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Teil 2   Die Anatomie des real existierenden Sozialismus 

 4.  Resümee der Voraussetzungen

"Für die neuen Herrschaftsverhältnisse haben Marx und
Engels keine Prognose gehabt."  
Seite 162, hier gekürzt

143-163

Ehe man eine systematische Darstellung versucht, muß man, um die Voraussetzungen gedrängt vor Augen zu haben, die Haupt­gedanken der bisherigen Über­legungen resümieren. 

Marx und Engels waren bekanntlich überzeugt, daß bereits der Kapitalismus der freien Konkurrenz im wesentlichen die Produktivkräfte hervorgebracht hatte bzw. hervorbringen würde, in denen die materiellen Bedingungen für die allgemeine Emanzipation, für die freie Entwicklung aller Individuen beschlossen liegen. 

Nach der Enteignung der Ausbeuter — so rechneten sie — würden die entfesselten Triebkräfte einer von allen bisherigen Antagonismen befreiten Gesellschaft in kurzer Frist dafür sorgen, daß die Springquellen des gemeinsamen Reichtums voll genug fließen, um die kommunistische Organisation auch in den Verteilungs­verhältnissen zu vollenden und jedes staatliche Reglement überflüssig zu machen. 

Wie sehr sie die Reife der Produktivkräfte überschätzten, wird allein durch die Tatsache bestätigt, daß auf dem Boden dieser antagonistischen Formation noch hundert weitere Jahre raschen industriellen Fortschritts folgten und in den letzten Jahrzehnten eine zweite, nunmehr wissenschaftlich-industrielle Revolution ihren Ausgang nimmt.

Die Abrüstung würde wahrscheinlich jetzt die reichsten kapitalistischen Länder in die Lage versetzen, von der Arbeitsproduktivität her die elementaren Bedingungen der freien Individualität für alle zu gewährleisten, aber auch nur in ihren eigenen Grenzen. 

Und darin zeigt sich der andere, noch schwerer wiegende Aspekt, der dazu zwingt, von der Unreife der Produktivkräfte im 19. Jahrhundert zu sprechen: Der industrielle Fortschritt ließ die überwältigende Mehrheit der Weltbevölkerung aus. 

Gegenwärtig könnte das Problem darin bestehen, daß der Industrialismus — global gesehen — so disproportional entwickelt ist. Hat er nicht in einigen Regionen bereits das zuträgliche Maß überschritten und den kapitalismus-typischen Parasitismus an der Natur zu einer akuten Krise des Stoffwechsels mit ihr gesteigert? Und arbeitet er nicht, von seinem inneren, antagonistischen Reproduktions­mechanismus bestimmt, erst recht und immer schärfer das Elend der übrigen Welt heraus? 

Das katastrophale Gefälle der Produktivität und des Lebensstandards garantiert ja auch dafür, daß die historisch privilegierten Nationen nicht abrüsten werden, also gleichfalls an der — ohnehin lokal beschränkten, daher nicht wirklich — allgemeinen Emanzipation gehindert sind. Die durch Abrüstung frei werdenden Mittel würden außerdem zunächst bloß eine Summe toten Kapitals ergeben, solange die Gesellschaft ihnen nicht strukturell verändert gegenüberträte. 

Nehmen wir an, die notwendige Quantität der produzierten Güter stünde zur Verfügung! 

Rechnen wir weiterhin mit der Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise. Dann würde erst mit letzter Deutlichkeit hervortreten, daß die Chancengleichheit in den Verteilungsverhältnissen der materiellen Güter und Bildungsmöglichkeiten kein hinreichender Hebel ist, um massenhaft freie Individuen zu erzeugen. Denn die soziale Ungleichheit ist in der Teilung der Arbeit, in den Strukturen der Technologie und Kooperation selbst verankert. 

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Es waren in der ganzen bisherigen Weltgeschichte immer nur die Träger der allgemeinen Arbeit, d. h. die privilegierten Planer und Politiker, Denker, Wissenschaftler und Künstler, frei — weil das reflektierte Selbstbewußtsein, das subjektiv für die Freiheit entscheidend ist, nur im Bezug auf die Totalität der menschlichen Objekte erlangt wird. 

Die Herrschaft der vergangenen, vergegenständlichten Arbeit über die lebendige durchdringt den ganzen ungeheuren Produktionsapparat, die Infrastrukturen, den bürokratischen Überbau und die Ideologieproduktion. Es liegt sogar eine gewisse Hoffnung darin, daß die Inhaber der Verfügungsgewalt selbst heute immer weniger zu dem Erlebnis gelangen, daß sich unter ihrem Einfluß etwas zum Kosmos rundet. Unsere maßgebenden Ökonomen sind alle marxistisch gebildet, aber wenn sie z.B. das Gesetz der Ökonomie der Zeit zitieren, denken sie kaum je wie Marx an das Kriterium des allseitig entwickelten Menschen, sondern meist nur an die Auslastung der Arbeitskraft und der Maschinerie, an Produktivität nach Maßgabe des Wertgesetzes. 

In dem bürokratisch-informationellen Überbau des modernen Produktionsapparates scheint die Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit, genauer von planender bzw. kommandierender und ausführender Arbeit massiver als jemals zuvor verankert. Jene Trennung, die der chinesische Philosoph Meng-dse vor nahezu zweieinhalb Jahrtausenden als »universal anerkanntes Prinzip« beschrieb: 

»Einige arbeiten mit dem Geist und einige mit den Körperkräften. Diejenigen, die mit dem Geiste arbeiten, beherrschen andere, und diejenigen, welche mit ihrer Kraft arbeiten, werden von anderen beherrscht. Die, welche beherrscht werden, tragen andere, und die, welche herrschen, werden von anderen getragen«. 

