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Kapitel 6  ---  Ökologisches Gewissen in der Theorie

 6.2 Angst 

6.1 Ökologisches Gewissen als Postulat

 wikipedia  Postulat

 

Rekapitulieren wir die bis hierher zurückgelegte Reise: Ausgehend von der Diagnose, daß die Zukunft der Menschheit bedroht ist durch eine selbst­verschuldete ökologische Krise unvorstellbaren Ausmaßes (Kap. 1) wurde nach Ursachen und Lösungs­möglich­keiten der Krise gefragt (Kap. 2). Nach interdisziplinären Analysen stellte sich heraus, daß die ökologische Krise Ausdruck einer kulturellen Krise ist, die sich im Laufe von Jahrhunderten, wenn nicht Jahrtausenden entwickelt hat.

Zu den wichtigsten Symptomen der ökologischen Krise zählen das Bevölkerungswachstum in der sog. Dritten Welt und das Anspruchs­wachstum in der sog. Ersten Welt. Dementsprechend kann die Suche nach Auswegen aus der Krise in mindestens zwei Richtungen gehen, die als zwei Seiten einer Medaille beschrieben werden können. So gilt es, sowohl die sichtbare Umweltzerstörung zu bekämpfen, also z.B. im Zusammenhang mit dem Bevölk­erungs­wachstum die Frage zu stellen, wie einer weiteren Vermehrung der Menschheit Einhalt geboten werden kann, als auch die inneren Voraussetzungen zu hinterfragen, welche die Grundlage für den ständige Expansion der menschlichen Bedürfnisse sind, die zur Umweltzerstörung führen.

Die Suche nach Antworten auf die letztgenannte Frage wurde als eine Aufgabe der Geistes- und Sozialwissenschaften verstanden. Als eine Chance, sich aus dieser Perspektive der ökologischen Krise zu nähern, wird in der vorliegenden Arbeit die Ausbildung eines ökologischen Gewissens postuliert. Es wird angenommen, daß ein solches Gewissen angesichts der vorausgesagten Katastrophen in der Zukunft insbesondere bei der jüngeren Generation anzutreffen ist.

So waren die Kapitel 3 und 4 dem Konstrukt des Gewissens und der heutigen Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen gewidmet. Als ein angesichts der "Nichtfaßbarkeit" des Gewissens überraschendes Ergebnis zeigte sich, daß der Begriff des Gewissens in relativ vielen Wissenschafts­disziplinen eine Rolle spielt, so z.B. in der Philosophie, der Theologie, der Politik- und Rechtswissenschaft, der Psychologie und der Pädagogik, wobei historisch gesehen jedoch eine Abnahme der Bedeutung zu konstatieren ist. Eine einheitliche Definition existiert nicht, Begriffs­bestimmungen werden überhaupt nur selten gewagt.

Versucht man, die einzelnen Perspektiven zusammenzufassen, so läßt sich das Gewissen beschreiben als eine ethische, verhaltens­bestimmende Instanz im Menschen, ein Bewußtsein mit emotionaler und kognitiver Komponente, das sowohl als anlage- wie auch als sozialisationsbedingt angenommen wird. Alle genannten Charakteristika lassen sich auch problemlos auf die Annahme eines ökologischen Gewissens übertragen. 

Das Subjekt der Untersuchung, Kinder und Jugendliche, wurde ebenfalls aus multidisziplinärer Sicht im Hinblick auf das Umweltthema beschrieben. Dabei vertrat Petri (1991) aus medizinischer und psychoanalytischer Perspektive die These von der "vergifteten Kindheit". Daß die Umweltzerstörung für viele Kinder und Jugendliche heute ein wichtiges Thema ist, darauf verweisen nicht nur zahlreiche Jugendstudien, sondern auch die diversen Initiativen, die oft von der jungen Generation selbst ausgehen.

Einen Überblick über Forschungsbefunde zum ökologischen Erleben und Handeln gab das Kap. 5., wobei einige zentrale Ansätze vorgestellt wurden. Der Mainstream beschäftigt sich dabei mit dem Konstrukt des Umweltbewußtseins und versucht die Diskrepanz zwischen Wissen und Handeln zu überbrücken. Erlebnisorientierte Sichtweisen sind seltener zu finden, obwohl sie immer wieder von verschiedenen Autoren angemahnt werden, weil die herkömmliche Umweltbewußtseinsforschung eine Reihe von Defiziten aufweist: 

Neben der mangelhaften Varianzaufklärung umweltbewußten Verhaltens und einer verengten kognitiven Ausrichtung ist die methodische Einseitigkeit und die Begrenzung der Zielvariable auf ökologisches Verhalten zu nennen. In den meisten Untersuchungen geht es nur um die individuelle Verhaltensebene, gesellschaftspolitisches Handeln wird kaum in Betracht gezogen. Es wäre schon viel gewonnen, wenn psychologische Herangehensweisen auch soziologische Überlegungen berücksichtigen würden. Menschen denken und handeln schließlich nicht in isolierten Räumen, vielmehr lassen sie sich auch von globalen und gesellschaftlichen Entwicklungen beeinflussen.

Unter dem Titel "Vom Katastrophenwissen zum Umweltbewußtsein" versucht Stenger (1990, S.177ff) mit einigen grundsätzlichen Überlegungen eine Brücke zwischen Psychologie und Soziologie zu schlagen. Dabei wird der Frage nachgegangen, welche gesellschaftlichen Bedingungen die Entwicklung von Umweltbewußtsein bestimmen. Im Mittelpunkt der meisten im Kap. 5 vorgestellten Ansätze stand die Frage, unter welchen Bedingungen beim einzelnen Menschen Umwelt­bewußtsein entsteht. Ausgehend von der These, daß ein ökologisches Katastrophenwissen für sich genommen ohne Handlungsrelevanz ist, postuliert Stenger, daß "die primäre Evidenz in der Entwicklung eines Umweltbewußtseins die Form emotionaler Erkenntnis hat" (S.184).

