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3.3 - Gewaltlos gegen Gewalten: Auf der Suche nach der richtigen Strategie

Schlusswort

Flechtheim-1987

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Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit sitzen heute alle Menschen in einem Boot. Zwar reicht die Stufenleiter der Insassen nach wie vor vom Schiffs­jungen bis zum Kapitän oder Admiral, vom Zwischen­deck­passagier bis zum Inhaber einer Luxuskabine. Einerseits ergibt sich so, objektiv gesehen, eine Identität der Interessen; alle sollten daran interessiert sein, daß das Boot nicht kentert, das heißt, daß kein atomarer Krieg ausbricht und die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen nicht zerstört werden. Dieses gemeinsame Schicksal bildet die große Chance, daß auch die Privilegierten sich überzeugen lassen, den Dritten Weg mitzugehen.

Andererseits besteht die Gefahr, daß sie durch ihre besonderen Interessen und Vorrechte daran gehindert werden, das Ausmaß der Krise rechtzeitig zu erkennen. Solange es ihnen noch gutgeht, fallt es ihnen schwer, langfristig und im Weltmaßstab zu handeln. Die Masse der Unterprivilegierten wiederum hat nicht gelernt, selbständig zu denken. Woher sollte der Durchschnittsmensch, der heute und hier für sich und seine Familie sorgen muß, Zeit und Muße finden, sich intensiv mit den globalen Bedrohungen der Zukunft zu befassen?

Sowohl die Herrschenden als auch die Beherrschten werden kaum durch gründliche Kenntnisse, rationale Überlegungen oder umfassende Erfahrungen motiviert; sie handeln eher aufgrund uralter Vorurteile, unbewußter Antriebe und kurzfristiger Interessen. Weder Ausbildung noch Bildung machen es dem Normal­bürger leicht, sich intensiv mit den großen Herausforderungen auseinander­zusetzen. Die Massenmedien erschweren es ihm zudem, Abstand zu gewinnen zu den Staaten, die auf gewaltsame Konfliktlösungen nach außen und innen programmiert sind, zu den Wirtschaftssystemen, die auf quantitatives Wachstum auf Kosten der Umwelt angelegt sind, und schließlich auch zur Gesellschaft und zur Familie, die das Bevölkerungs­wachstum fördert.

Es ergibt sich also die paradoxe Situation, daß alle Menschen objektiv so wie noch nie gefährdet sind, daß viele dies jedoch subjektiv nicht genügend wahr­nehmen. Der Minderheit, die weiß, um was es geht, fällt daher die unglaublich schwere Aufgabe zu, eine unaufgeklärte Mehrheit für eine dritte Zukunft zu gewinnen. Sie muß dabei im Prinzip auf jegliche Form physischer Gewaltsamkeit verzichten, da Gewalt heute unversehens der Kontrolle entgleiten und die Menschheit bedrohende Dimensionen annehmen kann. 

Gäbe es heute eine gewaltsame Revolution, so würde sich diese kaum auf einen Barrikadenkampf im Stil des 19. Jahrhunderts beschränken lassen. In den Zentren der Macht müßte man mit dem Einsatz von Massenvernichtungs­mitteln rechnen. Dies ist, wenn auch nicht der einzige, so doch ein wichtiger Grund, weshalb die Anhänger des Dritten Weges auf Gewaltfreiheit bestehen. Das bedeutet jedoch nicht, daß sie von vornherein auf politischen Kampf verzichten und den von den jeweiligen Machthabern diktierten Status quo unterwürfig hinnehmen sollten. Als Dritter Weg bleibt ihnen die Möglichkeit des gewaltfreien Widerstands.

Bisher galt auch bei den Sozialisten die Verhaltensregel, daß man entweder das jeweilige Gewaltmonopol des Staates, ganz gleich ob es sich um den demokratischen Rechtsstaat im Westen oder die Volksdemokratie im Osten handelte, unbefragt respektierte oder aber durch gewaltsame Revolution abzuschaffen trachtete. Das Prinzip der Gewaltfreiheit stellt nun eine Synthese zwischen revolutionärer Gewaltsamkeit und quietistischem Legalismus dar: Es ist eine dem Dritten Weg angemessene Strategie. Die Anhänger der gewaltfreien Aktion verzichten auf die physische Gewalt gegenüber Menschen, sind aber nicht bereit, die bestehenden Gewalten stets und überall widerstandslos hinzunehmen.