Dadurch, daß die »Trage-Arbeit« jetzt schon eine Vielzahl intellektueller Teiloperationen einschließt, wird das universale Prinzip zwar unterhöhlt, aber noch nicht ohne weiteres gebrochen.

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Selbst die reichsten Völker haben also, auch wenn sie morgen die kapitalistischen Eierschalen abwerfen, noch einen langen Weg vor sich, um ihren technischen und sozialen Apparat von innen her, d.h. durch sein Detail hindurch, unter Kontrolle zu nehmen, die Regelungs- und Verwaltungsfunktionen nach und nach ihres immanenten Herrschaftscharakters zu entkleiden.

(Die ahnungsvolle Antizipation dieses Ziels gehörte zu den wesentlichsten Inspirationen der französischen Mai-Revolution von 1968. Es versteht sich übrigens, daß der Marxismus in der Motivation dieser Bewegung keine so große Rolle gespielt hätte, wenn Marx das Problem dieser Umarbeitung nicht bewußt gewesen wäre.) 

Jedenfalls setzt der Kommunismus reifen Industrialismus voraus. Über die Reife freilich wird nicht allein nach technischen Kriterien, sondern in sozialen Bewegungen entschieden. Insofern muß sogar die Kritik an der Marx-Engelsschen Überschätzung der Produktivkräfte noch relativiert werden. Bei der gegenwärtigen Struktur der industriellen Gesellschaften (beider Formation) werden die Produktivkräfte trotz und wegen ihrer technischen Dynamik niemals reif. Dennoch stehen auch heute noch diejenigen Länder, die zuerst den industriekapitalistischen Weg gingen, materiell dem Sozialismus am nächsten. Nirgends ist die Einleitung der Transformation dringender als dort. Aber sie ist auch nirgends schwerer. Und weder die weniger entwickelten noch die unterentwickelten Völker können es sich leisten, darauf zu warten. 

Lenin war der erste Marxist, der in dem Erwachen Asiens — als Antwort auf die Zerstörung seiner überkommenen Sozialstruktur durch den modernen Imperialismus — die Perspektive erkannte, daß die Volksmassen der kolonialen und halbkolonialen Länder nicht in der Rolle als passive Objekte der doppelten Ausbeutung und absoluten Verelendung verharren würden. Die russische Revolution zeigte, daß diese Völker durch politisch-militärische Befreiungskämpfe und -revolutionen allein ihrer Paria-Rolle nicht entgehen können. Die eigentliche Aufgabe dieser Revolutionen ist die Neuformierung der vorkapitalistischen Völker für ihren eigenen Weg der Industrialisierung, der nichtkapitalistisch, d.h. formationell von dem europäischen verschieden sein wird.

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Während Lenin nicht die Zeit blieb, alle Konsequenzen dieser Entwicklung zu verallgemeinern, sprach er doch sehr deutlich aus, daß die Industrialisierung der Sowjetunion bis zum Einholen der entwickelten kapitalistischen Länder erst die Voraussetzungen des Sozialismus schaffen würde. Er hatte nur die mehr revolutionäre al» geschichtsmaterialistische Hoffnung, die politische Struktur des Landes, den Charakter der Herrschaftsverhältnisse grundsätzlich, wenn auch nicht ohne zeitweilige Kompromisse und Rückzüge, auf dem Niveau der Antizipation von 1917 halten zu können.

Während die sozialistische Illusion der russischen Revolution historisch erklärlich ist und im höchsten Sinne notwendig war, kann es andererseits nicht mit der marxistischen Denkweise in Einklang gebracht werden, manifeste sozialistische Verhältnisse auf der Grundlage wesentlich schwächerer Produktivität für möglich zu halten, als sie der konkurrierende Kapitalismus bereits hervorgebracht hat. Ich will nicht behaupten, daß der Prozeß der Industrialisierung unter allen Umständen antagonistischen Charakter tragen muß. Aber wenn ihr Tempo eine Frage des Überlebens in der überlegenen imperialistischen Umwelt ist, wenn das nichtkapitalistische Land, anders als China heute, ohne Rückendeckung um seine Autonomie kämpfen muß, gibt es wohl kaum auch nur die Chance, dem zu entgehen. 

Während sich die Geschichte der Sowjetunion, ebenso Volkschinas, wie überhaupt unsere ganze Gesellschaftsstruktur mit den für sie typischen Krisen und Kollisionen, nicht erklären läßt, solange man sie unter der Voraussetzung des Sozialismus untersucht — ob nun apologetisch oder um zu denunzieren —, lösen sich die Rätsel, wenn man über die Konsequenzen einer Industrialisierung auf nichtkapitalistischem Wege nachdenkt, so leer dieser Terminus auch zuerst anmutet. Länder wie die DDR und die CSSR müssen dabei — vorerst — hintangesetzt werden, weil die politischen Formen, die sich auf einer anderen Basis entwickelt haben, hier auf ausgesprochen fremdem Terrain angewandt werden, obgleich sie oberflächlich an preußische (mehr als an habsburgische) Traditionen erinnern.

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Der Terminus »nichtkapitalistisch« deckt Entwicklungen, die je nach dem traditionellen Milieu, das umzuarbeiten ist, sehr verschiedene Erscheinungsformen zeigen. Andererseits weist der Begriff in seiner Einzahl auf die gemeinsame Grundtendenz hin, die allen diesen Entwicklungen durch die auslösende Herausforderung diktiert wird. Gerade in seiner Negativität bringt er zum Ausdruck, daß es nach wie vor der europäischamerikanische, nun auch der japanische kapitalistische Industrialismus ist, der der übrigen Welt die Probleme stellt, auch wenn sich das Kräfteverhältnis allmählich gegen ihn kehrt. 