Grundlage für eine emotionale Betroffenheit sei das Erleben einer Bedrohung: "Die Wahrnehmung der Umwelt als bedroht und in ihren Auswirkungen das Subjekt selbst 'am eigenen Leibe' gefährdend, kennzeichnet den Motivationskern des Umweltbewußtseins" (S.180). Erst ein derartiges Verständnis von Umweltbewußtsein, das sich von einem reinen Katastrophenwissen erheblich unterscheidet und in diesem Sinne kein Gegenstand der Vernunft ist, biete die Grundlage, gesellschaftliches ökologisches Handeln als Zusammenspiel von Angst und Zivilisation zu konstituieren (vgl. Dreitzel in Kap. 6.2). Umweltbewegungen zeichnen sich nach Stenger dadurch aus, daß sie durch ein über reines Katastrophenwissen hinausgehendes Umweltbewußtsein die zivilisationsbedingten Lähmungen überwinden und "über die Produktion von Öffentlichkeit das politische System unter Handlungsdruck setzen können" (S.190).

Wie bereits in der Einleitung der vorliegenden Arbeit festgestellt wurde, heißt Umweltbewußtsein haben noch lange nicht umweltbewußt sein (vgl. Wiedrich 1996). Mit dem Postulat des ökologischen Gewissens wird in diesem Sinne der Versuch unternommen, Voraussetzungen für ein umweltbewußtes Sein zu klären. Philosophisch wird davon ausgegangen, daß das Sein und das Bewußtsein sich in einem wechselseitigen, dynamischen Prozeß befinden. Ein Blick auf die Anfänge der Umweltbewußtseinsforschung Mitte der 70er Jahre ruft uns in Erinnerung, daß die Zielvariable ökologisches Handeln anfänglich nicht so sehr im Sinne von einzelnen Verhaltensweisen, sondern im Sinne von politischem Engagement verstanden wurde. So konzentrierte sich die als "Prototyp aller Instrumente zur Erfassung des verbalisierten Umweltverhaltens" von de Haan (1996, S.40) gewürdigte Skala von Maloney und Ward (1975) weniger auf das Konsumentenverhalten, das heute fast ausschließlich im Mittelpunkt des Interesses steht, sondern überwiegend auf gesellschaftlich-politisches "Verhalten", das mit Items wie "I have never attended a meeting related to ecology" oder "I have never written to a congress-man concerning the pollution problems" (vgl. Maloney 1973) erfaßt wurde.

Reicht das herkömmliche Umweltbewußtseins-Konzept schon zur Vorhersage umweltweltfreundlicher Verhaltensweisen nicht aus, so kann dies erst recht für ökologisches Handeln im Sinne eines politischen Engagements in einer Gruppe angenommen werden. Hier ist vielmehr davon auszugehen, daß bei der Entscheidung, aktiv zu werden, emotionale Faktoren verstärkt eine Rolle spielen. Angst vor der Umweltzerstörung könnte Menschen z.B. auf eine politische Demonstration führen, sie ist dagegen wahrscheinlich weniger wichtig, wenn es darum geht, den eigenen Abfall zu recyceln. 

Hierbei handelt es sich allerdings nur um Vermutungen, denn es liegen keine einschlägigen Studien über Umweltaktivisten vor (vgl. de Haan 1996, S.130). Die wenigen empirischen Befunde sprechen aber dafür, daß Menschen, die in Umweltgruppen aktiv sind, von denen, die nicht aktiv sind, weniger hinsichtlich der perzeptierten Umweltbelastung zu unterscheiden sind als vielmehr durch das Ausmaß, in dem sie sich durch zukünftige Entwicklungen bedroht fühlen. Emotionale Betroffenheit ist nicht selten der entscheidene Auslöser von politischem Widerstand: "Motor der modernen Bürgerbewegungen ist die Zukunftsangst" (Fietkau 1979, S.45). 

Ein ökologisches Gewissen, das bei ökologisch Engagierten angenommen werden kann, sollte daher die emotionale Seite des Menschseins miteinbeziehen. Nicht nur bei ökologisch Engagierten, sondern auch bei Kindern kann ein ökologisches Gewissen angenommen werden, das emotional gefärbt ist. Ein rein kognitives Verständnis von Umweltbewußtsein, das sich primär über Umweltwissen definiert, könnte dagegen versucht sein, Kindern ein ökologisches Bewußtsein abzusprechen.

Nicht nur im Umweltschutz, auch in anderen Gesellschaftsbereichen scheint die Dichotomie von Emotionalität und Rationalität, das alte Gegenüber von Herz und Verstand, immer mehr als Problem ins Blickfeld zu rücken. Die modernen Kognitionswissenschaften, v.a. die Hirnforschung, liefern uns jedoch faszinierende Erkenntnisse über das hochkomplexe Zusammenspiel von Denken und Fühlen. Auf der Grundlage dieser Forschung plädiert der amerikanische Psychologe Daniel Goleman (1996) dafür, die etablierte Intelligenzforschung um das Konzept der "emotionalen Intelligenz" zu erweitern. 

Unter emotionaler Intelligenz versteht Goleman die "Metafähigkeit, von der es abhängt, wie gut wir unsere sonstigen Fähigkeiten, darunter auch den reinen Intellekt, zu nutzen verstehen" (1996, S.56). Nach ersten Befunden scheint die emotionale Intelligenz unabhängig von der akademischen Intelligenz zu sein. Als grundlegende Fähigkeit der emotionalen Intelligenz wird die Selbstwahrnehmung angesehen. Das Konzept der emotionalen Intelligenz wurde erstmals vorgetragen von Salovey und Mayer (1990). Goleman interpretiert das Konzept als "ein drängendes moralisches Gebot", um "unserer kollektiven emotionalen Krise Herr zu werden" (Goleman 1996, S.11/12). Ohne emotionale Intelligenz gebe es keine Fürsorge und kein Mitgefühl und "in jedem Fall zeigt sich, daß die Emotion ein effektives Handeln anzuleiten vermag" (1996, S.126).

