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   Der Drachen  

Von Walentyn Moros

 

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Das eisige Entsetzen, ohne das kein Schräubchenimperium erhalten werden kann, muß ständig erhalten werden. Eis kann in seinem natürlichen Zustand nicht ewig existieren, man braucht eine besondere Kühlvorrichtung dafür. In Stalins Reich wurde so ein Kühlschrank geschaffen, in dem die geistige Entwicklung der Gesellschaft für Jahrzehnte eingefroren wurde — das KGB.

Die totale Vernichtung jeglicher Gedanken in den Köpfen, die Massenstandardisierung des Denkens und Lebens sind eine schwere Belastung für das KGB, gleichzeitig bedeuten sie uneingeschränkte Macht. So ist es bislang immer gewesen: Das Organ, das alle Zweige des Lebens vernichtet, wächst und ernährt sich hypertroph von der Energie, die es ihnen wegnimmt. Seine funktionale Rolle schwindet mit der Zeit — dann hat es im Organismus keine nützliche Funktion mehr und wird zum Parasiten. Den Organismus, der ihn hervorbrachte, macht es nun zu seinem Lebensraum, zu seiner Nahrung.

Endlich verliert der Parasit sogar den Schein einer Verbindung mit dem Organismus. Er wächst bis zur Größe eines Drachens und verlangt regelmäßig nach Opfern. In der Regel frißt er sogar den Despoten, der ihn hochgezüchtet hat. So war es mit der pretorianischen Garde in Rom, die von einer Schutztruppe der Imperatoren zu einer Macht wurde, die Imperatoren auf den Thron setzte oder sie stürzte. Genauso war es mit den Janitscharen. 

Stalin wußte das und hatte Angst, daß auch ihm dasselbe Schicksal drohte, deshalb schickte er für alle Fälle Jezhow und Jagoda in den Himmel. Und dennoch setzte sich die Gesetzmäßigkeit auch diesmal durch, wenn auch nach Stalins Tod: fast wäre Berija ein neuer Diktator geworden.

Der Drache wird zu einer Konzentration und zum Symbol des Grauens, das für die Produktion weiterer Schräubchen unumgänglich ist.

Die Stellung des KGB über der Gesellschaft bezeugen vorrangig nicht seine ausschließlichen materiellen Privilegien (bis zu besonderen Jagdrevieren einschließlich), sondern dieses magische Entsetzen, das das Wort KGB überall hervorruft.

Um die Stellung eines Staates im Staate zu rechtfertigen, müssen die »Organe« ständig den Eindruck schaffen, daß sie die »Gesellschaft« vor schrecklichen Gefahren schützen. Zuallererst schmücken sie sich mit dem Aushängeschild »Verteidigung der Staatssicherheit«.

Der Drache braucht regelmäßige Menschenopfer, um existieren zu können. Die gesamte Energie richtet sich also auf die Fabrikation »antisowjetischer« Verschwörungen und Organisationen.

Alle kulturellen Kräfte waren vernichtet, 95 % des Generalstabs erschossen, und dann begannen die KGB-Leute, sich gegenseitig abzuknallen. Sie erreichten eine Situation, in der die Antwort auf die Frage: »Wo ist der Genosse Iwanow?« hieß: »Er ist gerade weggegangen, um Sie zu verhaften.«

Die tollwütige Schlange begann, ihren eigenen Schwanz zu fressen. Dabei rückte die tatsächliche Funktion der Organe, der Schutz des Staates nämlich, an die zehnte Stelle.

Es war ein Paradies für wirkliche Spione. In einer Atmosphäre der totalen Verdächtigung und Spionomanie, als der reale Bezug zu den Dingen verlorengegangen war, hatten sie leichte Arbeit — das haben die ersten Kriegsjahre deutlich gezeigt.

Im Lager Nr. 11 saß der psychisch Kranke Este Hejno Nurmsaar, der sich für einen Gott in Menschengestalt hielt. Alles Übel der Welt hatte seiner Meinung nach seinen Ursprung darin, daß man ihn schlecht behandelte. Deswegen war die Eiszeit gekommen, und deswegen sind die Polargebiete bis heute vereist. Wenn man ihn aber freiläßt und gut ernährt, wird sich alles ändern, am Nordpol wird man Kartoffeln pflanzen, und er selbst wird im Wald leben, Bäume hegen und Bienen züchten.

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Der Sibirjak Nikolaj Tregubow erklärte sich zum Präsidenten eines »Vereinigten Rußland«, so unterschrieb er auch seine Beschwerden. Das KGB versuchte mitsamt der Lagerleitung - zusammen 10 Mann - ihm die antisowjetische Absicht, Präsident zu werden, auszureden. Der Sibirjak war standhaft. »Ich werde als Präsident sterben!«

Beide wurden als »unverbesserliche Gegner der Sowjetmacht« in das Gefängnis von Wladimir geschickt. Beide gelten als Simulanten, obwohl alle wissen, daß sie psychisch krank sind.

Der dritte, Jura Kazinski, ist der »Herrscher der Welt«. Er hält sich für einen Schamanen. Seine antisowjetischen Pläne formuliert er folgendermaßen: »Man muß sich Federn ins Haar stecken, einen alten Matrosenkittel umhängen, die Hosen ausziehen, die Beine mit bunten Bändern schmücken und den Tanz des Donnernden Drachens tanzen. Dann werden die Gefängnisse, die Lager und die Kolchosen (eine interessante Systematisierung der Erscheinungen!) nach Amerika fliegen!«

Er sitzt wegen »antisowjetischer Haltung« im Karzer und wird wahrscheinlich auch bald nach Wladimir fahren.

