Dieses Wunder des Arbeiters, der täglich seine geistige Autonomie erobert und die eigene Freiheit, Ideen in eine Ordnung zu bringen, der gegen die Müdigkeit, die Langeweile kämpft, gegen die Monotonie der Geste, die das Innenleben zu mechanisieren und folglich abzutöten droht, dieses Wunder Organa siert sich in der kommunistischen Partei, im Willen zum Kampf und zur revolutionären Schöpfung. Der Arbeiter hat in der Fabrik nur rein ausführende Funktionen. Er folgt nicht dem allgemeinen Arbeits- und Produktionsprozeß, er ist kein Punkt, der sich bewegt, um eine Linie zu schaffen, er ist eine an einem bestimmten Platz festgesteckte Stecknadel, und die Linie ergibt sich aus einer Aufeinanderfolge von Stecknadeln, die ein fremder Wille zu seinen Zwecken angeordnet hat. 

Der Arbeiter neigt dazu, diese seine Seinsweise in alle Kreise seines Lebens zu tragen; überall paßt er sich leicht der Aufgabe an, materiell Ausführender, <Masse> zu sein, die von einem ihm fremden Willen geführt wird; er ist, intellektuell gesehen, faul, weiß nichts und will nichts außerhalb des unmittelbar Gegebenen sehen, deshalb ist er bar jeden Kriteriums bei der Wahl seiner Führer und läßt sich leicht von Versprechungen täuschen; er glaubt, ohne eine große Anstrengung seinerseits und ohne viel denken zu müssen, etwas bekommen zu können. Die kommunistische Partei ist das Instrument und die historische Form eines inneren Befreiungsprozesses, durch den der Arbeiter von einem Ausführenden zu einem Initiator, von der Masse zum Führer, von dem Arm zu Kopf und Willen wird ... Die russische Revolution wurde von Menschen vollendet, die in der kommunistischen Partei organisiert sind, die in der Partei eine neue Persönlichkeit und neue Gefühle erworben haben und ein geistiges Leben verwirklichen, das danach strebt, universelles Bewußtsein und Ziel für alle Menschen zu werden.« 

Soweit Gramsci.

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Die marxistischen Intellektuellen hatten stets ein idealisiertes Bild »des Arbeiters«, das auf niemand anderen hinwies, als auf sie selbst. Wegen der Fixierung auf den Arbeiter, der Parteimitglied, kommunistischer Intellektueller und Organisator wird, läuft soviel marxistische Diskussion in Europa seit 1914 auf Erklärungen dafür hinaus, daß die Interessen, die die Arbeiter wirklich zeigen, nicht ihre wirklichen Interessen seien. 

In Wahrheit drückt der Marxsche Begriff des Proletariats die Utopie aus, daß auf den Kapitalismus der freien Konkurrenz in einem kurzen Übergang unmittelbar der Kommunismus folgen würde. Darum wurde ihm und seinen Nachfolgern auch der Widerspruch, der von vornherein in seine Parteikonzeption eingeschlossen war, nicht in seiner eigentlichen Bedeutung bewußt, obwohl in der marxistisch-sozialdemokratischen Bewegung immer wieder das »Seit-an-Seit« der »Arbeiter des Kopfes und der Hand« beschworen werden mußte. Wir hatten ja gesehen, daß Marx der Möglichkeit einer neuen Ökonomischen Despotie nicht ins Auge sah. 

Dabei ist diese Möglichkeit schon in dem frühesten Keim der kommunistischen Parteiidee, in der Forderung nach der Vereinigung von Philosophie und Proletariat, nach dem »Blitzeinschlag des Gedankens in diesen naiven Volksboden«, konkreter gesprochen nach der Vereinigung der revolutionären Intelligenz mit der Arbeiterklasse, enthalten. Der Gestus war und blieb bis zuletzt und erst recht in den Leninismus hinein präzeptorisch, wenn auch die Begriffe mit der Vertiefung in die Ökonomie immer konkreter und reifer wurden. Nur die »Philosophie«, nur die vom letzten Wort des gesellschaftswissenschaftlichen Denkens durchdrungene Intelligenz — Heine hatte Marx und seine Freunde »Doktoren der Revolution« genannt — konnte dem Proletariat seine wahre Bestimmung, seine gegenwärtige Lage und seine Zukunftsinteressen bewußt machen. Wer sonst sollte auch schließlich den so sehr erwünschten Blitz schleudern?!