Angesichts der enormen Bedeutung, die neuerdings den Emotionen selbst in der Intelligenzforschung, die auf eine lange Tradition zurückblicken kann, beigemessen wird, fällt eine Übertragung auf den Bereich der Umweltbewußtseinsforschung nicht allzu schwer. Allerdings mag es anachronistisch anmuten, ausgerechnet im Rahmen des uralten und als unwissenschaftlich geltenden Gewissenskonzepts eine Etablierung der Rolle der Emotionen zu versuchen.

Gerade erst hat Thiele-Dohrmann (1991) resigniert die allmähliche Auflösung unserer moralischen Instanz ausgerufen: "Abschied vom Gewissen?" - Eine Renaissance des Gewissens deutet sich jedoch jüngst gerade im Kontext mit der ökologischen Krise an. Die Recherchen ergaben immerhin zwei Publikationen, die diesen Neologismus handhaben: Zum einen postuliert Weinzierl (1993), Vorsitzender des BUND (Bund für Umwelt- und Naturschutz Deutschland), "Das grüne Gewissen". Das Buch ist ein beeindruckendes Pamphlet der Ökologiebewegung, es ist allerdings auf der Suche nach einer Begriffsbestimmung leider unbrauchbar, da das "grüne Gewissen" mit Ausnahme des Titels nicht einmal erwähnt, geschweige denn definiert wird. 

Wissenschaftlich ebenso unbefriedigend ist die andere Publikation mit dem Titel "Ein schlechtes ökologisches Gewissen ist ein schlechter Motor fürs Handeln" (Forkel 1993, S. 178ff.). Auch hier finden wir keine Erklärung des Konstrukts, stattdessen vier sog. "Thesen zum guten ökologischen Gewissen" aus pädagogischer Sicht: "Glückliche Menschen machen weniger kaputt", "Weniger ist manchmal mehr", "Positive Zukunftsvisionen entwickeln" und "Die innere Wildnis entdecken" (Forkel 1993, S.186ff.). Interessant sind die Antipoden eines "guten" und eines "schlechten" Gewissens, die eine gewisse Tradition zu haben scheinen (vgl. Kap. 3).

Eine weitere Abhandlung zum Thema lohnt, etwas ausführlicher erwähnt zu werden: Unter der Überschrift "Die Entsorgung des Gewissens" fragt Finck (1993), warum wir uns so schwer tun, die ökologische Bedrohung wahrzunehmen, obwohl die Situation "vielen Menschen im Prinzip völlig klar" sei (S.30). Als ein wesentlicher Faktor wird das "Nichtwahrhabenwollen der individuellen Verantwortlichkeit" herausgestellt: 

"Wer darüber nachdenkt, wie sehr sein Verhalten als einzelner und die galoppierende Öko-Katastrophe miteinander verwoben sind, lernt das Gruseln: Jeder einzelne verfilzt sich täglich in ein Netz von Mitverantwortung und Mitschuld am Ruin kleinerer und größerer Öko-Systeme. Mit dem Kauf einer Banane stillt er nicht nur seinen Hunger, sondern finanziert Pestizideinsatz, Monokultur, das menschliche Leid vertriebener Kleinbauern, aufwendiger Verpackung, Kühlung und Interkontinentaltransport gleich mit. Eine ähnliche Schleimspur ökologischer Zerstörung hinterläßt nahezu jedes andere Ding, das man kaufen kann beziehungsweise zum Überleben kaufen muß" (S.31). 

Angesichts des unweigerlich schlechten Gewissens suche man nach einem Sündenbock und finde ihn z.B. in Gestalt von Umweltschützern und ihrer weltfremden Moral und ihrer Besserwisserei. Ablaßhandel wie Geldspenden an Umweltschutzorganisationen diene ebenso zur Entlastung von Schuldgefühlen wie das Zurschaustellen vermeintlich ökologischer Gesinnung, wie es ADAC-Mitglieder mit der von ihrem Verkehrsclub gratis ausgeteilten Plakette "Ich bin Energiesparer" praktizieren (vgl. Finck 1993, S.32).

Dennoch kann auch ein entsprechender Aktivismus nicht die Fragen des Gewissens verhindern: "Wenn Industrie, Staat, Wissenschaft und Technik uns keinen Weg aus der ökologischen Krise zeigen können, wer dann? Gott? Die 'Selbstheilungskraft' der Natur? Eine Seuche, die die Weltbevölkerung drastisch dezimieren würde?" (Finck 1993, S.33). 

Letztlich führe kein Weg vorbei an der Erkenntnis, daß sich unser Bewußtsein verändern muß, wenn sich unser Umgang mit der Natur verändern soll: "Damit landet der Schwarze Peter wieder bei jedem einzelnen. Die Hoffnungsträger, das sind wir alle. Wir können die Verantwortung für unsere Zukunft auf niemanden abschieben. (...) Also bleibt nichts, als bei sich selbst anzufangen, ernst zu machen mit der Verantwortung für die Biosphäre zumindest im eigenen Einflußbereich".  

Finck fügt unterstreichend hinzu, daß der individuelle Einflußbereich jedoch über den eigenen Dunstkreis hinaus erweitert werden muß, um die ökologischen Krise wirklich wirksam anzugehen: "Was traditionell unter der Kategorie 'Umweltbewußtsein' verstanden wird - das Klo mit Essig putzen, Küchenabfälle kompostieren, den Garten verwildern lassen - genügt angesichts der Größe der Aufgabe nicht" (Finck 1993, S.34). Dem ist nichts hinzuzufügen (vgl. Kap. 1).