So macht das KGB unzählige Gefahren unschädlich, die den Staat bedrohen.

Das ist ein Irrenhaus, in dem die Grenzen zwischen Patient und Arzt schon lange verwischt sind. Es gibt auch Erwachsene, denen man keine Streichhölzer in die Finger geben sollte — und trotzdem hat man ihnen das alleinige Monopol der Kontrolle des Geisteslebens der Gesellschaft übertragen!

Es ist bislang noch niemandem gelungen, ewiges Eis und ewiges Grauen zu schaffen. Jede Geschichte über einen Drachen, sei es der, der über Kiew herrschte, sei es der, der im Wawel über Krakau saß — hat das gleiche Ende: Es kommt ein Kyrylo Koschumjaka und setzt dem ganzen Spuk ein Ende.

Der Gefriermechanismus wirkt nur, solange es überhaupt etwas zum Einfrieren gibt. Wenn die Leute aber schon zu Schräubchen geworden sind, schaltet sich der Mechanismus automatisch aus. Das Schräubchen interessiert sich weder für gesellschaftliche noch für politische Fragen (»Das ist nicht unsere Sache!« — »Kümmere dich niemals um Politik!«), diese Sphäre liegt außerhalb seines Interessengebietes.

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Aber auf jedem anderen Gebiet — etwa bei der Beurteilung von Fußballspielen — fühlt sich das Schräubchen völlig frei und hat eigene Kriterien.

Deshalb ist schon die zweite Generation von Schräubchen frei von Minderwertigkeitsgefühlen. Sie ist nicht mehr ein Produkt des Grauens, sondern der Tradition. Wie arm ihre Welt auch ist - es ist eine Welt, die auf gesundem Menschenverstand gründet. Das Ergebnis 4:0 ist besser als 2:0, da ist kein Raum mehr für Sophistik.

Und alle Dogmen, mit denen man das junge Schräubchen ständig füttert, stehen im Widerspruch zu der Welt der primitiven Offensichtlichkeiten, die auf dem gesunden Verstand beruhen.

Es ist ein sehr wichtiger Augenblick, in dem der Sportler mehr zu wiegen beginnt als der Diktator. Niemand wendet sich offen gegen die Dogmen, aber sie werden bereits als etwas Fremdes aufgefaßt.

Weil dem jungen Schräubchen aber das Grauen seiner Eltern unbekannt ist, beginnt es, die Dogmen vom Standpunkt eines schweigenden Skeptizismus aus zu betrachten und schwenkt dann unmerklich auf die Gleise einer schweigsamen Opposition über - einer destruktiven, denn ein konstruktives oppositionelles Programm hat es noch nicht.

Aber das Denken bleibt ja nicht stehen und dringt erst schüchtern, dann aber immer weiter in die verbotenen Gebiete der Geschichte, Philosophie und Literatur vor. Und alles, was es da sieht, betrachtet es bereits vom Standpunkt des gesunden Menschenverstands aus. Und so geschieht ein unmerkliches Wunder: das Schräubchen wird zum Menschen!

Der Drache schöpft noch keinen Verdacht, aber moralisch ist er jetzt schon tot. Seine Macht beruhte ja nur darauf, daß er den Menschen das Bewußtsein ihrer Macht geraubt hatte, daß er sie davon überzeugt hatte, daß sie nichts und er alles sei.

Aber früher oder später dringt immer ein Prometheus in sein Reich vor und gibt den Menschen die geraubte Macht zurück.

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Es bleibt scheinbar alles beim Alten: Leute, die ungenehm lind, werden hinter Gitter gesetzt oder verlieren ihren Arbeitsplatz, aber der Bann wirkt nicht mehr. Früher hatte man Angst, dem Drachen ins Gesicht zu sehen, heute wühlt man bereits in •einen Eingeweiden. Heute ist er moralisch tot, und man kann ruhig mit der Sektion anfangen. Es hat sich gezeigt, daß sein Inneres mehr Schweinisches denn Teuflisches enthält.

Auf diesem Wege kam eine neue Generation ins ukrainische Leben und stellte die Verteidiger der stalinistischen Ordnung vor ein ganz neues Problem. »Die Ordnung« hatte sich gehalten, weil sich die Leute selbst alle Rechte abgesprochen hatten, weil sie sich mit der Rechtlosigkeit abgefunden hatten, und da konnte man alles versprechen und im voraus wissen, daß man es nie würde einhalten müssen.

Und dann kam eine neue Generation, die erklärte: In der Verfassung ist die Freiheit des Wortes verankert, und wir wollen sie gebrauchen. Diese Variante war nicht vorgesehen. Plötzlich zeigte sich, daß die Attrappe, die für das Schaufenster produziert war, auch schießen kann. Die Götter haben stets jeden Prometheus gehaßt, der die Dunkelheit erhellt und den Menschen zeigt, daß in ihr nichts ist außer der Ausgeburt ihrer eigenen Angst, daß die Macht des Bösen ausschließlich auf ihrer eigenen, menschlichen Kraftlosigkeit beruht.