Die sozialistischen Parteien waren von vornherein, und durchaus nicht nur in Rußland, ambivalent sowohl Parteien des Proletariats wie Parteien für das Proletariat. Ihre Begründer und vorrevolutionären Führer waren erklärlicherweise mit ganz wenigen Ausnahmen Intellektuelle aus den Zwischenschichten. 

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Nicht die Arbeiterklasse gab sie sich als Führung, sondern sie gaben sich der Arbeiterklasse als Führung. 

Und um einen Platz unter ihnen einnehmen zu können, mußten die Arbeiter selbst Intellektuelle werden, wobei die Tatsachen der Arbeitsteilung und Klassenstruktur in der bürgerlichen Gesellschaft, die sich auch in den Arbeiterorganisationen widerspiegelt, stets zur Folge hat, daß diese Arbeiterintellektuellen aufhören, Arbeiter zu sein, als Arbeiter zu leben, daß sie in ein anderes Milieu, in eine andere besondere Existenz als Ideologen und Organisatoren, als »Offiziere« der Bewegung überwechseln. 

Nach dem Sieg treten sie ihren Klassengenossen als Funktionäre des herrschenden Apparats gegenüber. Die heutige Problematik liegt zunächst gar nicht in dieser Realität selbst, sondern in ihrer Vernachlässigung und Ignorierung durch die Theorie, einer Vernachlässigung, die aufs engste mit den unmittelbaren Sonderinteressen der Arbeiteroffiziere zusammenhängt. Auch Marx und Engels haben ihre eigene Rolle in der Arbeiterbewegung, obwohl sie sie doch sehr bewußt erlebten und sich sehr oft von den unmittelbaren Führern distanzierten, weniger kritisch und mehr emotional reflektiert als nahezu alle anderen Gegenstände ihrer Aufmerksamkeit. Auch bei ihnen finden wir also einen Rest der charakteristischen Blindheit des Subjekts für sich selbst. 

Wie mir scheint, ist ihr ganzer Proletariatsbegriff aus Gründen ihrer subjektiven Bedürfnisse nie völlig von dem Hegelschen Gegensatz zwischen (vernünftiger, wesentlicher) Wirklichkeit und (bloß empirischer, zufälliger) Existenz losgekommen. Das reale empirische Proletariat ist, obwohl von ihnen zum Repräsentanten der ganzen vorschreitenden Menschheit berufen, eine Klasse, die aus sich selbst heraus nur zu gewerkschaftlichen, tradeunionistischen Ausdrücken ihrer Interessen gelangt. 

Entsprechend einer übermächtigen historischen Realstruktur, wie sie auf einem früheren Entwicklungsniveau in seelsorgerischen Kirchenorganisationen zu gerinnen pflegte, mußte das Bewußtsein ihrer »wahren«, »welthistorischen« Ziele in die Arbeiterbewegung hineingetragen werden. 

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Es handelt sich jedoch insofern immer noch um jenseitige Interessen und Ziele, als sie sich zeitlich an derselben Stelle realisieren, an der sich auch die religiöse Subjektivität realisieren sollte: jenseits der Lebenszeit der aufgerufenen Individuen, Die Arbeiterklasse mußte also dazu erzogen werden, sich Individuum für Individuum über ihre empirischen, unmittelbaren Interessen zu erheben, die Trägheit der nach Marxens eigener Theorie ausschlaggebenden Arbeits- und Lebenssituation zu überwinden, was gesetzmäßig immer nur einer Minderheit gelingen kann. 