Muß das Gewissen eigentlich immer mehr oder weniger als "Last" empfunden werden? Oder kann ökologisches Gewissen vielleicht auch als positive Kraft verstanden werden? In den folgenden Kapiteln wird das ökologische Gewissen als ein Superkonstrukt vorgestellt, das drei philosophische Grundprinzipien miteinander verbindet bzw. in sich vereinigt. Es handelt sich um das "Prinzip Angst" (Anders), das "Prinzip Hoffnung" (Bloch) und das "Prinzip Verantwortung" (Jonas). Nach der Grundlegung dieser Prinzipien werden wir die Frage beantworten, warum uns gerade diese drei Prinzipien besonders gut geeignet für die Konstituierung eines ökologischen Gewissens erscheinen, und eine Operationalisierung des Modells vornehmen, um die Voraussetzungen für eine empirische Überprüfung zu schaffen.

 

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6.2  Das "Prinzip Angst" (Anders)  

"Angst vor der Angst, wir schlafen ein."
 Herbert Grönemeyer (1986)   

 

Angst (lat. angustus = eng) ist heute ein universeller Begriff, wie ein Blick in das Verzeichnis lieferbarer Bücher 1993 zeigt: Dort gibt es: 

"Angst und Aufbruch", "Angst und Frieden", "Angst und Gehorsam", "Angst und Hoffnung", "Angst und Sicherheit", "Angst und Triumph", "Angst und Übermut", "Angst und Zuversicht", es gibt "Die Angst des Kindes vor dem Zahnarzt", "Die Angst des Lehrers vor dem Schüler", "Die Angst des Tormanns vor dem Elfmeter", "Angst vor Europa", "Angst vor großen Zahlen", "Angst vor Großmeistern", "Angst vor Gruppentherapie", "Angst vor Klassenarbeiten", "Angst vor dem leeren Blatt", "Angst vor Pfarramtsführung", "Angst vor Physik", "Angst vor dem Studienbeginn", "Angst vor Wechseljahren" und "Angst nach Tschernobyl". 

Es gibt "Leben ohne Angst" und "Sterben ohne Angst", es gibt Fragen wie z.B. "Wer hat Angst vor'm schwarzen Mann?" oder "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?" und Appelle bzw. Antworten wie "Angst - ach was!", "Umarme deine Angst!" oder "Wirf' die Angst weg, Helene!".

Schließlich gibt es auch "Das Geschäft mit der Angst", "Die liebe Angst", "Die nackte Angst", "Angsthasen" und "Männer ohne Angst für Frauen von Format" auf dem Buchmarkt zu haben. 

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"In der Welt habt ihr Angst" heißt es schon in der Bibel und in der Tat scheint ein Leben ohne Angst kaum vorstellbar, auch wenn es gerne proklamiert wird (siehe oben). In diesem Kapitel wollen wir uns der Angst nähern und sie als existentielles "Prinzip" verstehen, als "ein unentbehrlicher Motor für jede Form von Entwicklung und Veränderung" (Petri 1987, S.16).

Rosemeier unterscheidet in seinem medizin-psychologischen Lehrbuch verschiedene Angstkategorien (1991, S.31): "Furcht ist ein adäquates Angstgefühl, eine situationsangemessene Flucht- oder Vermeidungsreaktion bei tatsächlicher Gefahr (Realangst). Im Gefühl der Angst ist der kognitive Mechanismus antizipierter Bedrohung ausschlaggebend. Deshalb sind ängstliche Emotionen häufig verbunden mit Erwartungen an noch nicht eingetretene Situationen (vor der Prüfung oder im Wartezimmer). Körperliche Verspannungen sind oft angstgetönt. Verlustängste vor Trennungen oder wesentlichen Veränderungen, vor anderen life-events, treten klassischerweise auf. 

Situationen mit mangelndem Bewegungsspielraum führen im Sinn eines 'Ausgeliefertseins' zu Panik, im Stuhl eines Zahnarztes oder in der intimen Nähe einer Beziehung können Fluchttendenzen auftreten. Die Objektphobie ist auf einen angsterregenden Gegenstand eingeengt, zum Beispiel eine Spritze bei Kindern oder Dunkelheit beim Einschlafen oder die Angst vor Spinnen oder Schlangen. (...) Die Phobie ist eine neurotische, exzessive Angstreaktion mit extremen Vermeidungsreaktionen mit massiven krankmachenden Folgen für das individuelle Leben" (Hervorhebungen bei Rosemeier).

Die Abgrenzung von Angst als unspezifische und Furcht als spezifische Reaktion geht auf den dänischen Existenzphilosophen Sören Kierkegaard (1813-1855) zurück. Auch Sigmund Freud (1856-1939) hat auf diese Unterscheidung zurückgegriffen. In "Jenseits des Lustprinzips" beschreibt er die unterschiedlichen Qualitäten von Angst, Furcht und Schreck wie folgt: 

"Schreck, Furcht und Angst werden zu Unrecht wie synonyme Ausdrücke gebraucht; sie lassen sich in ihrer Beziehung zur Gefahr gut auseinanderhalten. Angst bezeichnet einen gewissen Zustand wie Erwartung der Gefahr und Vorbereitung auf dieselbe, mag sie auch eine Unbekannte sein; Furcht verlangt ein bestimmtes Objekt, vor dem man sich fürchtet; Schreck aber benennt den Zustand, in den man gerät, wenn man in Gefahr kommt, ohne auf sie vorbereitet zu sein, betont das Moment der Überraschung" (Freud 1920, S.10). 

Nach Johann (1992) wird die Unterscheidung zwischen Angst und Furcht im Gegensatz zu den philosophisch- geisteswissenschaftlichen in den psychologisch-naturwissenschaftlichen Betrachtungen kaum mehr verwendet, da in beiden Fällen gleichartige Reaktionsmuster auftreten.