Es ist sehr wichtig, den zum Schweigen zu bringen, der als erster schreit: »Der König ist nackt!«, bevor es die anderen aufgegriffen haben. Aber der König ist ja wirklich nackt. Das ist eine Binsenweisheit. Und wem paßt sie nicht? Dem, der bei einer vollständigen Liquidierung der stalinistischen Rechtlosigkeit seine Privilegien verliert. Das ist aber vor allem das KGB! Weiter - der Kolchosvorsitzende, der Angst hat, daß er bei einer tatsächlichen Einhaltung aller Rechtsnormen nicht einmal mehr die Schweine hüten darf. Der Wissenschaftler, der seinen Lehrstuhl über die Leichen der verratenen Freunde von 1937 erreicht hat. Der Chauvinist, der von den gestrigen Normen der Russifizierung abgehen muß. Das sind die Kräfte, die das Gestern verteidigen und als Hindernis auf dem Weg der gesellschaftlichen Entwicklung liegen. Nur sie brauchen Schräubchen statt Menschen.

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Sie spielen nach außen mit aller Kraft Verteidiger der »G Seilschaft«, Verteidiger der »sozialistischen Gesetzlichkeit«.^ Hinter verschlossenen Türen aber äußern die KGB-Leute ganz andere Ansichten über sozialistische Gesetzlichkeit.

Als Lewko Lukjanenko Kapitän Denisow, Untersuchungsrichter des Lemberger KGB, fragte: »Wofür existiert denn überhaupt der Artikel 17, der jeder Republik das Austrittsrecht aus der Union garantiert?«, antwortete der Kapitän: »Für das Ausland«. So ist das also!

Es zeigt sich, daß die KGB-Leute genau wissen, daß sie nicht die sozialistische Gesetzlichkeit verteidigen, sondern das Recht, sie zu verletzen. Über ihre Einrichtung haben sie keinerlei Illusionen und begreifen sie einfach als einen Ort, wo man am besten bezahlt wird und ohne Warteliste eine Wohnung bekommt.

Der KGB-Mann Kasakow brachte mir einen Brief vom Rektor des Pädagogischen Instituts in Iwano-Frankiwsk, wo ich früher gearbeitet habe. Ich sagte: »Wenn mir einer schreiben will, soll er doch die Briefe mit der Post schicken.« Darauf sagte Kasakow: »Das wäre zuviel Ehre«. Er glaubte also, daß das KGB nicht einmal soviel Ehre beanspruchen kann wie die Post.

Warum paßt es dem KGB eigentlich nicht, wenn die Leute es verachten?

Lytwyn, ein Vertreter des KGB aus Lemberg, erklärte: »Wir haben Sie auf Verlangen der Öffentlichkeit verhaftet. Sonst würden die Leute sie zerreißen.«

So ein Wunder! Warum verurteilt man dann die politischen Häftlinge in geschlossenen Verhandlungen und schreibt kein Wort über sie?

Den KGB-Leuten ist die Ungesetzlichkeit ihrer Taten wohl bewußt, und deshalb verstecken sie die politischen Prozesse vor der Öffentlichkeit, während sie über die Prozesse deutscher Polizisten ausführlich berichten.

Überhaupt sind alle Mittel, die das KGB im Umgang mit nicht genehmen Leuten gebraucht, ausnahmslos ungesetzlich.

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Nach der Verurteilung von Dmytro Iwaschtschenko in Luzk wurde seine Frau, Wira Iwaschtschenko, sofort von ihrem Posten als Ukrainischlehrerin an der Schule Nr. 3 entlassen. Auf welcher Grundlage? Sie hatte lange Jahre als vorbildliche Lehrerin gegolten. Über ihre Erfolge hatte die Zeitschrift »Radjanska Schinka« (»Die sowjetische Frau«) berichtet, dank ihrer Bemühungen entstand in Luzk ein Museum für Lesja Ukrajinka.

Aber sie hatte sich geweigert, kompromittierende Beschuldigungen an die Adresse ihres Mannes zu verfassen, wie es das KGB verlangte. Sie wurde auf Befehl des KGB entlassen. Welches Gesetz gibt dem KGB das Recht, Leute zu entlassen?

Die Studentin des Pädagogischen Instituts von Luzk, Anatolija Panas, die vor Gericht als Zeugin aussagte, wagte es, über den chauvinistischen Terror auf der Krim zu berichten, wo sie ein pädagogisches Praktikum als Ukrainischlehrerin absolvierte. Man sprach sie mit »Banderowka« an, die Lehrer, mit denen sie zusammengearbeitet hatte, erklärten offen: »Wenn Lenin noch lebte, würde er diesem nationalistischen Gesindel schon das Maul stopfen«, und empfahlen ihr, kein Ukrainisch zu sprechen, »wenn die gute Beziehungen zu uns haben wollen«.

Im Art. 66 des Strafkodex der USSR heißt es: »Agitation und Propaganda mit dem Ziel, Rassen- oder Nationalfeindschaft zu erzeugen, ebenso eine direkte oder indirekte Beschränkung der Rechte, sowie die Konstituierung eines mittelbaren oder unmittelbaren Übergewichts von Bürgern abhängig von ihrer Rassen- oder Nationalzugehörigkeit, wird mit Haftstrafen von 6 Monaten bis zu 3 Jahren oder mit Verbannung von 3-5 Jahren verfolgt.«

An eine Bestrafung der Chauvinisten auf der Krim dachte niemand, aber die Studentin, die es wagte, das Gesetz und ihre nationale Würde zu verteidigen, ließ man durchs Staatsexamen fallen.