Die staatliche Repression in den Ländern des real existierenden Sozialismus ist letztlich die Funktion ihrer industriellen Unterentwicklung, genauer: der Aufgabe, diese Unterentwicklung aktiv, durch eine »anorganische« Umstrukturierung (die russische Bauernschaft z.B., anfangs die zahlreichste Klasse der revolutionierten Sowjetunion, hatte einfach keine organische sozialökonomische Neigung zur Kollektivierung) unter Wahrung der nationalen Identität zu überwinden. Dem Druck der materiell überlegenen Zivilisation kann ein Minderheitsregime, das sich eine solche Aufgabe stellt, nicht anders als durch einen nach innen und außen bewehrten »eisernen Vorhang« und durch umfassende Reglementierung gegen jede »Spontaneität« begegnen.

Die industrielle Zivilisation, die das europäische Leben in den letzten zwei Jahrhunderten bis zur Unkenntlichkeit verändert hat, läßt den Völkern keine Alternative: ob sie in ihrer eigenen Evolution schon an die Schwelle des Kapitalismus und der Industrialisierung gelangt waren oder ob sie durch Epochen von ihr entfernt angetroffen wurden — sie müssen durch diesen Schmelztiegel hindurch. Wenn sich die Zukurzgekommenen früherer Zeitalter auf der Suche nach einer menschenwürdigen Lebensweise wieder und wieder der Vergangenheit zuwandten, dem verlorenen Paradies, so ist ähnlichen Illusionen heute ein schnelles, bitteres Ende gewiß.

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Die »Garantien der Harmonie und Freiheit« können, wenn sie existieren, nur jenseits des Industrialismus, und das heißt natürlich auf der von ihm geschaffenen, sozial bewältigten materiellen Basis, erreicht werden. Und nur diejenigen Nationen, die aus ihrer Geschichte und aus der Größe der Herausforderung die Fähigkeit gewinnen, sich selbst für den Gewaltmarsch in die moderne Ära zu organisieren, haben Aussicht, ihre Identität zu behaupten und den Schatz ihrer kulturellen Tradition in die eine Menschheitskultur einzubringen, die jetzt im Entstehen begriffen ist. Denn ihr überkommenes Leben wird nicht nur durch die direkte Aggression der reichen Länder, sondern durch die Gesamtwirkung ihrer technischwissenschaftlichen Zivilisation unbarmherzig gesprengt. Selbst die wirklichen »Segnungen der abendländischen Kultur«, zum Beispiel die Errungenschaften der Hygiene und Medizin, vermehren in den agrarischen Ländern mit ihrem spezifischen Bevölkerungsgesetz zuvörderst den Umfang des Elends, verlängern die Qual des Entwicklungsweges, vertiefen die Gefühle der Verzweiflung.

Um zu begreifen, was seit 1917 gerade in den vitalsten Ländern ursprünglich nicht der »Dritten«, sondern eigentlich der einen vorkapitalistischen Zweiten Welt vorgeht, müssen wir in erster Linie die durch die Weltgeschichte bestätigte zivilisatorische Rolle des Staates verstehen. Marx und Engels hatten sie keineswegs verkannt, aber die Konzentration auf die Auseinandersetzung mit den bürgerlichen Zuständen hat die europäische Arbeiterbewegung auf einen zu spezifischen Begriff des Staates gebracht, der nur seine Herrschaftsfunktion, seine Beziehung zu den Sonderinteressen der ökonomisch herrschenden Klassen ins Blickfeld rückt. In der Geschichte ist diese Funktion, tektonisch gesehen, sekundär. Primär ist der Staat die Institution zur Zivilisierung, zur ursprünglichen Formierung der verschiedenen Gesellschaftskörper gewesen. 

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Er entsteht mit den frühesten Klassengegensätzen, aber er ist nicht bloß deren Ableitung, deren Produkt. Natürlich ist das objektive Allgemeininteresse, dessen Instrument er war, von vornherein durch die Sonderinteressen seiner tragenden Minderheit gebrochen worden. Aber dieser Antagonismus wurde nur dann akut, wenn die Herrschenden ihre allgemeinen Funktionen in ihren besonderen Interessen untergehen ließen und so die Rebellion der Unterdrückten provozierten. Wie weit das Gesamtverhältnis dennoch gerechtfertigt war, läßt sich gerade an dem historischen Abstand ermessen, der heute zwischen den ausgebeuteten Industriearbeitern und Ingenieuren der reichen Länder und — sagen wir — den Gemeinfreien lateinamerikanischer Indianerstämme liegt. 

Die anti-etatistische, antiautoritäre Ideologie vieler Linksintellektuellen im Westen hat — obwohl sie meistens zu unaufgeklärt ist — ihr historisches Recht in den bereits industrialisierten Ländern, in denen die materiellen Bedingungen für das Absterben des Staates heranreifen. Aber diejenigen Völker, die sich gerade erst für die Industrialisierung formieren, können nicht auf dieses Instrument verzichten, und ihr Staat kann, ja darf zunächst gar nicht anders als bürokratisch sein. 