Die "Psychologie der Angst" (Levitt 1987) setzt sich u.a. mit Angsttheorien (psychoanalytischen, lerntheoretischen, kognitiven), mit Angstabwehr­mechanismen (Vermeidung, Verleugnung, Verdrängung etc.), mit Angstmessungen (physischen und psychischen) und mit dem Zusammenhang von Angst und Persönlichkeit (Represser-Sensitizer-Typen) auseinander. Eine weitere Differenzierung zum Phänomen der Angst hat Spielberger (1966) eingeführt, der Angst als "trait" (Zustand) und "state" (Zustand) bestimmt. Schwarzer (1981) definiert Angst als die Besorgtheit und Aufgeregtheit angesichts von Anforderungssituationen, die subjektiv als bedrohlich erlebt werden. Angst wird anhand verschiedener Äußerungen erkannt und erschlossen, nämlich der sprachlichen Mitteilung, dem sichtbaren Verhalten, der Erregung und dem Ausdruck. 

Häufig stimmt der eine Indikator nicht mit den anderen überein, so daß eine gültige Diagnose sehr schwierig ist. Folgt man den heute vorherrsch­enden kognitiven Ansätzen, so ist im Zweifelsfall die sprachliche Mitteilung der beste Indikator - vorausgesetzt die Befragten sind willens und in der Lage, über ihre Empfindungen auf veridikale Weise Auskunft zu geben. 

Schwarzer unterscheidet Leistungs-, Sozial- und Existentialangst. Im Unterschied zu den beiden erstgenannten Angstformen entwickelt sich Existentialangst nicht aufgrund von Selbstwertbedrohung. Existentialangst ist die "Besorgtheit und Aufgeregtheit angesichts von Ereignissen, die als eine Bedrohung der Lebensqualität oder der körperlichen Unversehrtheit eingeschätzt werden" (Schwarzer 1984, S.14, zit. nach Neuberger 1992, S.21). Ängste können höchst privater Natur sein und nur wenige Menschen betreffen. Gesellschaftlich relevante Bedrohungen erzeugen jedoch Ängste in weiten Teilen der Gesellschaft. So entstehen kollektive Ängste, die nach kollektiven Coping-Strategien rufen. Im Zusammenhang mit der fortschreitenden Umweltzerstörung ist das Entstehen einer kollektiven, existentiellen Angst plausibel (vgl. Schwarzer 1984).

Johann (1994) unternimmt in ihrer empirischen Arbeit zur "Angst vor der Umweltzerstörung" den Versuch, Umweltängste anhand der vorliegenden, theoretischen Angstkonzepte zu erklären. So verweist sie auf den Signalcharakter, der der Umweltangst infolge eines kritischen Umweltbewußtseins und Erkennens der Bedrohungssituation zukommt. Mit Bopp (1987) bezeichnet sie die ökologische Angst als "Endzeitangst", eine Erwartung von Zerstörung und Untergang, die nicht selten von Schuldgefühlen begleitet ist: 

"Genährt wird diese Angst durch die Undurchschaubarkeit, Mehrdeutigkeit und enorme Komplexität des Problemkreises der Umweltzerstörung. Die daraus resultierenden, eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten des Einzelnen stellen einen weiteren Aspekt dieser Angst dar. Die Gefahr physischer und ideeller Verluste und Beeinträchtigungen und die hinzukommende Unsicherheit des möglichen Eintretens der Bedrohung zählen zu den elementarsten Auslösern von Angst. Durch die Mitschuld und Verantwortlichkeit jedes Einzelnen an der nun zur Bedrohung gewordenen Umweltsituation ist auch der oft zitierte Zusammenhang zwischen Angst und Schuld gegeben; das Problem gewinnt dadurch absurden Charakter" (Johann 1994, S.36).

Hinsichtlich der Frage nach Erklärungsansätzen der Auswirkungen existentieller Angst, wie sie durch die ökologischen oder atomaren Bedrohungen zum Ausdruck kommen, verweist Johann auf Boehnke u.a. (1988), die zur Klärung dieser Frage drei theoretische Ansätze heranziehen. Dabei geht der sozial-psychiatrische Ansatz auf Lifton (1967) zurück, der bei seinen Untersuchungen mit den Überlebenden von Hiroshima das Phänomen des "psychic numbing" entdeckte, worunter eine psychopathologische Schockreaktion verstanden wird, die von einem Zusammenbruch der normalen Selbststeuerungskräfte begleitet wird und sich in einem minimalisierten Affekt äußert. 

Kritisch zu hinterfragen ist, ob antizipierte Bedrohungen ebenfalls "psychische Taubheit" hervorrufen können. Psychoanalytische Erklärungs­ansätze gehen dagegen von der Aktivierung diverser Abwehrmechanismen aus. Richter (1982) und Petri (1985) weisen z.B. auf den Aspekt der Projektion hin. Streßtheoretische Ansätze sind schließlich auf die Streßtheorie von Lazarus (1966) zurückzuführen. Lazarus geht davon aus, daß nicht bereits ein Streßreiz als solcher, sondern die kognitive Würdigung einer wahrgenommenen Bedrohung, die sowohl eine Einschätzung der eigenen affektiven Tangiertheit, als auch eine antizipierende Reflexion möglicher streßreduzierender Handlungsoptionen umfaßt, zentral für die Streßverarbeitung ist. Problematisch erweist sich bei dem streßtheoretischen Ansatz "die mangelnde Objektivierungsmöglichkeit von Umweltsituationen als Streßpotentiale" (Johann 1994, S.51).

"Umgang mit Angst" ist auch das Thema eines Buches von Richter (1992), der ausgehend von den menschlichen Grundängsten der Todes- und Trennungsangst (vgl. Petri in Kap. 5.7) diverse persönliche (z.B. Versagens- und Verfolgungsangst) und gesellschaftlich-politische (z.B. Fremden- und Kriegsangst) Ängste analysiert und schließlich zur sog. Endzeitangst in Form von "Weltangst" kommt. Unter ihr versteht Richter, der sich ähnlich wie Petri mit Ängsten von Kindern und Jugendlichen intensiv auseinandersetzt, 

"die Angst vor der konkreten Bedrohung durch Umweltzerstörung und voraussehbare verheerende Kriege auf einer überbevölkerten Erde. Es ist die Angst vor Verlust aller Geborgenheit, Abkoppelung von einer heilen, versorgenden Natur - also Trennungsangst im weitesten Sinne. Es ist aber auch Gewissensangst im Bewußtsein, die katastrophalen Gefahren aus einem maßlosen kollektiven Egoismus heraus selbst zu produzieren; (...) Und mit dieser Angst verbindet sich in neuer Form ein Gefühl von Sinn- und Heillosigkeit, wie es herrschte, als die mittelalterliche Glaubenswelt unterging" (1992, S.305). 