Die KGB-Leute wiederholen dauernd, daß ihnen ein »Häuflein Abtrünniger« gegenüberstehe, gegen die »das Volk« sei. Aber sie wissen selbst, daß das eine banale Lüge ist. Sonst würden sie die politischen Häftlinge nicht hinter den geschlossenen Türen geheimer Gerichtsverhandlungen vor dem Volk verstecken.

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Auch die, die schweigen, darf das KGB nicht zu seinen Aktivisten zählen. Schweigen muß nicht immer ein Zeichen von Einverständnis sein. Das hat der 5. Schriftstellerkongreß der Ukraine überzeugend gezeigt. Nicht nur die Redner, auch die Teilnehmer waren sorgfältig ausgesucht worden. »Unbewußte« gab es überhaupt nicht im Saal. Und dennoch wurde der Kongreß zu einer Tribüne für die Stimmen zur Verteidigung der nationalen Kultur, gegen die chauvinistische Unterdrückung.

Als ein kleines Grüppchen stellten sich auf der Tagung gerade die Verteidiger der stalinistischen Relikte heraus.

Auf dem weißrussischen Schriftstellerkongreß kritisierte Bykow die Großmachtassimilatoren, auf dem grusinischen Kongreß - Abaschidse.

Das KGB-Register der »Abtrünnigen« wächst ständig. Marussenko, (KGB Lwiw) antwortete auf die Frage von Ossadtschyj: * »Warum habt ihr nicht auch Nowytschenko (führender, offizieller sowjetukrainischer Literaturwissenschaftler) nach Mordowien gebracht? Er hat doch dasselbe gesagt wie wir?« - »Wir könnten sogar Hontschar (einer der bedeutendsten, offiziellen Schriftsteller der Ukraine) hierher bringen«.

Ein wertvolles Bekenntnis! Da sieht man, welcher »Gesellschaft« das KGB dient! Diese Gesellschaft hat nichts dagegen, auch Hontschar hinter Gitter zu bringen, wie auch den stellvertretenden Vorsitzenden des Nationalrats, Stelmach und Malyschko und viele andere bekannte Vertreter der Intelligenz in der Ukraine, die gegen die willkürlichen Verhaftungen in der Ukraine 1965 protestiert haben.

Es ist eine isolierte Gruppe, die sich aus allen Kräften bemüht, sich im Nacken der Gesellschaft festzuhalten, wo sie seit Stalins Zeiten sitzt.

Und der Kreis der Isolierung um sie wächst unaufhaltsam -und zwar in dem Maße, in dem die Leute ihre schändliche, sklavische Angst abschütteln. Marusenko hat das selbst zugegeben. Auf Ossadtschyjs Frage: »Welche Stimmung herrscht unter den Intellektuellen in Lemberg?« antwortete er: »Ein Teil hat die Linien des Schriftstellerkongresses angenommen, der andere zögert noch. Auf die alte Art wollen sie nicht mehr leben, auf die neue getrauen sie sich noch nicht.«

 

* 1973 zum zweiten Mal zu 7 Jahren Lagerhaft verurteilt 

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Auf die alte wollen sie nicht, auf die neue können sie nicht. . . Die Situation ist nicht neu, sie war seit jeher charakteristisch für Übergangszeiten. Auch die augenblicklichen Geschehnisse in der Ukraine sind ein Übergang: Das Eis des Grauens, das für lange Jahre das geistige Leben des Volkes eingefroren hatte, bricht. Wie immer hat man die Leute hinter Gitter gesetzt, und wie immer hat man sie in den Osten geschleppt. Aber diesmal sind sie nicht verschollen. Zum allergrößten Erstaunen des KGB entstand zum ersten Mal seit Jahrzehnten in der Ukraine so etwas wie eine öffentliche Meinung. Zum ersten Mal entstand eine Protest­kampagne, zum ersten Mal weigerte sich der Journalist Tschornowil, auf einer geheimen, ungesetzlichen Gerichts­verhandlung als Zeuge auszusagen. Und zum ersten Mal spürten die KGB-Leute ihre Ohnmacht, all das zu unterdrücken. Mit um so größerem Genuß rächen sie sich an denen, die ihnen unter die Finger geraten sind, an denen, die im Reservat sitzen.

 

   Im Reservat    

 

Das hier ist der einzige Ort, an dem sich die KGB-Leute an keinerlei Gesetze und Rechte zu halten brauchen. Es ist der Ort, an dem sie das Grauen und Entsetzen festigen. Die Hauptenergie ist darauf gerichtet, das Menschliche im Menschen zu töten - nur dann kann er zu dem Teig werden, aus dem man alles mögliche kneten kann.

Der Häftling kann sich in allem an die Lagervorschriften halten - wenn die KGB-Leute merken, daß er nicht aufgegeben hat, daß er das Übel nicht als Normalzustand anerkannt hat, daß er seine Würde bewahrt hat, werden sie ihn mit allen Mitteln unter Druck setzen. Und erst, wenn sie sich davon überzeugt haben, daß der Mensch auf das Niveau eines Nahrungsverbrauchers herabgesunken ist, erst dann sind sie beruhigt.