Der Staat als Zuchtmeister der Gesellschaft für ihre technische und soziale Modernisierung — dieses grundlegende Muster können wir seit 1917 wiederfinden, wo immer sich vorkapitalistische Länder bzw. ihre maßgebenden Minderheiten für den aktiven Aufbruch ins XX. Jahrhundert formierten. Daß unter diesem Gesichtspunkt die Sowjetunion identisch ist nicht nur mit China, sondern auch mit Burma, Algerien oder Guinea, nicht nur mit Guinea, sondern neuerdings auch mit Peru oder Zaire, nicht nur mit Zaire, sondern selbst mit Persien, wo der vorantike Schah seine »weiße Revolution« veranstaltet — unterstreicht nur den fundamentalen Stellenwert des Staates in dem gemeinten Kontext. 

Und es läßt vor allem darauf schließen, daß die Ursache, die in den verschiedensten historischen Milieus eine solche Gemeinsamkeit erzeugt hat, zwar gewiß einen mehr oder weniger günstigen nationalen Nährboden vorfinden mußte, aber in letzter Instanz nicht immanenter, sondern externer Natur ist. 

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Ähnlich wie die fortgeschrittenen Zivilisationen der Alten Welt — Babylonier, Ägypter, Chinesen, Römer — die barbarischen Stämme an ihren Grenzen in Gärung versetzten, in ihre Krisen hineinrissen und zur Staatwerdung zwangen, hat der moderne Kapitalismus und Imperialismus nun die Keime der Auflösung in die stagnierenden Herde der früheren Zivilisationen hineingetragen, ihr soziales Gleichgewicht zerstört und ihre Neuformierung provoziert. Es war der internationale Imperialismus, der den Boden unter den Thronen der Romanows und der Mandschu schwanken machte, der Asien, Afrika und Lateinamerika gegen sich zur Erhebung brachte.

Rußland hatte das Glück — es war zugleich die Ursache der langanhaltenden Selbsttäuschung über den Charakter der Revolution —, daß immerhin eine Klasse der nachrevolutionären Gesellschaft bereits auf dem Boden des modernen Industrialismus stand, wenn es auch größtenteils der des 19. Jahrhunderts war: Textilfabriken, Waffen, Eisenbahnen, Bergbau und Metallurgie. Die kleine Arbeiterklasse war der Motor der Revolution und das Unterpfand der industriellen Möglichkeiten. 

In den ganz und gar vorkapitalistischen Ländern weist die traditionelle Sozialstruktur, die traditionelle Konstellation der ökonomischen Interessen nicht eine einzige Klasse oder Gruppe auf, die die Hegemonie in einer Umgestaltung übernehmen könnte. Stammes-, Kasten- und verwandtschaftliche Verhältnisse sorgen im Verein mit den politischen Überlieferungen für eine übermächtige Tendenz zur Korrumpierung jeder fortschrittlichen Richtung. Die in den alten Verhältnissen verwurzelten Autoritäten sind völlig ungeeignet für Initiativen, die zur Vernichtung dieser Verwurzelung führen müßten. 

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Eine Bürokratie, deren Mitglieder vornehmlich durch die Macht über den Umgestaltungsprozeß selbst korrumpierbar sind, sei sie ziviler, sei sie militärischer Natur, ist hier die einzige Alternative. Die Disziplin der Befehlsausführung, die nur mit einem Despotismus irgendwelcher Art effektiv durchgesetzt werden kann, garantiert am ehesten, daß sich in den Handlungen der einzelnen Beamten, die persönlich mit tausend Fäden in den alten Strukturen verwurzelt sind, die progressiven Interessen durchsetzen. Parteikerne, wie sie Lenin und Mao Tse-tung für ihre künftigen Bürokratien zu schmieden verstanden, sind bisher immer noch unerreichte Vorbilder gerade einer nicht nur im Terror verwurzelten Disziplin, die außerordentliche Früchte zeitigte.

Der Einfluß des Industriekapitalismus war es auch, der die Entstehung einer sozialen Rekrutierungsbasis für diese notwendigen Staatsapparate förderte oder bereits vorhandenen Gruppierungen ihre moderne Bedeutung gab. In der Regel hält die Kombination des Imperialismus mit den zu Kompradoren werdenden einheimischen Handels- und Wucherkapitalisten die Entfaltung einer nationalen Industriebourgeoisie so lange auf, daß sie in der Stunde der politischen Umgestaltung, die die ökonomische einleitet, nicht konsolidiert genug ist, um zur repräsentativen hegemonialen Klasse zu werden. Wo die Bourgeoisie doch ihren Einfluß maßgeblich zur Geltung bringen kann, wie z.B. in Indien, bezahlt die Nation mit der Verlangsamung der Industrialisierung und überhaupt der notwendigen Neuformierung. 

Im typischen Fall ist es eine ganz andere soziale Gruppierung, die sich aus den Ober- und Mittelschichten der alten Gesellschaft allmählich herauslöst, in den industrialisierten Ländern in die Lehre geht, die Agitation für Befreiung und nationale Erneuerung aufnimmt, politisch, ideologisch und militärisch an die Spitze des Befreiungskampfes tritt und schließlich, in veränderter und erweiterter Zusammensetzung, die Staatsmaschine für die »Entwicklung« schafft und ihre Kader stellt: eine nationale und, bei durch Zuspitzung der Krise in ihren Lebensverhältnissen genügend mobilisierten Massen, sozialrevolutionäre »Intelligentsia«.

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Ihre Basis ist nicht eine spezifische sozialökonomische Machtstellung — in die sie erst im Prozeß der nachrevolutionären Umgestaltungen hineinwächst —, sondern der Konsensus der Volksmassen, die nicht mehr weiterleben können wie bisher und deshalb auf eine Führung warten. Gerade im Idealfall der Befreiungsrevolution — wenn es nämlich gelingt, die alten Mächte wirksam auszumanövrieren und den Notwendigkeiten der Entwicklung der Produktivkräfte unterzuordnen — ist im Verhältnis der aufgewühlten Massen zu dieser als politischmilitärische Führerschaft organisierten Gruppierung die Grundstruktur der Gesellschaft auf dem nichtkapitalistischen Wege vorweggenommen. 