Richter nennt als Bedingung für einen erfolgreichen Umgang mit Weltangst den Wandel einer fundamentalen Lebenseinstellung, der in einen kulturellen Allmachtswahn (den sog. "Gotteskomplex", vgl. Richter 1979) münde. Ein erster Schritt für ein neues Verhältnis zum Leben sei die Wiedergewinnung des Todes, die nach Lifton heutzutage durch die Schwierigkeit bestimmt ist, daß wir in diese Vorstellung den Massentod und die Möglichkeit der totalen Auslöschung mit einbringen müssen, wenn wir unsere Vitalität und Visionen aufrechterhalten wollen (Lifton 1966). Ein heilvoller Umgang "mit der legitimen und höchst realistischen Weltangst unserer Tage" erfordere nach Richter 

"zuallererst eine Rehabilitation der Sensibilität, die diese Angst zuläßt, und Entlarvung der Fatalität der konventionellen Verdrängung. (...) Er verlangt, die Angst vor der gewaltigen Schuld ernst zu nehmen, die es bedeutet, die Zukunft durch ausbeuterischen Egoismus der heutigen Privilegierten der Industrieländer zu bedrohen. Und er verlangt, sich den vergleichsweise kleineren Ängsten auszusetzen, sich durch Engagement unbeliebt zu machen, durch unstandesgemäßes Verhalten Anstoß zu erregen und Autoritäten (als falsche Gewissens-Substitute) herauszufordern" (Richter 1992, S.310).

 

Mit der "doppelten Rolle" der Angst vor der Umweltzerstörung als Voraussetzung für die Entwicklung eines ökologischen Bewußtseins und als Hemmschuh für das entsprechende Handlungspotential setzt sich Dreitzel (1990) aus soziologischer Sicht in seinem Beitrag mit dem Titel "Angst und Zivilisation" auseinander. Im Zusammenspiel von Angst und Zivilisation als Antwort auf die Frage nach der Umsetzung von Umweltbewußtsein in Umweltverhalten wird der "wichtigste Beitrag" gesehen, "den die Soziologie zum Verständnis und zur Abwehr der katastrophalen Entwicklungen leisten kann" (S.29). 

Nach Elias (1976) bildet sich im Prozeß der Zivilisation eine "Selbstzwangsapparatur" heraus, die den Ausdruck von Gefühlen von innen her hemmt. Mögen die Urteile des Verstandes zwar differenzierter sein als die des Gefühls, an motivierender Kraft bleiben sie weit hinter jenen zurück, denn "Fühlen heißt Involviertsein" (Heller 1980). Auch Gefühle haben einen kognitiven Kern, sind sie doch Urteile des Körpers über die jeweilige Lage des Individuums. Obwohl die ökologische Angst ein allgegenwärtiges Gefühl sei, werde sie aber kaum je voll zugelassen erlebt, sie "legt sich deshalb wie ein Smog über die Seelen; sie verbreitet sich als ein tiefes Unbehagen universal im Gefolge des Fernsehschirms und wird dort am klarsten empfunden, wo wir es am wenigsten erwartet hatten - bei den Kindern der reichen Länder" (Dreitzel 1990, S.33/34, vgl. Biermann & Biermann 1988). 

Als notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung zur Abwehr bzw. Veränderung katastrophaler Entwicklungsprozesse sieht Dreitzel die "Entwicklung einer reflexiven Sinnlichkeit" (S.44) durch die "Wiederbelebung der betäubten Sinne" (S.188). Der Angst komme dabei eine zentrale Rolle zu, auf Dauer sei sie unerträglich, was zu einer Abwehr und Verhinderung der notwendigen Sensibilisierung führe. Im Gegensatz zur Angst sei Furcht (Dreitzel rekurriert auf Kierkegaards Abgrenzung der Begriffe, siehe oben) mit Flucht oder Kampf verbunden: "Und wo die Flucht verwehrt ist, wie bei weltweiter Bedrohung, wird der offene Konflikt psychologisch zur Befreiung, politisch zum notwendigen Motor der Veränderung" (Dreitzel 1990, S.45).

Jonas (1979) hat die Furcht zu einer ethischen Pflicht der technologischen Zivilisation erhoben: "In einer solchen Lage, die uns die heutige zu sein scheint, wird also die bewußte Anstrengung zu selbstloser Furcht, in der mit dem Übel das davor zu rettende Gute sichtbar wird, mit dem Unheil das nicht illusionär überforderte Heil - wird also Fürchten selber zur ersten, präliminaren Pflicht einer Ethik geschichtlicher Verantwortung werden. Wen diese Quelle dafür (...) nicht vornehm genug für den Status des Menschen dünkt, dem ist unser Schicksal nicht anzuvertrauen."  

In einer Anmerkung führt Jonas diese Anspielung auf Bloch, der die Furcht als Folge der "Traumlosigkeit nach vorwärts" abqualifiziert, aus und erinnert an Hobbes, der die Furcht zum primum movens der Vernunft in Sachen des Gemeinwohls machte. Jonas, dem es im Gegensatz zu Hobbes um eine selbstlose Furcht geht, vertritt im Unterschied zu Bloch folgenden Standpunkt: "Wir unsererseits fürchten nicht den Vorwurf der Kleinmütigkeit oder Negativität, wenn wir derart Furcht zur Pflicht erklären, die sie natürlich nur mit Hoffnung (nämlich der Abwendung) sein kann: begründete Furcht, nicht Zaghaftigkeit; vielleicht gar Angst, doch nicht Ängstlichkeit; und in keinem Falle Furcht oder Angst um sich selbst. Der Angst aus dem Wege zu gehen, wo sie sich ziemt, wäre in der Tat Ängstlichkeit" (Jonas 1979, S.392). 