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Der Ossetine Fjodor Bjasrow war ein Dieb. Dann wurde er Zeuge Jehovas und hörte auf zu stehlen. Man sollte meinen, daß die »Erzieher« zufrieden waren. Das glaubte auch Bjasrow. »Was wollt ihr denn von mir? Ich stehle nicht mehr und tue nichts Schlechtes mehr. Und es ist schließlich nicht verboten, an Gott zu glauben.« — »Es wäre besser, wenn du stehlen würdest.«

Das ist kein Einzelfall. Viele politische Häftlinge sind auf die kriminellen verwiesen worden: »Es sind Diebe, aber es sind unsere Leute. Ihr seid dagegen unsere Feinde.«

Solche Leute verteidigt also das KGB. Ein moralisch zersetzter Mensch - das ist ihr Terrain, auf dem sie sich wohl fühlen. Ein Bandit - er ist richtig. Der KGB-Mann weiß, wie er mit ihm reden muß. Für einen Drogentrip ist er der bereitwilligste Spitzel. In ihm muß nicht erst ein so unverständlicher, doch mächtiger Faktor wie die Würde getötet werden. Solche Agenten werden aber nicht nur in der Funktion von Spitzeln gebraucht. 

Der Häftling Laschek war als KGB-Agent bekannt. Alle wußten das - 1958 hatte man ihm im Lager 11 in Taschejt einen von ihm verfaßten Bericht weggenommen. Im April 1964 verletzte er im Lager 7 Stepan Wirun (er gehört zu der 1961 in Lemberg zu hohen Strafen verurteilten Juristengruppe) mit dem Messer. Als Wirun nach seiner Entlassung aus dem Lagerhospital mit Kapitän Krut darüber sprach, sagte der: »Sogar den Kopf wird man dir abhacken, wenn du nicht vernünftiger wirst.« (Wirun erkannte die Rechtmäßigkeit seines Urteils nicht an und verfaßte Beschwerden).

 

Der Art. 22 des Strafkodex der UdSSR verkündet: »Eine Bestrafung hat nicht zum Ziel, physische Leiden zu erzeugen oder die Menschenwürde zu verletzen.« Also sind alle Methoden des Drucks auf die Häftlinge, die das KGB gebraucht, gegen das Gesetz. Aber wo bleiben die, die berufen sind, die Einhaltung der Gesetze zu überwachen, also die Staatsanwaltschaft?

Es gibt auch in Mordowien Staatsanwälte. Und es wäre unrecht zu sagen, daß sie die Augen vor der Willkür verschließen oder die Hände in Unschuld waschen. Ganz im Gegenteil. Die lokalen Staatsanwälte krempeln die Ärmel hoch und helfen dem KGB mit aller Kraft bei seinen schmutzigen Geschäften.

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Im Gespräch mit dem Vertreter des Staatsanwalts der Laserleitung von Dubrow machte ich ihn darauf aufmerksam, daß 1-eute, die unter schweren Magenerkrankungen leiden, gegen das Gesetz nur Hungerportionen bekommen. Er antwortete seelenruhig: »Es ist doch gerade angeordnet, daß der Magen getroffen werden soll!«

Mit welchem Recht dürfen sich solche Sadisten Verteidiger der Gesetzlichkeit nennen?

Die Zwangsarbeit für die politischen Häftlinge ist eine Verletzung der Konventionen der UNO über das Verbot von Zwangsarbeit. Im übrigen geben die KGB-Leute selbst zu, daß die Arbeit für sie ein Druckmittel ist. So manchem hat man gesagt: »Wir brauchen deine Arbeit gar nicht, wir wollen nur, daß du dich besserst.« Einem Häftling, der in den Karzer soll, gibt man eine schwere Arbeit, bei der man die Norm einfach nicht erfüllen kann, und bestraft ihn dann für Nichterfüllung der Norm.

Alle Rechte des Häftlings gelten als Privilegien, die man ihm wieder wegnehmen kann. Lukjanenko und Mychajlo Horyn durften z. B. 1967 keinen Besuch von ihrer Familie erhalten, obwohl dies ihr Recht (und nicht etwa ein Privileg) war, das ihnen keiner nehmen konnte, genausowenig wie das Recht auf Ernährung. Ein einziger Familienbesuch im Jahr, und auch den können sie streichen! Zum Vergleich reicht nur die Erwähnung des Beispiels England, wo der Häftling das Recht hat, jede Woche Besuch von seiner Familie zu bekommen!

Einmalig ist auch das System der Erziehung durch Hunger. Stets haben politische Häftlinge Lebensmittelpakete in unbegrenzter Anzahl bekommen. Wir aber haben das Recht, nach Hälfte der Haftzeit »bei guter Führung« zwei Pakete im Jahr zu bekommen - muß das noch kommentiert werden?

Das Nahrungsminimum, festgesetzt von der Welternährungskommission, beträgt 2700 Kalorien, die Grenze des Hungers 2400. Ab da setzt die Degradierung der physischen und psychischen Fähigkeiten des Menschen ein.

Im Karzer, in dem ich sitze, beträgt die »erhöhte« Norm 2090 Kalorien. Aber es gibt auch eine herabgesetzte: nur 1324 Kalorien.

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Es geschieht also ein endloses Verbrechen im Laufe von Jahrzehnten. Wir sollten alle nicht vergessen, daß in Nürnberg nicht nur für Mord durch Eisen, sondern auch für Mord durch Hunger gerichtet wurde. Ob sich wohl das ukrainische Rote Kreuz wenigstens in dem Maße für die Verbrechen in Mordowien interessieren wird wie für die in Afrika?