Die Intelligentsia wird als bürokratische Beamtenschaft der hoffentlich effektive Vormund und Antreiber der arbeitenden Massen sein, die auf dem langen, beschwerlichen und entbehrungsreichen Weg zu einer eigenen industriellen Basis für ihre Lebenszeit wenig zu erhoffen haben und dies alsbald begreifen werden. Dann sind die Antagonismen, die »Widersprüche im Volke«, an denen sich die umgeschmolzene Gesellschaft abarbeitet, perfekt. 

 

Trägt man alles bisher zu diesem Thema Gesagte zusammen, so lassen sich folgende historische Wurzeln für die Unterwerfung der Sowjetgesellschaft unter eine bürokratische Staatsmaschine angeben:

 

1. Der Druck der durch die militärische Interventions- und Einkreisungspolitik unterstrichenen technologischen Überlegenheit der imperialistischen Länder.

Dies ist der Faktor, der tatsächlich von außen deformierend auf die Entwicklung des politischen Überbaus eingewirkt hat und die tiefste Verursachung für die Exzesse des stalinistischen Terrors darstellt. Die ständige äußere Bedrohung hat den Druck potenziert, der ohnehin auf dem Prozeß der politischen Selbstverständigung innerhalb der herrschenden Partei lastete und die spezifische Festungsneurose erzeugt, in der man Freund und Feind nicht mehr unterscheiden konnte.

2. Die halbasiatische Vergangenheit Rußlands

Antonio Gramsci hat den Begriff der Revolution-Restauration geprägt, um auszudrücken, daß es nach dem politischen Sprung stets zu einem Ausgleich mit der Vergangenheit kommen muß, weil die neuen sozialen Mächte nie sofort die Totalität der ökonomischen Verhältnisse und der sie tragenden Produktivkräfte umfassen und so gerade um ihrer Hegemonie willen zum Kompromiß gezwungen sind. Im neuen Rußland war das Kräfteverhältnis besonders ungünstig. Die Vermeidung der politischen Restauration und die Verteidigung des Staates mußten mit bedeutenden Zugeständnissen an die alte Lebensweise und Ideologie erkauft werden. Das Volk — einschließlich der weitgehend neu rekrutierten Arbeiterklasse — wartete auf seine Natschalniki. 

3. Die Umbruchsituation, selbst. 

Anfang und Ende auch der ob ihrer pluralistischen ökonomischen Machtstrukturen gerühmten Formationen standen im Zeichen übergreifender Staatsgewalt: das perikleische Athen steht zwischen Solon, Peisistratos und seinen Söhnen, Kleisthenes hier und Alexander dort, das republikanische Rom zwischen den Tarquiniern und dem Cäsarismus samt darauffolgendem Prinzipat und Dominat, der feudale Partikularismus zwischen Karl dem Großen und Ludwig dem XIV., der Kapitalismus der freien Konkurrenz zwischen den Militärdiktaturen Cromwells und Bonapartes und dem staatsmonopolistischen Regime der Gegenwart. Über die Methoden der »ursprünglichen Akkumulation« des Kapitals — ausgerechnet des Kapitals! — sagt Marx:

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»Alle aber benutzten die Staatsmacht, die konzentrierte und organisierte Gewalt der Gesellschaft, um den Verwandlungsprozeß der feudalen in die kapitalistische Produktionsweise treibhausmäßig zu fördern und die Übergänge abzukürzen. Die Gewalt ist der Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht.« (Dieser Satz wird gewöhnlich im Bezug auf die politische Revolution zitiert). »Sie selbst ist eine ökonomische Potenz« (MEW 23/779). In den ersten Jahren der Sowjetmacht haben die Bolschewiki, voran Preobrashenski, freimütig über die Konsequenzen der »ursprünglichen Akkumulation« moderner Produktivkräfte in Rußland diskutiert... Und damit kommen wir zu der vierten, entscheidenden Wurzel für die Präzeptorenrolle der Staatsmacht in der Sowjetunion, deren richtiges Verständnis von höchster Bedeutung für eine realistische Perspektive weiterer Umgestaltungen ist.

 

4. Die Produktivkräfte

die unter dem Druck der kapitalistischen Umwelt akkumuliert werden mußten, um die Voraussetzungen des Sozialismus zu schaffen, tragen in sich selbst einen antagonistischen Charakter. Wenn — wie Marx feststellt — die Arbeitsmittel »Anzeiger der gesellschaftlichen Verhältnisse« sind, »worin gearbeitet wird« (»Nicht was gemacht wird, sondern wie, mit welchen Arbeitsmitteln gemacht wird, unterscheidet die ökonomischen Epochen« — MEW 23/194), wie können wir dann auf unseren Taylorismus, auf unsere größtenteils im »Kapital« charakterisierte Maschinerie den Kommunismus gründen?! Gegen eine derartige Agitation — längst mehr Heuchelei als geglaubte Illusion — hat selbst ein Mann wie Rostow recht. Ob man die Rolle, die der Stand der Produktivkräfte spielt, verabsolutiert oder nicht — jedenfalls lassen sie sich nicht überspielen. Die Losung, daß die Arbeit eine Sache des Ruhms und der Ehre ist, verdeckt ebensowenig wie das Arbeitsethos des Protestantismus die grundlegende Tatsache, daß die industrielle Arbeit, wie sie bis heute vorherrscht, Zwangscharakter trägt. Das setzt jene Losung in Wirklichkeit gerade voraus. 

