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13   Rainer Bäurich  /  Manifest eines Christen im Sozialismus

 

Rainer Bäurich durfte als junger Christ nicht studieren. Als er sich bei seinen Ausreisebemühungen in die Bundesrepublik auf die KSZE-Schlußakte berief, wurde ihm gedroht, man werde ihn verschwinden lassen. Daraufhin verfaßte er sein »Manifest eines Christen im Sozialismus«. Diese Anklage gegen die Menschen­rechts­verstöße der DDR ließ er in den Westen zu Franz Josef Strauß und dem Brüsewitz-Zentrum schmuggeln. Die Rache der Stasi war brutal.

 

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»Meine gute Gisela! Meine geliebten Freunde! 
Wegen meiner Ausreisebemühungen bekam ich eine ernstzunehmende Morddrohung; weil ich daraufhin das <Verbrechen> eines Hilferufes beging, versicherten mir die Kommunisten die Zerstörung im <Strafvollzug>.
Erich Honecker besiegelte es. Die Amnestie war eine Farce. 
Ihr habt Euer möglichstes für mich getan; ich danke Euch dafür. Euer Engagement war nicht umsonst, denn durch Eure geleistete Solidarität, Euer Bitten und Beten, hört Ihr mein Vermächtnis: Laßt Euch unser Schicksal in den Krallen der Kommunisten eine Warnung sein; seid beseelt von Freiheit statt Sozialismus; bewahrt die christlichen Grundwerte!
Euer Rainer Bäurich.
Denkt bitte weiterhin ein bißchen an meine leidgeprüfte Mutter. — Dieses Blättchen bitte dem Brüsewitz-Zentrum zeigen.«

 

Dieser Kassiber gelangte auf wundersamen Wegen aus dem DDR-Zuchthaus Brandenburg an Gisela Eggert in Neustadt/Weinstraße, die sich wie viele andere Menschen in Westdeutschland für den als bekennenden Christen verfolgten Rainer Bäurich aus Dresden einsetzte.

Zu jener Zeit, im Jahre 1980, war der Ingenieur gerade zum zweiten Male verhaftet worden — weil er sein verbrieftes Recht wahrgenommen hatte, unter Berufung auf die KSZE-Schlußakte von Helsinki die Ausreise aus der DDR in die Bundesrepublik Deutschland zu beantragen.

Angefangen hatte alles schon viel früher, eigentlich bereits schon in seiner Jugend, als er zur Konfirmation ging. Weil es ihm an einer »sozialistischen Persönlichkeit« mangele und er keine Bereitschaft zeige, »an der aktiven Verteidigung des Sozialismus« mitzuarbeiten, wurde ihm der Besuch der »Erweiterten Oberschule« (EOS) verweigert. Damit hatte der junge Bäurich keine Chance zu studieren.

Dennoch schaffte er es durch außerordentliche Leistungen, sich beruflich zum Ingenieur der Elektrotechnik in der industriellen Forschung zu qualifizieren. Hätte er sich politisch angepaßt, hätte er alle Chancen gehabt, ein materiell sorgenloses Leben als Teil der »Intelligenz« zu führen.

Aber Bäurich sah, wie die Würde der Menschen vom DDR-System mißachtet wurde, wie die Informations- und Meinungsfreiheit systematisch unterdrückt wurde. »Ich habe keine Kraft mehr, mich immerfort zu verleugnen, meine Gefühle und brennenden Bedürfnisse zu unterdrücken und mit den kommunistischen Lügen zu leben. Ich halte ganz einfach die sozialistischen, d.h. die Zwangsarbeiter-Lebensbedingungen nicht mehr aus!« schrieb er damals.

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Als 1975 die Schlußakte von Helsinki unterzeichnet und diese auch von der DDR ratifiziert wurde, wollte er das im »Korb 3« der Schlußakte verbriefte Recht auf Auswanderung ausüben — aus »ideologischen Gründen«, wie er seine Ablehnung des Sozialismus präzise definierte.

Doch seine wiederholten Anträge auf Ausreise in den freien Teil Deutschlands wurden immer wieder abgelehnt, wenn sie überhaupt zur Bearbeitung angenommen wurden. Sein Begehren sei »unzulässig« und sogar strafbar, wurde ihm von den Behörden gedroht. »Wir unterschreiben diese Verträge doch nicht für Leute wie Sie, sondern zur Unterstützung des anti-imperialistischen Kampfes!«

Der Bezirksbürgermeister von Dresden ging mit seinen Drohungen noch weiter: »Wenn Sie mit Ihrer Forderung an die Öffentlichkeit gehen, lassen wir Sie verschwinden, und kein Hahn wird mehr nach Ihnen krähen!«

Bäurich, dem es ernst war mit seinem Ausreisebegehren, nahm auch diese Drohung ernst. Wenn er im Zuchthaus verschwinden sollte, dann wollte er zumindest vorher seine Gedanken der Öffentlichkeit zugänglich machen. So schrieb Bäurich sein »Manifest eines Christen im Sozialismus«, dessen 30 Seiten er, auf einem Kleinbildfilm belichtet, in den Westen und dort über den CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauß zum Brüsewitz-Zentrum im westfälischen Bad Oeynhausen schmuggeln ließ.