So kündigt sich bereits in dem Verhältnis von »Philosophie« und »Proletariat«, in der ganzen späteren Diskussion um das »Hineintragen« des revolutionären Bewußtseins,in die Arbeitermassen, um die Vereinigung von Sozialismus (als Wissenschaft) und Arbeiterbewegung, um das Problem von »Spontaneität und Bewußtheit« eine Gesellschaft an, die — in der Sprache der Feuerbachthesen — mit Notwendigkeit dahin kommt, sich »in zwei Teile zu sondern, von denen der eine über der Gesellschaft erhaben ist«. Denn die »Philosophie« — das können nur die »Philosophen« mit ihrem intellektuell-erzieherischen und administrativen Anhang sein! Aber in der hellenisierten Form, daß die Philosophen herrschen sollen, mittels einer Transmission von »Wächtern«, hatte einst Plato das Wesen der alten Ökonomischen Despotie Ägyptens erinnert.

Eine solche Perspektive — nun allerdings nach vorwärts, nicht nach rückwärts — entsprach aber völlig den Bedürfnissen jener vom Kapitalismus unbefriedigten Intelligenz, die die historische Phase der romantischen Negation hinter sich hatte und nun die Alternative vorwärts suchte, zunehmend revolutionär votierte. Dem Streben einer solchen Elite nach Totalität, nach Verallgemeinerung und Komplettierung ihrer Lebensweise und Subjektivität gibt das Programm der allgemeinen Emanzipation vorrangig Ausdruck. Nur für sie geht der Widerspruch zwischen unmittelbaren und welthistorischen Interessen praktisch auf. 

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Die an die Arbeiter gerichtete Forderung, die unmittelbaren, korporativen Interessen aufzuopfern für einen nicht unbedingt in diesem bestimmten Leben erreichbaren, nichtsdestoweniger aber notwendigen menschheitlichen oder wenigstens gesamtnationalen Zweck, ist im Einklang mjt dem realen Lebensgenuß von Menschen, die sich damit befassen, die Armee für solch einen Zweck zu schulen und zu organisieren. Später wird sich aus ihnen der Kern der herrschenden Partei-, Staats- und Wirtschaftsbürokratie konstituieren. Die intellektuelle Avantgarde nimmt eine solche Rolle bereits in der Führung der politischen Arbeiterbewegung vorweg. Das Rätsel ihrer vorrevolutionären Aufopferung ist aufgedeckt in der Hegeischen Beobachtung, daß Märtyrer (zumindest psychologisch) im allgemeinen auf ihre Rechnung kommen. Das historische Gesamtinteresse ist durch die politisch-organisatorische Arbeit, in der sie sich und ihre Autorität bestätigen, ihr besonderes Interesse. 

So löst sich Gramscis speziell auf Rußland und Italien gemünzter Gedanke, nach dem das Proletariat nur herrschende Klasse bleiben kann, indem es seine gegenwärtigen Lebensinteressen zugunsten seiner Hegemonie aufgibt und sich in den Dienst eines wissenschaftlich bewiesenen Menschheitsinteresses stellt, schlicht auf in die inzwischen offenbare Tatsache, daß das Proletariat nicht herrschende Klasse sein kann. Im Grunde genommen hat das Lenin für Rußland nach der Revolution auch eingestanden, wenn er in seinem berühmten Aufsatz »Lieber weniger, aber besser« statt an die Arbeiterklasse als ganze an die aufgeklärtesten Elemente Rußlands appellierte und dabei die fortgeschrittensten (am meisten kultivierten, am meisten intellektualisierten) Arbeiter und die von der Revolution inspirierte Minderheit der Intellektuellen und Spezialisten meinte.

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Freilich haben weder Marx noch Lenin mit ihrer Parteikonzeption etwas gemacht, was man in irgendeinem sinnvollen Bezuge einen »Fehler« nennen könnte. Sie haben im Gegenteil eine Lösung gesucht und gefunden, die den realen Bedingungen des Arbeiteremanzipationskampfes entsprach. 

