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2.5 - Demokratiedefizit und Repression

Flechtheim 1987

 

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Gewaltanwendung gegen äußere Feinde hat es immer gegeben. In den Hochkulturen wurde sie institut­ionalisiert und zu einem wesentlichen Element der Außen­politik der Staaten. Aber auch innerhalb der Staaten oder anderer politischer Einheiten war Gewalt­anwendung jahrhundertelang gang und gäbe. Es bleibt wohl unbestreitbar, daß seit undenklichen Zeiten der Staat (und auch lange Zeit die Kirche) der größte Gewalttäter in der Geschichte der Menschheit gewesen ist. In seinem Auftrag und Namen wurde ausgebeutet und verfolgt, eingekerkert und versklavt, massakriert und »pazifiziert«, geplündert und gebrandschatzt, gefoltert und gevierteilt. 

Schon der Heilige Augustin konnte mit Recht fragen: »Wenn die Gerechtigkeit beseitigt wird, was sind die Staaten dann überhaupt anderes als große Räuberbanden? Sind nämlich Räuberbanden etwas anderes als kleine Staaten?« 

Dabei macht es keinen so großen Unterschied, ob die Herrscher als Kaiser oder Päpste, als Könige oder Fürsten, als Dogen oder Konsuln, als Ritter oder Patrizier, als Diktatoren oder »Führer« aufgetreten sind. Auch ist es aus heutiger Sicht nicht so wichtig, ob die Machthaber im Namen von Reichen oder Monarchien, von Aristokratien oder Republiken handelten.

Schon im Begriff »Staat« steckt die Drohung mit Zwang und Gewalt, die institutionalisiert, legitimiert und legalisiert ist. So selbst­verständlich ist das Gewalt­monopol des Staates, daß der Gewaltbegriff als zum Wesen des Staates gehörend hinge­nommen wird. 

So definierte Max Weber den Staat mit Recht als »diejenige menschliche Gemeinschaft, welche innerhalb eines bestimmten Gebietes das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit für sich (mit Erfolg) beansprucht« oder, technischer formuliert, »als einen Anstaltsbetrieb, wenn und insoweit sein Verwaltungsstab erfolgreich das Monopol legitimen physischen Zwanges für die Durchführung der Ordnungen in Anspruch nimmt«.

Andererseits läßt sich nicht übersehen, daß erst zögernd und dann sich beschleunigend in der westlichen Welt eine Entwicklung einsetzte, die im Zeitalter der Reformation und der Aufklärung begann und in den großen Revolutionen in Holland, England, Frankreich und den Vereinigten Staaten liberalen und demokratischen Prinzipien zum Sieg verhalf. 

Das griechische Wort Demokratie ins Deutsche übersetzt heißt Volksherrschaft. In diesem Sinne sprach z.B. Abraham Lincoln von »government of the people, by the people, and for the people« (Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk). Damals mußte man also annehmen, daß in einer Demokratie das gesamte Volk sich selbst regiert, also sein Schicksal frei bestimmt. Nichts versinnbildlicht das Ideal der Demokratie besser als der Kampfruf der Französischen Revolution: »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit«.  

Doch scheitert eine totale und absolute Verwirklichung dieser Ideale erstens schon daran, daß, philosophisch gesehen, der Mensch auf Erden den Gesetzen der Natur unterworfen, also in diesem Sinne »unfrei« bleibt und daß natürliche Unterschiede, etwa zwischen Erwachsenen und Kindern oder zwischen Talenten und Temperamenten, nicht total beseitigt werden können, selbst wenn Unfreiheit und Ungleichheit keine ein für alle Male festgelegten Größen, vielmehr dank technischer Entwicklungen und gesellschaftlichem Fortschritt reduzierbar sind.

Zweitens sieht es, oberflächlich betrachtet, so aus, als ob mehr Freiheit weniger Gleichheit und umgekehrt mehr Gleichheit weniger Freiheit brächte. Die Freiheit kann ungleich verteilt sein, das heißt, die Freiheit der einen kann auf Kosten der Freiheit der anderen gehen. Die größte Freiheit des Herrschers z.B. hat die Unfreiheit der Beherrschten zur Folge. Auch eine Minderheit kann sich auf Kosten der Mehrheit Freiheiten nehmen. Selbst wenn die Hälfte einer Bevölkerung — etwa alle Männer — größte Freiheiten genießt, kann dadurch die andere Hälfte — etwa die Frauen — in Unfreiheit verbleiben. Sogar die weitestgehende Freiheit einer Mehrheit kann mit totaler Unfreiheit einer Minderheit erkauft sein.