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Der Sowjetstaat hat über sein keineswegs von Marx übernommenes Leistungsprinzip die zweieinige Hauptfunktion der Arbeitsdisziplinierung und des Kampfes gegen das Gleichheitsstreben der Massen erfüllt. Das war die Bedingung des ökonomischen Aufstiegs unter den aus der russischen Vergangenheit überlieferten Umständen.

Positiv bestand der Kern der staatlichen Wirtschaftspolitik in der rigorosen Zentralisierung des gesamten Mehrprodukts der Arbeiter und dann vor allem auch der Bauern; ging es doch darum, auf der schmaleren Basis mehr zu akkumulieren, als die Kapitalisten, die man ja einholen wollte! Das bedeutete von den werktätigen Massen her gesehen Lohnarbeit, Arbeit für die einfache Reproduktion ihrer physischen Produzentenexistenz, in nacktester Gestalt. Der Wettbewerb, die Stachanow-Bewegung konnten unter den gegebenen Voraussetzungen nur auf die Intensivierung der Arbeit, auf den schnelleren Umsatz der Lebensmittel, auf größere Differenzierung innerhalb der unmittelbaren Produzenten orientieren. 

Zugleich aber — und diese subjektive Seite der Industrialisierung ist die zukunftsträchtigste Errungenschaft jener Blut-und-Eisen-Epoche — mußte die Staatsmacht für die erweiterte Reproduktion nicht nur der Quantität, sondern der Qualität des Gesamtarbeiters sorgen: für eine technische Intelligenz, für eine pädagogische Intelligenz im Maßstab der großen Zahl.

Alles in allem war der Sowjetstaat, mit der Partei als Kern, nicht der Stellvertreter einer mit ihrer eigenständigen Machtausübung überforderten Arbeiterklasse, sondern der außerordentliche Stellvertreter (nicht natürlich Platzhalter!) einer Ausbeuterklasse.

Woraus erklärt sich aber jetzt, wo in der Sowjetunion die schwerste Arbeit getan ist, wo die materiellen Voraussetzungen des Sozialismus zumindest weit über dasjenige Mindestmaß hinaus gediehen sind, das Lenin einst für notwendig hielt, die hartnäckige Kontinuität des Stalinschen Überbaus? 

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Vor allem daraus, daß die Maßstäbe der Akkumulation für den Sozialismus nicht systemimmanent gesetzt, sondern im sogenannten ökonomischen Wettbewerb mit dem Kapitalismus bestimmt werden. Sowohl die Quantität der Bedürfnisse, die von den westlichen Industrien erzeugt und befriedigt werden, als auch ihre insgesamt gesehen hochproblematische Qualität setzt sich in der sowjetischen Planung mehr oder weniger direkt, mehr oder weniger »gebrochen« als »Führungsgröße« durch.

Das Dilemma der sowjetischen Wirtschaftspolitik erinnert sehr an das Märchen vom Wettlauf des Hasen mit dem Igel, in dem der Igel die Spielregeln handhabt. Jedesmal wenn die Sowjetwirtschaft nach einer ihrer Anstrengungen aufatmen möchte, schallt es ihr am Ende der Furche entgegen: »Ich bin schon da!« Die ungeheure Last der Militärausgaben, die nur um den Preis eines ungleich größeren Anteils am Nationaleinkommen in Parität mit denen der NATO gehalten werden können, dürfte hier das ausschlaggebende Handicap sein. Der Rüstungswettlauf ist ja der wirkliche Grundtext des »ökonomischen Wettbewerbs«.

Die entscheidende Frage lautet, wie sich die Sowjetunion sozialökonomisch organisieren soll, um dem westlichen Staatsmonopolismus Paroli bieten zu können. Die modernen technischen Produktivkräfte sind für ein Land, das sie qualitativ gesehen nachschafft, kopiert, schwer ohne die soziale Organisationsform zu haben, in der sie originär auftreten. Die Theoretiker der Arbeiterbewegung von Engels über Plechanow und Kautsky bis zu Lenin und Bucharin waren ohnehin ausdrücklich der Ansicht, der Monopolkapitalismus damaliger Entwicklungsstufe habe gerade die Leitungs- und Organisations­formen der Vergesellschaftung hervorgebracht. Sie müßten nur noch aus den alten Produktionsverhältnissen befreit werden, um ihnen eine ganz neue soziale Funktion zu geben. 

Der sowjetische Staatsmonopolismus in der Wirtschaft stellt in vieler Beziehung das Konterfei der seinerzeit von den Koryphäen der II. Internationale linear verlängerten staatsmonopolistischen Tendenzen Westeuropas und speziell dann der deutschen Weltkriegswirtschaft dar. 

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Damals trat die kybernetische Tendenz der Produktivkräfte auch im Monopolkapitalismus noch wenig hervor. Da der real existierende Sozialismus im Zeichen der ursprünglichen Akkumulation nicht die Aufhebung des entwickelten Kapitalismus ist, vermochte er auch die über den Kapitalismus hinausgreifende Forderung, Formen »organismischer« Selbstregulation für den ökonomischen Gesamtprozeß zu finden, nicht zu erfüllen. Vielmehr mußte er unter diesen Umständen auf dem niedrigeren Niveau der mechanischen Steuerung mit'der Konstruktion des allgemeinen Zusammenhangs beginnen, um nun daran zu arbeiten, diesen unorganischen Mechanismus durch die Implantation historisch entwickelterer Regulationen zu vervollkommnen. 