Die Lagerernährung hat die Häftlinge krank gemacht. Hier tritt bereits ein weiteres Druckmittel in Aktion - die Medizin. Im übrigen bedarf es auch keinerlei Beziehung zur Medizin, um im Lager Arzt oder Feldscher zu sein. Im Lager Nr. 7 war Feldscher der ehemalige deutsche Hilfspolizist und vielfache Mörder Malychin (z. Z. im Lager 11). Er hat nicht nur keine medizinische, er hat überhaupt keine Bildung. Dafür hat er aber Verdienste vor dem KGB. So ist es allerdings nicht immer. Jetzt kuriert uns der Este Braun, er war vorher Krankenwagenfahrer. Man kann sagen, was man will, aber einen zufälligen Menschen in der Medizin kann man ihn nicht nennen!

In den Lagerregeln steht, daß die Häftlinge, die im Karzer sitzen, nicht von der medizinischen Versorgung ausgeschlossen sind. Aber was bedeuten schon die Regeln, wenn die Lagerärzte offen erklären: »Wir sind in erster Linie Tschekisten, dann erst Ärzte.«

Mychajio Masjutko leidet unter einer schweren Magenentzündung. Sein Zustand ist schlecht. Aber alle Versuche, seine Einweisung ins Hospital oder wenigstens eine Diät zu erreichen, schlugen fehl. Die KGB-Leute in den weißen Kitteln sagen: »Natürlich müßte man Sie einweisen, aber wir würden bestraft, wenn wir es täten!« - »Spritzen werden für dich nicht erlaubt!« - Und manche erklären unumwunden: »Hättest eben nicht herkommen dürfen.«

Damit ist natürlich das Arsenal der Lagermedizin bei weitem nicht erschöpft. Ist denn der hohe Prozentsatz an psychisch Kranken in den Lagern etwa ein Zufall? Die Untersuchung über die Rolle der Lagermedizin wartet noch auf ihren Autor.

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Die Kneifzange hält den Häftling auch nach seiner Entlassung fest. Zu Jarema Tkatschuk, verurteilt 1958 in Iwano-Frankiwsk, sagte Kapitän Krut: »Du wirst kein Leben haben, wenn du nicht zur Vernunft kommst. Wir werden es so einrichten, daß du keine Familie und kein Dach über dem Kopf hast.« Und mir selbst hat Kasakow versprochen, daß ich »es noch bereuen« werde.

Und das ist nicht bloße Abschreckung. 1957 wurde Danylo Schumuk (z.Z. im Lager 11) in Dnipropetrowskwegen »antisowjetischer Propaganda« verhaftet. Major Swerdlow vom republikanischen KGB gab unumwunden zu, daß die Beschuldigung rein formal sei. Es ging um etwas anderes. Schumuk war gerade entlassen worden, und man hatte ihn vor die Wahl gestellt, entweder wieder hinter Gitter zu kommen oder, als unverdächtiger, in ehemaligen Häftlingskreisen bestens beleumundeter Mann, Spitzel zu werden. Zwei Tage lang wurde Schumuk ohne Haftbefehl widerrechtlich bei der KGB-Leitung festgehalten und bearbeitet. Major Swerdlow erklärte: Wenn du einer Mitarbeit zustimmst, werde ich jetzt gleich, hier vor deinen Augen den Haftbefehl und die Protokolle vom Verhör zerreißen.«

Der Art. 173 des Strafkodex der USSR sagt, daß das »Heranziehen eines nachweislich Unschuldigen zur kriminellen Verantwortung ... verbunden mit der Beschuldigung eines besonders gefährlichen Staatsverbrechens ... mit Freiheitsstrafen bis zu 8 Jahren bestraft wird.«

Swerdlow wurde von niemandem verurteilt, weder zu 8 Jahren noch zu 8 Monaten - er hatte das Recht, ungestraft alle Gesetze zu verletzen. Er ist ja schließlich beim KGB.

Schumuk fuhr wieder nach Sibirien, um 10 Jahre Zwangsarbeit abzuleisten, weil er ein ehrlicher Mensch geblieben ist.

Und jetzt, vor seiner Entlassung, ruft Kapitän Krut den kranken Mann, der seine Gefängnislaufbahn bereits in der polnischen Defensive begann und 27 Jahre hinter Gittern verbracht hat, und verspricht: »Du wirst kein Leben haben«. Schumuk sitzt im Karzer »für die Anfertigung antisowjetischer Schriften«. So nennt das KGB seine Erinnerungen an das Erlebte: 5 Verhaftungen noch unter Polen, deutsches Kriegsgefangenenlager, Flucht und Fußmarsch durch die ganze Ukraine von Poltawa nach Wolhynien, abseits der Straßen, um der deutschen Feldpolizei nicht in die Hände zu fallen.*

* 1973 wurde Schumuk zu weiteren 10 Jahren Haft verurteilt 

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Wenn es darum geht, jemanden in den Karzer zu bringen, setzt man ihn nicht nur dafür rein, weil er »sich antisowjetisch ausdrückt«, sondern auch, weil er »antisowjetisch schweigt«.

Der Häftling Wowtschanski sitzt dafür, daß er »auf die Sowjetmacht böse ist« — so steht es wörtlich im Beschluß!