So hat Martin Luther King seine Politik der Gewaltfreiheit und des Widerstands selber als Dritten Weg zwischen Ergebung und Gewalt beschrieben: 

"Der Anhänger des gewaltfreien Widerstands ist mit dem, der sich in sein Schicksal ergibt, einer Meinung, daß man nicht tätlich gegen seinen Gegner vorgehen soll. Andererseits ist er aber auch mit dem, der für Gewalt ist, einig, daß man dem Bösen Widerstand leisten muß. Er vermeidet die Widerstandslosigkeit des ersteren und den gewaltsamen Widerstand des letzteren."

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Es geht bei der Gewaltfreiheit aber nicht nur um den äußeren Tatbestand des Nichtverletzens — oberfläch­lich betrachtet "verletzt" ja z.B. der Chirurg seinen Patienten, wenn er ihm ein Glied amputiert. Es geht auch um die Einstellung und das Ziel. Gefordert wird Respekt vor dem anderen, das Wissen um das gemeinsame Menschentum, ja ein Minimum an Mitmenschlichkeit im Verhältnis zum Gegner, auch bei noch so scharfen Auseinandersetzungen und Kämpfen. Hinzunehmen wären bestimmte eng umschriebene Tatbestände des sogenannten nichtverletzenden Zwanges.

Ähnlich wie die Engländer zwischen "violence" und "force" unterscheiden, sollte man zwischen verletzender Gewalt und nichtverletzendem Zwang differenzieren. Gustav Heckmann erklärt, daß bei letzterem "die Person des Gegners geachtet bleibt ... der Widerstand gilt ausschließlich einer bestimmten Handlung, einer bestimmten Maßnahme, die sozusagen aus der Gesamtperson des Gegners herausgelöst wird. Ein einfaches Beispiel: Wenn jemand sich einem Einbrecher, der in das Haus einzudringen versucht, lediglich entgegenstemmt, dann übt er auf ihn gewiß einen Zwang aus; dieser richtet sich aber ausschließlich gegen die Handlung des unrechtmäßigen Einbrechens". Heckmann betont in diesem Zusammenhang, "daß der nichtverletzende Kämpfer sich der vollen Gewalt seines Gegners aussetzt. Das fordert ein hohes Maß an Leidensbereitschaft".

 

Auch wer für gewaltfreie Aktion eintritt, mag zwischen verschiedenen Erscheinungsformen der Gewalt unterscheiden — etwa zwischen der Gewalt gegen Sachen und der Gewalt gegen Personen. Jene mag hingenommen werden, diese nicht. Die Zerstörung eines Denkmals oder einer Flagge kann ausnahmsweise als Symbol befreiend wirken, die Tötung oder Folterung von Wehrlosen, Schwachen und Unbeteiligten niemals.

Die unbedingte Gewaltfreiheit wird in Herrschaftssystemen fragwürdig, die nicht nur eine Minderheit, sondern die breiten Massen so brutalisieren, daß diese jeder menschlichen Regung unzulänglich werden. Hatten die Juden in Deutschland 1933 vielleicht noch die Möglichkeit, gewaltfrei zu reagieren, so war gewaltfreies Handeln 1943 im Warschauer Ghetto oder gar in Auschwitz sinnlos.

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Die Gewaltfreiheit stößt also auch an ihre Grenzen. Wie schon der polnische Philosoph Kolakowski hervorgehoben hat, kann die totale und absolute Konsequenz zu widersinnigen Resultaten führen. Sich etwa gewaltfrei gegen einen neuen Hitler zu verhalten, könnte den Tod von Millionen zur Folge haben. So läßt sich z.B. der Tyrannenmord unter Umständen rechtfertigen. Gandhi selber hat einmal die Grenzen der Gewaltfreiheit angedeutet:

"Ich glaube, daß ich da, wo nur die Wahl bliebe zwischen Feigheit und Gewalt, zur Gewalt raten würde. Dagegen glaube ich, daß die gewaltfreie Aktion der Gewalt unendlich überlegen ist."