Angst um die Welt bzw. Furcht vor ihrer Zerstörung ist nach Jonas die Voraussetzung, um "Mut zur Verantwortung" (S.391) zu entwickeln und um ökologisch bewußt auf individueller und politischer Ebene zu handeln. Jonas plädiert im Zusammenhang mit seiner Suche nach der "Psychologie einer Zukunftsethik" für eine "neue education sentimentale, eine neue Erziehung unserer Gefühle". Es müsse ein Erzittern geben, das der Vernunft zu Hilfe kommt (Jonas 1991, S.20).

 

Der Philosoph, der wohl die geringste Angst hatte, die Angst vor der Zerstörung zu einem überlebensnotwendigen "Prinzip" zu erklären, war Günther Anders (1902-1992). 

Anders studierte Philosophie und promovierte bei Husserl. Während des Nationalsozialismus fand Anders als Jude ein Exil zunächst in Paris, bevor er nach Amerika emigrierte. Seit 1945 können alle seine Publikationen als Versuch verstanden werden, auf die atomare Situation angemessen zu reagieren. Einer größeren Öffentlichkeit bekannt wurde Anders Ende der 50er Jahre durch seinen Briefwechsel mit dem Hiroshima-Piloten Claude Eatherly und Anfang der 80er Jahre durch seine provokanten Thesen zur Frage von Gewalt. In diese Zeitspanne fällt auch sein Hauptwerk, das den Titel "Die Antiquiertheit des Menschen" trägt (Band I: 1956, Band II: 1980, Band III konnte nicht mehr vollendet werden). 

Obwohl sich Anders Zeit seines Lebens mit der atomaren Bedrohung auseinandersetzte, waren ihm die ökologischen Gefahren ebenso bewußt. Die Grundthesen zur atomaren Situation sind auch auf die Umweltzerstörung (im engeren Sinne) übertragbar, wie Anders selbst in einem neueren Vorwort zum ersten Band der "Antiquiertheit" bemerkt: "Die drei Hauptthesen: daß wir der Perfektion unserer Produkte nicht gewachsen sind; daß wir mehr herstellen als vorstellen und verantworten können; und daß wir glauben, das, was wir können, auch zu dürfen, nein: zu sollen, nein: zu müssen - diese drei Grundthesen sind angesichts der im letzten Vierteljahrhundert offenbar gewordenen Umweltgefahren leider aktueller und brisanter als damals" (Anders 1979/56, S. VII). 

Kurz vor seinem Tod ergänzte Anders bilanzierend: "Ich glaube, daß weitgehend die Analysen über die Endzeit, die ich gemacht habe, die gehindert werden muß, in ein Zeitenende umzuschlagen, daß diese Analysen ohne weiteres anwendbar sind auf die anderen (Gefahren). Daß wir also viele Methoden haben, um Selbstmord zu begehen, verhindert eigentlich nicht die grundsätzlichen Dinge in meiner Analyse der atomaren Situation. Aber ich gebe zu, wir haben die Auswahl jetzt, ja" (vgl. Schubert 1987, S.169).

In dieser Arbeit soll weniger die Analyse von Anders im Vordergrund stehen (vgl. Sohr 1995) als dessen Ausführungen zum "Prinzip" der Angst. 

Mit Butollo (1986, S.13) könnte man fragen, ob Angst nicht einfach eine "zufällige Koinzidenz", ein "Modethema" unserer Zeit sei. Moden haben es in sich, über kurze Zeit über Gebühr beachtet zu werden, um dann wieder in der Versenkung zu verschwinden. Zwar scheine die Angst an sich zeitlos zu sein, "die Angstinhalte hingegen ändern sich" (Butollo 1986, S.13). Demgegenüber vertritt Anders die Auffassung, daß die heutige Weltangst für alle Zukunft bleiben wird. Ganz egal, ob unsere heutige "atomare Gelassenheit" (Keupp 1986) als Ausdruck "neurotischer Angstlosigkeit" (Ensel 1984) zu interpretieren ist oder nicht, als existentielles Prinzip unserer Zivilisation ist Weltangst zu einem zeitlosen Phänomen geworden. Für ein Verständnis der Ausdrucksmöglichkeiten dieser Angst im Sinne von Anders scheint ein kurzer Exkurs notwendig, um eine Antwort auf die Frage zu erhalten, wann dieser epochale Einschnitt eingesetzt hat und wie es zu diesem Prozeß kommen konnte.

 

Für Anders ist mit dem Atombombenabwurf am 6.8.1945 auf Hiroshima (und am 9.8.1945 in Nagasaki) ein neues Zeitalter angebrochen: Das Zeitalter, in dem die Technik endgültig zum "Subjekt der Geschichte" geworden ist: "Ich begriff sofort (...), daß der 6. August den Tag einer neuen Zeitrechnung darstellte: den Tag, an dem die Menschheit unrevozierbar fähig war, sich selbst auszurotten" (Anders bei Schubert 1992, S.42). Obwohl Anders ungefähr zehn Jahre brauchte, um philosophisch auf dieses Ereignis zu reagieren, nannte er sich von jenem Tag an "Anders", da nun alles anders geworden sei, und legte seinen Geburtsnamen "Stern" ab. Die These vom Endzeitalter begründet sich aus der Tatsache, daß ein einmal vorhandenes Wissen nicht zurückgenommen werden könne. Aus diesem "Weltzustand" ergibt sich die ernüchternde Konsequenz, daß die Menschheit jeden Moment ausgelöscht werden kann: "Gleich wie lange, gleich ob es ewig währen wird, dieses Zeitalter ist das letzte: Denn seine differentia specifica: die Möglichkeit unserer Selbstauslöschung, kann niemals enden - es sei denn durch das Ende selbst" (Anders 1993, S. 93). Mit seiner These der zeitgeschichtlichen Dimension dieses Ereignisses stand Anders nicht allein: "Die Atomkraft hat alles verändert, außer unsere Art zu denken. So treiben wir in eine beispiellose Katastrophe. Wir benötigen eine grundsätzlich neue Art zu denken, wenn die Menschheit überleben soll" (Einstein, zit. nach Biermann & Biermann 1988, S.9).