Bis zur Machtergreifung sind die »Philosophen« ebenso wie vormals die Bourgeois und ihre aufklärerische Vorhut echte Repräsentanten des spezifischen Allgemeininteresses, das sie formuliert haben: sie führen eine neue Formation herauf. Marx und Lenin haben sich nur wie andere Ideologen vor ihnen über die objektiven Widersprüche hinweggetäuscht, die notwendig in ihre Konzeptionen und Aktivitäten eingehen mußten. Das ist etwas ganz anderes als die angestrengte Unaufrichtigkeit der heutigen angestellten »Marxisten«, die sich darum bemühen, die bereits voll entfalteten Widersprüche der neuen Gesellschaftsstruktur zuzudecken. Heute springt das Dilemma der marxistisch-leninistischen Parteikonzeption schon rein logisch in die Augen: Jede bisher zur Herrschaft berufene Klasse war natürlich auch in der Lage, ihre gesamtgesellschaftliche Rolle aus sich selbst heraus zu formulieren und zu repräsentieren. Die seinerzeit politisch völlig adäquate Konzeption des »Hineintragens« der Bewußtheit in den vorgestellten Hegemon nimmt die Sprengung der zugehörigen Theorie vorweg. 

Die Arbeiter — bis auf individuelle Ausnahmen — waren nie marxistisch in einem einigermaßen strengen Sinne. Der Marxismus ist eine Theorie, die sich auf die Existenz der Arbeiterklasse gründet, aber ihre Theorie ist er nicht. Es waren stets linke Intellektuelle, die sich in die Lage versetzt fanden, den Marxismus als ganzen einsehen zu können. Das fiel ihnen um so leichter, als er sie unter der Flagge der proletarischen Zukunftsinteressen — die ja nur ein anderer Ausdruck für das »Gesamtinteresse«, »Allgemeininteresse« einer nachkapitalistischen Menschheit sind — zu seinen historisch privilegierten Anwälten berief. Sie repräsentieren politisch die »Bourgeoisie des vierten Standes«, d.h. sie prätendieren auf die spätere Herrschaft über den historischen Block, den sie an die Macht führen. 

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Ihr Aufstieg zur politischen Macht korrespondiert mit dem von Marx zunehmend registrierten Differenzierungsprozeß innerhalb des industriellen Gesamtarbeiters, der den sozialen Aufstieg einer neuen Schicht von intellektuellen Spezialisten und »Dirigenten« bedeutet. 

In Gestalt der Arbeiterbewegung und ihrer Schicksale selbst kündigt sich eine Gesellschaft an, deren zentraler Konflikt unmittelbar auf dem Charakter und der Komplexität der industrialisierten Arbeit beruht. Ich will einstweilen nur feststellen, daß Marx infolge seiner Konzentration auf die Probleme der kapitalistischen Formation den sozusagen klassenmäßigen Charakter der funktionellen Differenzierung innerhalb des industriellen Gesamtarbeiters (und des gesellschaftlichen Gesamtarbeiters überhaupt) nicht in seiner selbständigen Bedeutung erkannte.

Aber auch abgesehen davon ist eine welthistorische Mission des Proletariats im Rahmen der marxistischen Theorie nirgends zwingend bewiesen. Marx und Engels haben sie postuliert, bevor sie detailliert die Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise analysiert hatten. Aus dem »Kapital« geht nur die Rolle des Proletariats als Antagonist der Bourgeoisie innerhalb des Verhältnisses von Lohnarbeit und Kapital zwingend hervor, und die Zuspitzung des Klassenkampfes, die sich daraus ableitet, ist an die Phänomene des Konkurrenzkapitalismus bzw. an deren Reproduktion in der Konkurrenz der Monopole gebunden. 

Daß das Proletariat darüber hinaus das aktuelle Kollektivsubjekt der allgemeinen Emanzipation sein sollte, blieb eine philosophische Hypothese, in der sich die utopische Komponente des Marxismus konzentrierte. Sie konnte durch die Politische Ökonomie des Kapitalismus unmöglich eingelöst werden. Die Überlegungen zum tendenziellen Fall der Profitrate jedenfalls schließen diese Lücke nicht. Marx führt zwei Argumente dafür an, daß das Proletariat (in einer eben nicht mehr dialektischen Bewegung, d.h. ohne einen neuen Widerspruch aus sich zu entfalten) die neue Gesellschaft begründen könne.