Um ins Lager zu kommen, braucht man immerhin eine »gefährliche Art von Gedanken«. Der Weg vom Lager in den Karzer ist schon viel einfacher — hier sitzt man, wie man sieht, nicht nur wegen seiner Gedanken, sondern auch wegen seiner Stimmung.

Masjutko, Lukjanenko, Schumuk und ich sitzen wegen unserer Beschwerden, die als »antisowjetische Schriften« gelten. Mychajio Horyn hat keine »Schriften« verfaßt, aber er sitzt trotzdem mit uns. Wofür? Kapitän Krut stellt fest, daß er bei ihm eine Rednernotiz von Iwan Dzjuba gefunden hat, gerichtet ans ZK der KPU. Bohdan Horyn fragte im Gespräch mit Lytwyn und Marussenko: »Ist eine Rednernotiz von Dzjuba ein antisowjetisches Dokument?« — »Nein.« — »Wofür sitzt mein Bruder dann?« — »Da liegt ein Mißverständnis vor.«

Es gab kein Mißverständnis, Horyn sitzt mit anderen deshalb im Karzer, weil sie die Wahrheit über die Vorgänge in der Ukraine mitgebracht haben und nicht vorhatten, darüber zu schweigen.

Es gibt Regeln im Lager, die vollständig aus den Zeiten Nikolaj Palkins stammen. Dem Maler Salywacha hat man das von ihm gemalte Portrait des lettischen Dichters Knut Skujenieks weggenommen und den Maler selbst gezwungen, sein Bild zu zerschneiden.

Hat eine solche Gesellschaft das Recht, Maos Rotgardisten zu kritisieren? Die uniformierten Roboter haben alle Bilder von Salywacha, die sie finden konnten, vernichtet und ihm die Farben weggenommen. Auf sein Verlangen, das Gesetz zu zeigen, das all das erlaubt, bekam der Maler die Antwort: »Ich bin für dich das Gesetz!« Der Korporal hat recht. Er ist die Inkarnation des Gesetzes, das noch aus den Zeiten Schewtschenkos stammt, der auch Mal- und Schreibverbot hatte.

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Das sind also die »Umerziehungsmethoden« des KGB. Und wie sieht das Resultat aus? Wie sehen die aus, die sich »gebessert« haben, die man uns als Vorbild hinstellt, die Paketsendungen und Drogen vom KGB bekommen?

Auf dem Festkonzert vor dem 1. Mai oder dem 7. November kann man sie alle versammelt sehen. Auf der Bühne steht eine seltsame Sammlung von Gesichtern, zerfurcht von allen möglichen Lastern, eine Palette von Verbrechern aller Couleur, wie einem Lehrbuch für Kriminalistik entnommen.

Darunter sind alle Kriegsverbrecher, die Tausende und Abertausende Judenkinder umgebracht haben, Triebverbrecher aller Arten, Süchtige, die sich sogar Katzenblut injizieren, wenn nichts anderes da ist. Sie sind der Chor. Feierlich erklingt »Die Partei — unser Steuermann«, »Lenin  — immer unter uns«.

Wenn auch nur ein KGB-Mann an die Ideale glauben würde, die zu verteidigen vorgibt - würde er so etwas zulassen?

Die »Willigen« gehen mit Abzeichen am Ärmel im Lager herum, auf denen steht SVP (Sekzija wnutrennowo porjadka -Sektion der Inneren Ordnung), also Hilfspolizei. Die Häftlinge lesen diese Buchstaben als »Sojus wojennych prestupnikow« (Verband von Kriegsverbrechern).

Kann man nach alldem noch ernsthaft behaupten, daß das KGB die Sowjetmacht verteidigt? Im Gegenteil, seine ganze Aktivität untergräbt und kompromittiert sie vielmehr, sie stößt den Menschen geradezu in die Opposition.

 

Der Finne Wilcho Forsel (z. Z. im Gefängnis von Wladimir) beendete sein Studium an der Universität von Petrosawodsk mit Auszeichnung und arbeitete im Karelischen Volkswirtschaftsrat. Er begleitete als Dolmetscher eine Delegation kanadischer Kommunisten durch Karelien. Danach verlangte das KGB von ihm, den Inhalt der Gespräche mitzuteilen, die die Kanadier mit verschiedenen Leuten geführt hatten. Forsel weigerte sich mit der Begründung, daß das Gesetz niemandem das Recht gebe, so mit ihm umzugehen. Darauf sagte man ihm: »Schön, Sie werden uns noch anflehen, mit uns zusammenarbeiten zu dürfen!« Einige Tage später verlor Forsel seine Arbeit und bekam nirgends neue. Wenn das ein Verbrechen ist, kann nur das KGB dafür bestraft werden!

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Churchill hat einmal gesagt: »Kein einziger Antikommunist hat so viel Schaden angerichtet wie Chruschtschow.« Niemand anders als die KGB-Leute haben von Chruschtschow den Schuh übernommen wie eine Staffel und schlagen mit ihm auf allen Tribünen in der UNO und außerhalb der UNO, wobei sie erfolgreich den Staat kompromittieren, den sie zu verteidigen vorgeben.