Heute besteht ein Teil des Problems darin, daß eine Regulierungsform, die im Westen nur als vorübergehende und zudem einigermaßen abnorme Phase figurierte, bei der Ungeformtheit der entstehenden Sowjet­wirtschaft, die überdies erzwungenermaßen zeitlebens eine Art Kriegswirtschaft war, eine prägende Rolle spielen konnte. Der militärisch-industrielle Komplex in den USA findet in einem militärisch-bürokratischen Komplex in der Sowjetunion sein unfreiwilliges Pendant, das sich in seiner Verbindung mit den Sicherheitsorganen als ungeheurer Bremsklotz des innenpolitischen Fortschritts erweist.

Ursprünglich hatte man im Anschluß an Marx nicht nur die allgemeine Vereinfachung und Entrümpelung der Verwaltung durch die sozialistische Revolution, sondern ganz speziell deren radikale Entlastung durch den Wegfall des Hauptaufwands für die Zirkulationssphäre erhofft. Die Warenproduktion sollte ja wegfallen, und mit ihr das Geld. 

Die erste Entdeckung der nachrevolutionären Politischen Ökonomie in der Sowjetunion bestand aber in dieser Hinsicht darin, daß man das Geld zumindest in seiner informationellen Bedeutung, nämlich als Rechengeld, benötigen würde, um den volkswirtschaftlichen Gesamtprozeß planen, steuern und kontrollieren zu können. 

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Am Ende mußte die gesamte »sozialistische« Ökonomik als eine der Warenproduktion anerkannt werden, und man sah sich gezwungen, sozusagen von oben das Wertgesetz wieder in Kraft zu setzen. Die letzte Phase dieses Prozesses, die gegenwärtig durchlaufen wird (nachdem in Jugoslawien sogar die zumindest formell korporativ-kapitalistische Konkurrenz wieder eingeführt wurde), bringt die Anerkennung des Marktes als Regulator der Bedürfnisbefriedigung durch die Produktion. 

Auch jene Länder, die sich — anders als DDR und CSSR — wirklich auf dem nichtkapitalistischen Wege industrialisierten, waren auf die Kategorien angewiesen, in denen der kapitalistische Reproduktionsprozeß geronnen war! Unter deren spezifischer Form verbarg sich der informationelle Überbau des industriellen Reproduktionsprozesses überhaupt. Dies »Überhaupt« ist natürlich nicht metaphysisch, sondern historisch zu verstehen. Die Geldzirkulation, die auf dem Wertgesetz beruhende Kostenrechnung usw. stellen in ihrem allgemeinen Wesen die historisch notwendige, weil bis heute entwickeltste sekundäre Materialisierung des Informationsaustausches über die ökonomischen Bedürfnisse der Gesellschaft dar.

Es erweist sich aber als ungeheuer schwer, auf dem Wege solcher partiellen »kapitalistischen Restaurationen« über die Prämissen der Ökonomischen Despotie, über die weitgehende Formbestimmtheit der Sowjet­gesell­schaft und -wirtschaft durch »asiatische Restauration« hinauszukommen. Bis zum II. Weltkrieg und wahrscheinlich sogar bis zum Wiederaufbau wurde der starre Zentralismus, in dem sich ein schwerfälliger Verwaltungs­schlendrian mehr schlecht als recht mit kühnen ökonomischen Initiativen der Partei- und Staatsspitze vertrug, der Basis offenbar noch weitgehend gerecht, wie die Ergebnisse beweisen. 

Es ging um extensive Entwicklung, und dabei spielte zum Beispiel das Gleichgewicht zwischen Kopplung nach unten und Rückkopplung nach oben, spielten die horizontalen Kopplungen noch nicht jene ausschlaggebende Rolle, die ihnen in intensiven, auf qualifizierte Bedürfnis­befriedigung gerichteten Volkswirtschaften zukommen. Gegenwärtig drohen dabei schon sinkende Zuwachsraten, von der Hemmung der qualitativen Faktoren und speziell der Arbeits­produktivität ganz zu schweigen.

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Das Verhältnis zwischen Volk und Führung ist institutionell dasselbe wie in den dreißiger Jahren, wo es trotz des Terrors progressiv funktionierte. Aber heute erweist es sich als zunehmend uneffektiv. Hier spielt nun die Trägheit der Institutionen eine verhängnisvolle Rolle, wie sie in den unmittelbaren Lebensinteressen der paar Millionen Menschen verankert ist, die den Stalinschen Apparat schufen bzw. von ihm geformt wurden, ihn bis ins letzte Kolchosdorf repräsentieren. 

Jedesmal, wenn sich die Widersprüche zuspitzen, neigen sie spontan zur Regression, zu schon nicht einmal mehr erfindungsreichen Variationen immer derselben »Maßnahmen«, Kampagnen und »Strukturveränderungen« in ihrem vergreisten Mechanismus. In seiner gegenwärtigen Gestalt bewegt sich das sowjetische Regierungssystem in einem Teufelskreis, der einerseits aus dem Dilemma des ökonomischen Wettbewerbs, andererseits aus dieser sozialpsychischen Regression der Partei-, Staats- und Wirtschaftsbürokratie besteht. 

Der Teufelskreis muß natürlich zuerst bei diesem zweiten Element durchbrochen werden. Die Partei, der Sowjetstaat können auf eine gewaltige ökonomische Leistung verweisen — die aber der Geschichte angehört. Die Partei wird ihr Erstgeburtsrecht verlieren, wenn sie nicht in der Lage ist, sich und den Staat gründlich, d.h. sozial statt bürokratisch zu erneuern. 