 

Aufbauend auf dieser Prämisse postuliert Anders zwei zentrale Begriffe in seiner Philosophie: die "Überschwelligkeit" und das "Prometheische Gefälle". Mit dem Begriff der Überschwelligkeit meint Anders - in Anspielung auf das in der Psychologie bekannte Phänomen der (Reiz-) Unterschwelligkeit - die Nichtwahrnehmbarkeit von Ereignissen und Situationen aufgrund einer Überforderung der menschlichen Sinne. Unsere Auslöschung ist unvorstellbar, sie übersteigt unser Fassungsvermögen im Denken und Fühlen. So verhalten wir uns wie "emotionale Analphabeten": "Sechs Millionen bleiben für uns eine Ziffer, während die Rede von zehn ermordeten vielleicht noch irgendwie in uns anzuklingen vermag, und uns ein einziger Ermordeter mit Grauen erfüllt" (Anders 1988, S.28). Vor dem Gedanken der Apokalypse "streikt die Seele" (Anders 1988, S.267). Der andere Schlüsselbegriff, das prometheische Gefälle, die "conditio humana unseres Zeitalters", meint die Diskrepanz zwischen technischem Gerät und menschlichem Leib, zwischen Machen und Vorstellen, zwischen Tun und Fühlen und zwischen Wissen und Gewissen. Es gebe "keinen Zug, der für uns Heutige so charakteristisch wäre, wie unser Unfähigkeit, seelisch 'up to date', auf dem Laufenden unserer Produktion zu sein. (...) Durch unsere unbeschränkte prometheische Freiheit, immer Neues zu zeitigen, haben wir uns als zeitliche Wesen derart in Unordnung gebracht, daß wir nun als Nachzügler dessen, was wir selbst projiziert und produziert hatten, mit dem schlechten Gewissen der Antiquiertheit unseren Weg langsam fortsetzen oder gar wie verstörte Saurier zwischen unseren Geräten einfach herumlungern" (Anders 1956, S.8).

 

Die Überschwelligkeit der Dinge und das prometheische Gefälle als "täglich wachsende A-synchronisiertheit des Menschen mit seiner Produktewelt" (Anders 1956, S.15) sind zwei Seiten derselben Medaille - zum einen aus Sicht der Dinge, zum anderen aus Sicht des Menschen (vgl. Brandtner 1994, S.43). Sie sind nach Anders die Hauptursachen unserer "Apokalypse-Blindheit" (1956, S.267). Zu der Diagnose der Apokalypseblindheit (in dem nicht mehr vollständig veröffentlichten dritten Band der "Antiquiertheit" ist auch von einer Apokalypsestummheit bzw. -taubheit die Rede, vgl. Anders 1989, S.4) kommt Anders aufgrund der vergeblichen Suche nach einer angemessenen emotionalen Reaktion des Menschen auf die globalen Bedrohungen: "So also ist unsere Situation. So beängstigend. Aber wo ist unsere Angst? Ich finde keine. Noch nicht einmal eine Angst mittlerer Größe kann ich finden. Noch nicht einmal eine, wie sie etwa bei der Gefahr einer Grippe-Epidemie aufträte. Sondern eben überhaupt keine. Wie ist das möglich?" (Anders 1987, S.264). Angesichts des Übermaßes der Gefahr und des zu erwartenden Quantums an Angst bleibt die emotionale Reaktion - zumindest der Erwachsenenwelt - praktisch aus. Anders jedenfalls registriert eine "eschatologische Windstille" bzw. "nicht die geringste Panik" (S.276) und nennt uns deshalb "Analphabeten der Angst" im "Zeitalter der Unfähigkeit zur Angst" (Anders 1987, S.265).

Nicht nur der atomaren, auch der ökologischen Bedrohung stehen wir weitgehend anscheinend indolent gegenüber: [ wikipedia  Indolenz ]

"Die Nachricht von der fortschreitenden Zerstörung des Regenwaldes oder der Ozonschicht etwa versetzt uns nicht in Panik, sondern wird bei Bier und Knabbereien zwischen Spielfilm und Werbung, wie alles andere auch, konsumiert. Die Apokalypse läßt uns kalt" (Bloedhorn 1994, S.14). 

Anders sieht in der Ausbildung einer sog. moralischen Phantasie, d.h. in dem Versuch, das Gefälle zu überwinden, die "entscheidende Aufgabe" unserer Zeit. Dazu müsse z.B. der Gegenwarts-Horizont willentlich erweitert werden. So fordert Anders, der seine eigene Aufgabe als "professioneller Panikmacher" begreift (vgl. Althaus 1989, S.19): "Wir haben unsere Mitmenschen zur Angst zu erziehen!" (vgl. Schubert 1987, S,131). Zwar könne Angst auch lähmen, aber gelähmter, als die meisten Menschen heute schon seien, könne man sich gar nicht verhalten. Ebenso wie Jonas geht es Anders letztlich um eine "heilvolle Angst" (vgl. Richter 1992, S.295), die in der Lage ist, Widerstand zu ermöglichen. Wenn dies nicht gelänge, sei die Lage "hoffnungslos" (Anders 1956, S.273).

 

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Ökologisches Gewissen # Die Zukunft der Erde aus der Perspektive von Kindern, Jugendlichen und anderen Experten #  2000 von Sven Sohr