Angesichts dieser Schwierigkeiten darf man dennoch nicht leichtfertig Ausnahmesituationen unterstellen - die abschüssige Bahn zur Hölle ist allzu oft mit guten Vorsätzen gepflastert, die da lauten mögen: Der Krieg ist der einzige Weg zum Frieden; man tötet nur zum Schutz höchster Güter; man wendet Gewalt zum letzten Mal an, so daß sie ein für allemal überflüssig wird. Die dauernde kritische Überprüfung jedweder Gewaltanwendung ist unabdingbar. Die volle Beweislast für die Gewaltanwendung liegt stets bei demjenigen, der tötet oder verletzt. Ferner muß er sein gewaltsames Vorgehen offen und ehrlich zugeben. So manche Erscheinungs­form der Gewalt ist so unmenschlich, daß sie verheimlicht werden muß; die Publizität würde diese Art der Gewalt­anwendung unmöglich machen. Sie ist im wahrsten Sinne des Wortes unaussprechlich. Schließlich sollte es niemanden ermöglicht werden, durch andere Gewalt ausüben zu lassen. Gewaltanwendung wird dem Täter allzu leicht gemacht, wenn er, am Schreibtisch sitzend, den Folterknechten "nur" die Befehle erteilt.

Wie die innerparteilichen Auseinandersetzungen bei den Grünen zeigen, fällt es uns allen heute nicht leicht, den Prinzipien einer ökologischen, basisdemokratischen und gewaltfreien Politik treu zu bleiben. 

Man kann sich eine Kleinpartei der Zukunft vorstellen, die sich darauf beschränkt, langfristige Ziele zu verfolgen, ohne Kompromisse zu schließen.

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Wenn andererseits eine Minderheits­partei so schwach ist, daß sie, falls sie eine Koalition eingeht, für Schritte mitverantwortlich gemacht wird, die sie eigentlich nicht billigen kann, setzt sie sich insbesondere der Versuchung des Machtmißbrauchs und der Korruption aus, die sie mit Recht den anderen Parteien vorwirft. Es geht also hier um das Dilemma des "kleineren Übels". Von Fall zu Fall muß geprüft werden, ob sich die Verringerung des Übels lohnt. Dabei mag es unvermeidlich sein, daß man über die Maßstäbe der Bewertung zu keiner Einigung kommen kann. Dies wäre ein Fall, wo größte Toleranz geboten ist und vielleicht nur das Los entscheiden könnte.

 

Die Wahl zwischen bescheidenen taktischen Schritten und konsequenter Prinzipientreue ist zu einem Zeitpunkt, da das Überleben der Menschheit in Frage steht, besonders schwierig. 

Einerseits will man nicht auf eine noch so bescheidene Verringerung des Übels verzichten; andererseits spürt man, daß nur eine radikale und totale Wende uns noch retten kann. 

Die heute notwendige "Mutation der Menschheit", von der Paul Bertaux spricht, würde selbst die bisher revolutionärste Innovation in der Geschichte, nämlich die Abschaffung des Kannibalismus (Fritz Baade), in den Schatten stellen, da diese unvorstellbar lange Zeit beansprucht hat. 

Dagegen verbleiben uns heute wohl nur noch wenige Jahrzehnte um die fatalen Herausforderungen zu meistern. Eigentlich müßte in einer solchen Situation eine globale Instanz einen universalen Notstand der Menschheit auf Jahre hinaus proklamieren, damit wir alle mit vereinten Kräften den Kampf gegen die jeden bedrohenden tödlichen Gefahren aufnehmen. 

Ein einzelnes Land wie die Bundesrepublik oder die DDR wäre gut beraten, hier Initiative zu ergreifen. Das geteilte Deutschland ist ein neuralgischer Punkt in der Megakrise der Welt und trägt als Urheber zweier Weltkriege ein gerüttelt Maß an Mitverantwortung für den Zustand, in den die Menschheit geraten ist.