Liegt nun die Lösung in einem sofortigen Abbau der Staatsmaschine schlechthin? Braucht die riesige Sowjetwirtschaft keinen Staatsplan, keine zentrale Verfügung der wichtigsten Investitionen für neue Werke, neue Technik, für die immer dringlichere Infrastruktur mehr? Hat das Staatsprinzip seine zivilisatorische Rolle ausgespielt? Hier darf man nichts vereinfachen.

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Im Spätkapitalismus bildet sich gerade aufgrund seiner hochentwickelten Produktivkräfte eine staatliche Superstruktur über dem ökonomischen Prozeß heraus. Die Monopole werden, ohne daß sich dadurch in ihren Interna gleich etwas ändern muß, partikular, weil sich über ihnen ein ökonomischer Zusammenhang herstellt, für den sie nicht weit genüg sind. Der Staat ist unter diesen Umständen weit mehr als »der gemeinsame Ausschuß der Kapitalistenklasse«. Oder weshalb stellen sich nun auch die kommunistischen Parteien, wo sie so großen Einfluß besitzen wie in Frankreich und Italien, die Aufgabe, die Staatsmaschine zu erobern statt zu zerschlagen? Sie zu erobern gemeinsam mit den Sozialdemokraten, die sich diese Aufgabe schon 80 Jahre länger stellen? 

Obwohl der Staat noch immer auch als Instrument der Klassenunterdrückung fungiert, kann sich die Gesellschaft die Zerschlagung seines Apparats nicht mehr leisten, ohne ihren Reproduktionsprozeß zu desorganisieren. Denn diese Maschine agiert als Organisator der dem Kapitalismus entwachsenden Produktivkräfte. Und als Herrschaft über Menschen kann der Staat nicht fallen, kann er nicht reduziert werden auf Verwaltung von Sachen ohne Überwindung der alten Arbeitsteilung. 

Die staatliche, abstrakt zentralistische Form, in der die Verwaltung von Sachen verlarvt ist, wird nur in dem Maße positiv überflüssig, wie von unten ein System gesellschaftlicher Selbstorganisation in dieses unorganische Gerüst hineinwächst. Auch der Staat muß aufgehoben werden. Aber das setzt voraus, daß er statt unter der bürokratischen Kontrolle eines verknöcherten Parteiapparats unter der ideologischen Vormacht einer organisierten kommunistischen Bewegung arbeitet, die ihn entschieden daran hindert, den Aufbau dieser gesellschaftlichen Selbstverwaltung niederzuhalten. 

Gegenwärtig ist der für die Leistungsfähigkeit der Sowjetgesellschaft in ihrer gegebenen Verfassung ganz entscheidende Staatsapparat das Tummelfeld einer soziologisch überalterten Schicht, unter deren Einfluß man dem weit flexibleren internationalen Management des kapitalistischen Staatsmonopolismus keine Alternative entgegensetzen kann. 

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Bei der bestehenden Lage wird aus der gerühmten Koexistenz und der praktizierten Kooperation mit dem Westen nur immer wieder erneut die Rolle der zweiten Geige herauskommen. Und dann wird die Sowjetgesellschaft nie den Terror los, der ihre Produktivkräfte fesselt. Wie lange noch, um nur ein Beispiel zu nennen, will man es nötig haben, Zehntausende hochqualifizierte Menschen in der Zensur als Staatsparasiten zu beschäftigen und zu erniedrigen? 

Aller aufwendige Aufputz der tradierten Legitimität kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Land eine Führungsautorität mit von grundauf erneuerter Legitimation braucht, die ihren Kurs in gesicherter demokratischer Kommunikation mit der Gesellschaft der Werktätigen bestimmt und wieder von der Idee einer neuen Zivilisation inspiriert wird. Die konkrete Ausarbeitung dieser Alternative hängt aber von einer genaueren Analyse unserer bestehenden Zusammenhänge ab. Für die neuen Herrschaftsverhältnisse haben Marx und Engels eben noch keine Prognose gehabt. 

Es ist an uns, ihnen auf den Grund zu gehen, ganz in dem Geiste des frühen Marxschen Vorhabens, die Verhältnisse dadurch zum Tanzen zu bringen; daß man ihnen ihre eigene Melodie vorspielt.

Um das allgemeine Wesen des real existierenden Sozialismus zu erfassen, ist nun im folgenden zu fragen,

 

Gerade in ihrem kritischen Realismus wird diese Analyse vielleicht zunächst einen apologetischen Anschein erwecken: alle die charakteristischen Erscheinungs­formen der Herrschaft; über die wir uns als naive Kommunisten zuerst hinweggetäuscht und dann empört haben, werden als praktisch unvermeidliche Konsequenzen eines bestimmten historischen Progresses dastehen.

Man muß sich daran erinnern, daß Marx mit der Bourgeoisherrschaft ähnlich verfahren ist, indem er jegliche romantische und sentimentale Kapitalismuskritik verwarf. 

Die Deformationstheorien wurzeln alle in einer romantizistischen Verarbeitung der Geschichte:

Wenn die Menschen, speziell die bolschewistischen Partei­menschen, nur intensiver gewollt und weiser gehandelt hätten, wäre statt des real existierenden Sozialismus der Sozialismus da, wäre er zumindest auf anderem, besserem Wege.

Man muß keineswegs fatalistische Neigungen haben, um einer solchen Auskunft zu mißtrauen. Sie liefert keinen Schlüssel zur Geschichte und Gegenwart, also auch nicht zur Zukunft unseres Systems.

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Rudolf Bahro 1977 Die Alternative Zur Kritik des real existierenden Sozialismus