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Erstens, negativ, konzentriere sich auf das Proletariat alle bisherige Entfremdung, alle Verelendung und Entwürdigung des Menschen. 

Es war von frühan eine Denkstruktur Marxens, die vorgefundene Gesellschaft so zu beschreiben, daß keine andere Lösung als der totale Umschlag mehr möglich erschien. Nach 1848 trat dieses utopische Relikt zwar in den Hintergrund, besser wohl: in den Untergrund. Der Impuls, der davon ausging, blieb aber erhalten. 

Der allgemeinste Kern des Gedankens, nämlich das revolutionäre Interesse auf die Bedingungen für das Aufschließen der Unterentwickelten, Unterprivilegierten jeder Gesellschaft und der ganzen Menschheit zu richten, bleibt ja auch ein absolut notwendiger Bestandteil jeder Emanzipationsideologie. Seine ins Kommunistische Manifest eingegangene Konsequenz, daß nur eine Assoziation, in der die freie Entwicklung eines jeden gesichert ist, für die freie Entwicklung aller bürgt, daß es nur so eine Gesellschaft ohne Gewalt, ohne Terror von oben und unten geben kann, bildet nach wie vor das entscheidende rationale Motiv für das revolutionäre Engagement avancierterer Schichten an der allgemeinen Emanzipation. 

Es ist und bleibt der feste Grund, auf den sich eine Ethik der prometheischen Solidarität gegenüber den jeweils weniger entwickelten Gliedern des sozialen Zusammenhangs gründen kann. Es hat noch nie eine Unterdrückung oder auch nur Benachteiligung gegeben, die ihre Zwänge nicht in transformierter Form auf ihr Subjekt zurückgekoppelt hätte, Und je despotischer eine Elite regieren muß, desto erbärmlicher, glückloser ist ihr eigenes Leben. In die Formulierung des Manifests ist der alte Aufklärertraum von einer Republik der Könige eingegangen. 

Die Idee der Gleichheit ist stets von einer je bestimmten ideologischen Fraktion der Herrschenden zuerst zur Diskussion gestellt worden, die dazu nur begonnen haben mußte, tiefer nach den Voraussetzungen für eine Harmonisierung ihrer eigenen Daseinsbedingungen zu fragen. 

Die unterdrückten unmittelbaren Produzenten konnten nur in Zeiten scharfer sozialer Krisen den Gedanken ihrer Knechtsnatur ablegen und universale Ansprüche anmelden. 

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Realisieren konnten sie sie im großen Maßstab nie, weil ihre Situation ihnen von Kindheit auf die Möglichkeiten der Aneignung beschränkt hat. Die politische Emanzipation einer unterdrückten Klasse kann massenhaft gesehen nur zur Befriedigung einiger der angestauten kompensatorischen Bedürfnisse führen, Nach der Revolution beginnt der Kampf um die Neuverteilung der materiellen Güter, die die Gesellschaft für den Konsum bereitstellen kann, und es bedarf mehrerer — nach den durch sozialpsychologische Untersuchungen einigermaßen gesicherten Erfahrungen mindestens zweier — neuer Generationen, um eine neue Subjektivität als Durchschnittstypus zu etablieren. 

Zu Marxens Zeiten hatte die Psychologie noch nicht den Entwicklungsstand erreicht — es fehlte insbesondere das umwälzende Werk Freuds und seiner Schule —, der es heute gestattet, für schlechthin unmöglich zu erklären, daß eine unterdrückte, der Arbeitsteilung unterworfene, entfremdete Klasse von unmittelbaren Produzenten »selbst« herrschende Klasse werden und in dieser Rolle die Hegemonie über den ganzen Kulturprezeß ihrer Gesellschaft ausüben könnte. 