Was schließlich die Futurologie anlangt, so vermag sie zur Zukunftsbewältigung nur einen bescheidenen Beitrag zu leisten. Sie kann die Zukunft diagnostizieren und prognostizieren und vor ihren Gefahren warnen, kann aber nicht selbst jene Entscheidungen treffen, die die Katastrophe verhindern und eine wünschenswerte Zukunft gestalten helfen.

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Das muß sie den zukunftsorientierten Bürgern und deren Organisationen und Institutionen überlassen. Sie kann allerdings das Interesse möglichst vieler für die Zukunft mobilisieren und Problemlösungen vorschlagen. Sie kann anregen, daß Institutionen geschaffen werden, die sich mit der Zukunft intensiv beschäftigen, etwa pädagogische Einrichtungen und Institute, die die Menschen zukunftsbewußter machen, oder Zukunftswerkstätten, die den breiten Massen zugänglich sind. 

Wie an die Stelle des Kriegsministeriums ein Friedensministerium treten könnte, so kann man sich auch ein Zukunftsministerium vorstellen, das alle politischen Entscheidungen auf ihre Auswirkungen in der Zukunft hin überprüft.

Denkbar wäre auch eine Erweiterung der Parlamente der Staaten um eine Zukunftskammer oder einen Zukunftsrat, also eine Art "Oberhaus" das die langfristigen großen Herausforderungen immer wieder zur Debatte stellt. Warum sollten nicht auch bei der EG, dem Europarat und sogar bei den Vereinten Nationen Zukunftsräte eingerichtet werden, die aus futurologisch orientierten Wissenschaftlern, Publizisten, Politikern usw. zusammengesetzt sein könnten.

In einigen westlichen Ländern bestehen bereits heute staatliche futurologische Institute und Kommissionen. Schweden z.B. verfügt seit 1973 über ein Sekretariat für Zukunfts­studien, das einer Abteilung des Erziehungsministeriums angeschlossen ist. In den USA wird jeder Gesetzentwurf im Kongreß auf seine futurologische Implikation hin, freilich mehr schlecht als recht, überprüft.

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Wie groß sind nun aber die Aussichten, daß die Zukunft noch gerettet wird?

Es wäre Selbst­täuschung zu behaupten, daß die Chancen sehr groß sind oder auch nur so groß wie noch vor einem Menschenalter. Der Atomphysiker Leo Szilard hat ganz offen erklärt: "Ich rechne mir zwar auf dem Papier 85 Prozent Wahrscheinlichkeit für den gewaltsamen Untergang aus, aber ich lebe und kämpfe für die verbleibenden 15 Prozent."

Der Futurologe kennt jedoch auch unerwartete Entwicklungen, die sich der Prognose entziehen. Ausnahms­weise ereignet sich einmal etwas, das aller Erwartung und jedem Kalkül widerspricht. Unter der Oberfläche wirken hie und da Kräfte, die höchstens unsere kühnste Phantasie erahnen kann.

Tschechische Reformer erzählen, daß, hätte man 1967 einen Prager Frühling prognostiziert, sie eine solche Entwicklung für undenkbar gehalten hätten. Und wer hätte vorauszusagen gewagt, daß 1974 in Portugal ausgerechnet Militärs eine Militärdiktatur stürzen und eine radikal-demokratische Revolution einleiten würden?

Grenzen solche Entwicklungen nicht an so etwas wie historische "Wunder"?

Mit Recht hat man von unserer modernsten Supertechnik, der Kernenergie, als einem "faustischen Pakt mit dem Teufel" gesprochen. Oswald Spengler hat unsere ganze moderne Gesellschaft als faustische Kultur gedeutet und behauptet, sie sei dem Untergang geweiht. In der Tat hatte sich Faust rettungslos dem Teufel verschrieben. Bei Goethe geschieht dann aber doch ein Wunder: Trotz allem wird der verdammte Faust gerettet. 

Ist es da ganz und gar ausgeschlossen, daß unsere faustische Zivilisation noch durch eine Art von historisch-politischem Wunder gerettet wird? 

Wir wissen das nicht — dennoch müssen wir alles in unseren Kräften Stehende tun, um ein solches "Wunder" etwas wahrscheinlicher zu machen.

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Ende

 

 

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Ossip K. Flechtheim (1987) Die Megakrise unserer Zeit und ihre sieben Herausforderungen