Bei Haussuchungen wird bei uns regelmäßig die »Erklärung der Menschenrechte« der UNO beschlagnahmt. Auf mein Verlangen, sie wiederzubekommen, sagte Krut: »Die Deklaration ist nicht erlaubt«. Der Helfer des Staatsanwalts, mit dem ich mich darüber unterhielt, gab zu, daß er sie nicht gelesen hat. Auf einer der »Politstunden«, die halbgebildete Offiziere mit Künstlern und Schriftstellern durchführen, diskutierten die Häftlinge mit dem Oberleutnant Ljubajev (Lager 11) und argumentierten mit der Deklaration. Darauf sagte er nachsichtig: »Aber das ist doch für die Neger!«.

Es ist schließlich überflüssig nachzuweisen, welche Taten den Kommunismus kompromittieren.

 

Poltorazky (einer der Redakteure der Zeitung Literaturna Ukrajina. - A.d.Ü.), der sich in letzter Zeit auf Maos Rotgardisten spezialisiert, zeigt genau, was man für eine »boshafte Karikatur, für den Versuch einer Diskreditierung der seit Jahrhunderten erträumten gerechten sozialistischen Gesellschaft« halten muß. Das ist nämlich vor allen Dingen Maos Befehl, »Schauspieler, Dichter, Gelehrte ... zur Umerziehung aufs Land, also gerade in diese Volkskommunen zu schicken. Man kann sich unschwer vorstellen, was mit einem bejahrten Gelehrten oder Schriftsteller geschieht, wenn er einige Tage lang, vor einen Pflug gespannt, ackern muß.« (Literaturna Ukrajina vom 24. 2. 1967) Man kann es sich wirklich leicht vorstellen. Poltorazkyj braucht nur nach Mordowien zu kommen und zu sehen, wie der zur Umerziehung hergeschickte Maler Salywacha Kohle in den Heizkessel wirft. Man hat ihm die Arbeit des Heizers gegeben, damit nach dieser Arbeit alle seine Wünsche abgetötet sind, bis auf den einen - zu schlafen.

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Als weitere Kompromittierung des Kommunismus gilt die Zwangsbekleidung der Leute mit Ballonmützen. »Es fiel sofort auf, daß die Arbeiterinnen in der Fabrik mit verschiedenfarbigen Kopftüchern oder ohne Kopftücher herumliefen. Keine Kopftücher trugen Schülerinnen und Frauen, die die Norm nicht erfüllten. Und nur die Frauen, die sie übererfüllten, durften rote Kopftücher tragen« (Naukaireligija Nr. 3,1967, S. 7).

Wenn sich das in Tjang-Tsing abspielen würde, würde Poltorazkyj sofort von Menschenverachtung sprechen. Aber man muß ihn enttäuschen: Diese Regelung gilt in der Textilfabrik in Ocha, in Kirgisien. Und wenn das so ist, kann natürlich von Menschenverachtung keine Rede sein. Das ist dann einfach eine Methode der Frauenemanzipation in Mittelasien.

Die Zeitung »Iswestija« (Nr. 78, 1967) schrieb, daß »die Maoisten den Marxismus-Leninismus offen herausforderten und die Assimilierung der nichtchinesischen Völker zu ihrem Ziel erklärten«. Wenn das eine »Herausforderung« des Marxismus-Leninismus ist, müssen auch so gelehrte Männer wie Agajew und Krawzew zu den Maoisten gezählt werden. Ihre »Werke« werden regelmäßig in Moskau und Kiew gedruckt. Der erste meint, daß alle Sprachen der UdSSR, außer der litauischen, der lettischen, der estischen, der grusinischen und der armenischen, keinerlei Perspektiven haben, also russifiziert werden sollen. Der zweite überzeugt die Ukrainer davon, daß »mit der Zeit gehen« bedeutet, ihre Muttersprache durch Russisch zu ersetzen.

Wie man sieht, ist Mao nicht der einzige Autor »boshafter Karikaturen und Versuche einer Diskreditierung der seit Jahrhunderten erträumten sozialistischen Gesellschaft«.

- Wenn man einen Menschen für seine »gefährliche Art zu Denken« verurteilt;
- wenn man dem Maler befiehlt, welche Farben er verwenden darf;
- wenn die Deklaration der Menschenrechte der UNO als witzloses Dokument gilt, obwohl sie von der Regierung ratifiziert wurde;
- wenn die ukrainische Sprache in der Ukraine von offiziellen Personen ungestraft »Banderasprache« genannt wird;

- wenn Leute, die gegen die chauvinistische Gewalt in der Ukraine kämpfen, hinter Gitter wandern, während die Welt eine Epoche der nationalen Wiedergeburten erlebt; dann ist all das eine Kompromittierung des Staates, der solche Erscheinungen zuläßt.

Und ihr Gipfel ist die Herrschaft der Nachkommen Berijas über das Geistesleben der Gesellschaft. Ekelerregend ist eine Gesellschaft, in der philosophische Probleme von Straforganen hinter Stacheldraht gelöst werden.

Ein Verbrechen ist ein Verbrechen, ihm folgt unausbleiblich die Rache. Für die Erschossenen und durch Hunger Getöteten wird man sich verantworten müssen, entsprechend der Verfassung, die eines Tages doch noch Gesetz werden wird. Und auch für den Roboter, fähig, einen Menschen seelenruhig mit der Pike zu durchbohren, wird sich der verantworten müssen, der seine Seele beraubt hat, der ihm das Menschliche entzogen hat. Die Wahrheit hat einen langen Arm!

15. April 1967

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