In Wirklichkeit kann sich also die Vision von Marx, deren Struktur ja durchaus dem neutestamentarischen »Die Letzten werden die Ersten sein« verwandt war, nur in einem generationenlangen nachrevolutionären Umgestaltungsprozeß realisieren, sogar dann, wenn man die Industrialisierung als im wesentlichen vollendet unterstellt. Der Realprozeß geht daher über die tendenziell immer noch antagonistische Differenzierung des gesellschaftlichen Gesamtarbeiters, über dessen arbeitsteilige und hierarchische Organisation voran. 

Hier setzt Marxens zweites, positives Argument für die welthistorische Mission des Proletariats an, das abstrakt gesehen voll gültig bleibt: Allein das Proletariat sei von grundauf mit der modernen Produktion verbunden, und indem sich die ganze Gesellschaft tendenziell in Proletariat und Bourgeoisie polarisiert, während die letztere parasitär wird, ihre Funktionen im Reproduktionsprozeß verliert, bleibt gar kein anderer Träger der zukünftigen Gesellschaft übrig als das Proletariat — der produktive Gesamtarbeiter. 

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Sofern man nun die neue Gesellschaft durch die alte Brille betrachtet und den Rückgang der Mittelschichten, die Proletarisierung der Genossenschafts­bauern sowie die Entstehung einer neuen, herkunftsmäßig werktätigen Intelligenz, kurz die Tendenz zur Verwandlung der Gesamt­gesellschaft in Arbeiter und Angestellte des sozialistischen Staates konstatiert, ist es nur logisch, die »Arbeiterklasse«, wie am Ende der Ulbricht-Ära, so zu definieren, daß sie alle Glieder des allgemeinen Reproduktionsprozesses von der Reinemachefrau bis zum höchsten Politbürokraten umfaßt. Bezeichnenderweise diente dieses Spiel mit dem Begriff seinerzeit dazu, eine Welle penetrantester parteioffizieller Hätschelung des technokratischen Managertums zu decken, das unverhüllt seinen Anspruch kundtun durfte, »eine strukturbestimmende Spur« in unserer Gesellschaft zu ziehen. 

Die neuesten konfusen Diskussionen um das Verhältnis von »Arbeiterklasse« und »Intelligenz« können nicht zu einem wenigstens logisch vertretbaren Ergebnis führen, weil es unmöglich ist, »die Intelligenz« aus dem produktiven Gesamtarbeiter herauszusondern. Die ganze Konfusion zeigt nur ein übriges Mal, daß die traditionellen Klassenbegriffe durch die strukturelle Entwicklung der Produktivkräfte überholt worden sind, und ganz besonders eben in einer Gesellschaft, in der die intellektuellen Leitungs- und Vermittlungsfunktionen im Reproduktionsprozeß nicht mehr im Dienst der privaten Kapitalverwertung stehen, in der also ihre besondere Stellung nicht mehr unter traditionelle Klassengegensätze subsumiert ist. Die intellektuelle Arbeit marschiert heute an der Spitze der subjektiven Produktivkräfte.

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Übrigens hat Lenin gleich nach der Revolution den Begriff »Intelligenz« vermieden, sobald es um die Kennzeichnung der verschiedensten Fachleute ging. Er sprach dann fast immer von »Spezialisten« und neigte dazu, diesen Terminus bis weit in die ehemaligen »gebildeten Stände« hinein anzuwenden; er konnte sogar Kaufleuten gelten, sofern sie kulturell über dem Krämer standen. 

Eine besondere Ideologenschicht, wie sie nach wie vor in jeder modernen Gesellschaft auftritt, kam in Lenins Perspektive einfach deshalb nicht ausdrücklich vor, weil die traditionellen Elemente dieser Schicht unterdrückt werden mußten, während die progressiven, als »wirklich aufgeklärte Elemente«, in der Partei oder um ihre Peripherie konzentriert waren. Es war zwar von der alten Intelligenz die Rede, aber nicht im Hinblick auf die neue Gesellschaftsstruktur. Auf jeden Fall betonte die Leninsche Terminologie sogleich die Eingliederung der intellektuellen Berufe als Unterfunktionen in den Gesamtarbeiter, in dem die Spezialisten bis zum voll entfalteten Kommunismus eine besondere Schicht bilden würden.