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Vom Brüsewitz-Zentrum, das gegründet worden war, um nach der Selbstverbrennung des Pfarrers Oskar Brüsewitz in Zeitz (Sachsen-Anhalt) die Menschenrechtssituation in der DDR zu beobachten, hatte er im Deutschlandfunk gehört.

Als er sein Ausreisebegehren in seinem Betrieb öffentlich machte und dann der Brief in Westdeutschland auf seinen Wunsch hin publiziert wurde, wurde Bäurich von der Stasi im November 1977 in einer Blitzaktion an seinem Arbeitsplatz verhaftet. Im April 1978 wurde er in einem Geheimprozeß vom Bezirksgericht Dresden zu fünfeinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt.

Zwanzig Monate davon mußte er in Brandenburg verbüßen, viele Wochen davon in Einzelhaft. Weil es ihm gesundheitlich immer schlechter ging, kam er häufig in das Haftkrankenhaus. Dann kam die im Kassiber angesprochene »Amnestie« zum 30. Jahrestag der DDR-Staatsgründung. Am 6. Dezember 1979 wurde er auf Bewährung freigelassen. Der Ingenieur erhielt einen Job als Hilfsarbeiter in einer Brotfabrik zugewiesen.

Doch weil er »uneinsichtig« blieb und, kaum entlassen, abermals einen Antrag auf Übersiedlung stellte, wurde ihm gedroht, er werde nicht nur seine Reststrafe absitzen müssen, sondern obendrein wegen seiner »illegalen Forderung« auch wegen »staatsfeindlicher Hetze« zusätzlich verurteilt werden.

Bäurich ließ sich nicht einschüchtern, obwohl er sich große Sorgen um seine schwerkranke Mutter machte. Doch er forderte weiter sein Bürgerrecht auf Freizügigkeit, hoffend, daß er zusammen mit seiner Mutter ausreisen könne und diese in Westdeutschland eine bessere ärztliche Behandlung erhalten werde.

Drei Monate nach seiner Freilassung wurde er am 12. März 1980 an seinem Arbeitsplatz verhaftet. Sechs Stasi-Mitarbeiter durchsuchten mehrere Tage lang sein Haus, fanden aber kein Belastungsmaterial, obwohl sie sogar den Fußboden aufrissen.

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Auch ohne zusätzliches Belastungsmaterial stand das Urteil fest: Zusätzlich fünf Jahre Zuchthaus wegen »staatsfeindlicher Hetze«. Der Prozeß fand abermals unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. Nicht einmal seine Mutter durfte teilnehmen.

Die Haft war für den sensiblen Mann eine Tortur. Seiner Mutter vertraute er in einem weiteren Kassiber an:

»Meine liebe, gute, tüchtige Mutti! Bitte verzeihe mir. Ich sah: Wem so wie mir die Kommunisten die Zerstörung angesagt haben, der bleibt wirklich so lange im Zuchthaus, bis man ihn in einer Nervenheilanstalt verschwinden lassen kann. Ich glaube, wir haben unsere Prüfung vor Gott bestanden: unsere Seele ist nicht verkümmert. Er hat uns unsterblich gemacht. Hab Dank, Mutti.

Bäurichs Mithäftling Dr. med. Werner Schälicke berichtete nach seinem Freikauf in die Bundesrepublik über die Einzelzellen im berüchtigten Zuchthaus Brandenburg: den »Kammkasten« mit einer Größe von 1,2 mal 3,5 Metern und den »Tigerkäfig« tief unten im Keller.

»Unter solch fürchterlichen Bedingungen lernte ich Rainer Bäurich im April 1978 kennen. Ich >lebte< damals bereits ein reichliches halbes Jahr im >Kammkasten<. Eines Tages sprach mich in der Freistunde, dem täglichen Rundgang auf dem Gefängnishof, ein blasser, nervöser, psychisch deprimierter Häftling an und erzählte mir seine Leidensgeschichte. Er hatte aus

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politischen Gründen die Zwangsarbeit abgelehnt und war deshalb in eine Nachbarzelle gelegt worden. Er hatte tiefliegende, halonierte Augen und eingefallene Wangen. Seine Gesichtsfarbe war blaß und fahl, gelblich. Es kostete ihn ungeheure Kraft, dieser ungeheuren psychischen Belastung der Einzelhaft standzuhalten.