Das ist um so mehr hervorzuheben, als die spezifische Intelligenzproblematik der, nichtkapitalistischen Industriegesellschaft damals noch gar nicht soziologisch in Erscheinung treten konnte. Die »sozialistische Intelligenz« von heute ist ja in der überwiegenden Mehrheit nicht aus den traditionellen Mittelklasse-Bildungsschichten, sondern aus den arbeitenden Klassen rekrutiert worden, so daß — insbesondere in der Sowjetunion — soziologisch nur ein dünner Faden von Kontinuität zwischen »alter« und »neuer« Intelligenz sich fortspann. 

Die neue Intelligenz versprach zunächst, eine ziemlich homogene, eng an die Partei angeschlossene Schicht zu werden. In ihrer ersten Generation trat die in Wirklichkeit charakteristische Dichotomie zwischen Spezialisten und Ideologen (letztere nur zu bald: Beamten für den politisch-administrativen und ideologischen Apparat) noch nicht so stark hervor, weil das Erziehungsziel der Identität von »Fachmann und Sozialist« zunächst einige Realität hatte. Die Ideologen, subjektiv mit dem Parteiziel identifiziert, dominierten. Es war eine Periode, in der viele Spezialisten wirklich Kommunisten wurden, und in der zumindest die Jugend nicht um der Karriere willen in die Partei strömte.

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Jetzt ist »die sozialistische Intelligenz« — wenn man darunter vereinfachend Menschen mit einer Qualifikation über Normalschulbildung versteht — ein sozialökonomisch und politisch äußerst heterogenes Konglomerat von Gruppen und Schichten sehr verschiedener gesellschaftlicher Funktion und Stellung, in dem sich auf spezifischem Niveau alle Widersprüche, die überhaupt für die Sozialstruktur der nichtkapitalistischen Industriegesellschaft typisch sind, ausprägen. 

Wenn man näher hinsieht, hat es eher den Anschein, als würden zwischen verschiedenen Fraktionen dieser »Intelligenz«, deren Spitzen überdies beide in der jeweiligen Einheitspartei organisiert sind, die entscheidenden Kollisionen ausgetragen. In Wirklichkeit tritt aber die eine, die oppositionelle Fraktion, sobald sie sich formieren und entfalten kann, der anderen, um den Partei- und Staatsapparat gruppierten, als — ungünstigstenfalls bloß egoistischer — Repräsentant eines veränderten Allgemeininteresses gegenüber. Sie stand in der CSSR deutlich an der Spitze des ganzen produktiven Gesellschaftskörpers, der nach einer neuen Überbaustruktur verlangte. 

Angesichts einer solchen Konstellation müßten programmatische und strategische Erwägungen, die die nachrevolutionäre Partei — sei es die herrschende bürokratische, sei es ein alternativer, geistig dominierender Bund der Kommunisten — konventionell als »Arbeiterpartei« auffassen, von vornherein an der Wirklichkeit der nichtkapitalistischen Industriegesellschaft vorbeigehen. Ihre Verfechter operieren an der rückwärtigen Front des geschichtlichen Prozesses, wie es stets das Schicksal sektiererischer Nachhutgruppen war. 

Damit ist das große Thema einer politischen Interessenvertretung für die unterprivilegierten oder richtiger die unterentwickelten Schichten des gesell­schaftlichen Gesamtarbeiters nicht etwa suspendiert oder dem pädagogischen Gutdünken »wissender« Intellektueller anheimgestellt. Es geht nicht darum, die angeblich »führende Rolle der Arbeiterklasse« durch eine faktisch »führende Rolle der Intelligenz« zu ersetzen. Die Interessen der in ihren eigenen Augen kompetenten managerialen, wissenschaftlichen und ideologischen Intelligenz tragen ebensowenig universalen Charakter wie die der unmittelbaren Produzenten. Das ganze Problem der allgemeinen Emanzipation muß praktisch-politisch neu gestellt werden.

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Rudolf Bahro 1977 Die Alternative Zur Kritik des real existierenden Sozialismus