Er bat mich damals um meinen ärztlichen Rat wegen eines geplanten Hungerstreiks, von dem ich aber dringend abriet. Ich kannte ja bereits die Methoden der Aufseher und des Haftkrankenhauses: Anschnallen, gewaltsames Öffnen des Mundes — notfalls unter Ausbrechen der Zähne —, Einschieben einer Magensonde, Einfüllen von zwei bis drei Litern Nahrung, Fixierung des Häftlings am Bett mit Handschellen, um ein künstliches Erbrechen durch den Häftling selbst zu verhindern.

Ich gab ihm weiter den Rat, wenigstens pro forma eine Arbeit aufzunehmen, um den Gehässigkeiten und Drangsalierungen des Stasi-Leutnants Bliese zu entgehen. Rainer hätte dann auch die Möglichkeit gehabt, durch einen kleinen Arbeitsverdienst die völlig unzureichende, vitaminarme Gefängniskost etwas aufzubessern.

Aber Rainer lehnte das ab, weil er für dieses System keinen Handschlag mehr tun wollte. Das ehrte ihn sehr, obwohl es zu seinem Nachteil war. Man muß befürchten, daß Rainer bereits wieder in Einzelhaft sitzt. Soforthilfe ist nötig!«

Im Europäischen Parlament stieß dieser Appell auf offene Ohren bei der christlich-demokratisch/liberalen Mehrheit: Anläßlich der KSZE-Nachfolgekonferenz in Madrid im Herbst 1980 lud das Parlament auf Initiative des

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bayerischen Europa-Abgeordneten und Präsidenten der internationalen Paneuropa-Union, Otto von Habsburg, auch Bäurich zu einer Anhörung nach Straßburg ein. Die Einladung des Parlaments der Europäischen Gemeinschaft verfehlte bei den Sicherheitsorganen der DDR nicht den Eindruck, doch es dauerte noch weitere dreieinhalb Jahre, bis sich die Gefängnistore für den christlichen Bürgerrechtler öffneten.

Am 8. September 1983, nach insgesamt fast sechs Jahren DDR-Zuchthaus, konnte Bäurich aufgrund massiver Interventionen des CSU-Vorsitzenden Strauß beim DDR-Staatsratsvorsitzenden Honecker und des nicht nachlassenden öffentlichen Drucks im Westen endlich die DDR verlassen — freigekauft von der Bundesregierung, wie viele andere politische Häftlinge.

Jetzt bist du zu Hause! dachte er spontan, als er nachts die innerdeutsche Grenze passieren durfte.

In seinen ersten Dankschreiben an seine Unterstützer im Westen schrieb er:

»Es ist überwältigend, was alles für mich getan wurde und wer sich alles für mich eingesetzt hat. Es würde mich in arge Verlegenheit bringen, wenn ich es nicht so verstehen dürfte, daß mein Fall lediglich stellvertretend für Hunderte vergleichbarer Fälle herausgestellt worden ist. So sahen es übrigens auch viele meiner ehemaligen politischen Mitgefangenen. Meine große Dankbarkeit versichere ich auch der >Hilfsaktion Märtyrerkirche<! Im Zuchthaus Brandenburg haben wir auf selbstgebastelten, illegalen Rundfunkempfängern sonntags um 6.00 Uhr die religiösen Sendungen von Radio Luxemburg gehört! Vater im Himmel, laß eine Sogwirkung entstehen, welche manch einen in die Freiheit mitreißt!«

Über seine evangelische Kirche sagte er dagegen nach seiner Ankunft in der Bundesrepublik enttäuscht dem »Westfalen-Blatt«: »Wenn man als Christ in der DDR in Schwierigkeiten kommt, kann man bei der evangelischen Kirche keinen Schutz finden. Die Kirche als Institution geht ganz offensichtlich davon aus, daß es das wichtigste ist, daß sie legal bleibt. Sie läßt sich also auf Kompromisse ein. Das bedeutet für den einzelnen, der in Konflikt gerät, daß er sich nicht auf die Kirche berufen kann. Das soll nicht als Vorwurf verstanden werden, sondern es ist die Feststellung, daß die Kirchen in der DDR nur einen ganz geringen Spielraum haben.«

Hatte der massive Einsatz der Öffentlichkeit in der DDR genutzt oder geschadet? Bäurich ist sich mit fast allen politischen Häftlingen einig: »Die öffentliche Solidarität, die mir zuteil wurde und von der wir auf verschlungensten Wegen selbst im Zuchthaus erfuhren, gab mir und auch meinen Mithäftlingen Kraft, Trost und Mut zum Durchhalten. Mein Rat: Es sollten jeweils einige wenige, aber beispielhafte und dramatische Fälle öffentlich herausgegriffen und als Hebelpunkt gegen die DDR-Menschenrechtsverletzungen genutzt werden«, sagte er nach seiner Freilassung 1983.

Bäurich, der sich im Kuratorium des Brüsewitz-Zentrums und bei »Hilferufe von drüben« engagierte, ließ sich zusammen mit seiner Mutter, die im Westen wieder gesundete, in Baden-Württemberg nieder und fand dort Arbeit in seinem angestammten Beruf.

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Ende

 

 

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