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Umgekehrt würde die vollkommene Gleichheit aller Bürger — z.B. an Besitz und Macht — wohl nur auf Kosten der Individualität und Freiheit des einen oder anderen möglich sein. Das Gespenst der »Gleichmacherei« oder Uniformierung, das oft zu Unrecht beschworen wird, wäre dann wirklich in Fleisch und Blut vorhanden. Andererseits ist man von einer echten Demokratie noch meilenweit entfernt, wenn man meint, wie das bei uns so häufig geschieht, zur Demokratie gehöre einfach die Gleichstellung von Kapital und Arbeit. 

Sieht man etwas genauer hin, so ist aber diese Gleichheit von Kapital und Arbeit nicht mehr als die Gleichheit zwischen den toten Produktions- und Machtmitteln und den lebendigen arbeitenden Menschen, d.h. eine »Gleichheit«, die deren Entfremdung und Verdinglichung hinnimmt. Es ist eine Gleichheit zwischen einer Handvoll Kapitalisten und den Myriaden von Arbeitern oder, noch einfacher gesagt, zwischen vielleicht sogar dem einen Millionär oder Milliardär und den Tausenden oder Hunderttausenden von »Arbeitnehmern«.

Das ist dieselbe »Gleichheit« wie die zwischen dem einen Lehnsherrn und Latifundien­besitzer und seinen zahllosen Hörigen und Leibeigenen oder auch die zwischen dem einen Thron und den vielen Untertanen. Was das bedeutet, wird vielleicht noch klarer, wenn man sich etwa vorstellt, im Staat bestimme der eine Monarch die Hälfte der Abgeordneten, und die Masse der Bürger dürfte die andere Hälfte frei wählen. Man mag auch daran denken, daß in einem Feudalsystem ein dritter Stand der Bürger, Bauern, Arbeiter usw. ebenso viele Sitze hatte wie die privilegierten Stände des Adels und der Geistlichkeit. All das mag durchaus mit der Idee der konstitutionellen Monarchie wie mit der des Feudalismus verträglich sein — aber reicht es für eine echte Demokratie aus?

Die Gleichheit zwischen Arbeit und Kapital mag gegenüber dem bisherigen Zustand extremer Ausbeutung und Rechtlosigkeit einen Fortschritt darstellen. Vergessen wir aber nicht, daß sie in fataler Weise auch an jene Tendenzen erinnert, die man heute als kapitalistischen Neo-Feudalismus charakterisieren mag. Jedenfalls bleibt diese Gleichheit noch hinter dem radikalen Republikaner Lincoln zurück, der schon im 19. Jahr­hundert unverhohlen den Vorrang der lebendigen Arbeit vor dem toten Kapital betont hat.

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Ein optimales Verhältnis von Freiheit und Gleichheit scheint nur in einer Gemeinschaft möglich, die auch auf Brüderlichkeit und Gerechtigkeit, Mitmensch­lichkeit und Solidarität beruht. Schon bei Proudhon steht zu lesen: »Vom sozialen Standpunkt sind Freiheit und Solidarität identische Ausdrücke; indem die Freiheit eines jeden in der Freiheit anderer nicht mehr, wie die Erklärung der Rechte des Menschen und Bürgers von 1793 sagt, eine Schranke, sondern eine Hilfe findet, ist der freieste Mensch derjenige, welcher die meisten Beziehungen zu seinen Mitmenschen hat.« 

Soweit ein Verzicht auf Vorrechte im Interesse der Gesamtheit erforderlich ist, müßte er freiwillig erfolgen; Vorrechte dürften nur dort geltend gemacht werden, wo sie funktional begründet sind und der Allgemeinheit dienen.

Ebenso ist die für die Demokratie unabdingbare Gerechtigkeit noch nicht garantiert, wenn in einer Gemein­schaft »Recht« herrscht. Obwohl der deutsche Sprachgebrauch zu einer solchen Verwechslung von Recht und Gerechtigkeit verleitet, enthält das positive Recht noch bis auf unsere Tage ein gerüttelt Maß an Zwang und Gewalt. 

Auch in dem vielgepriesenen »Rechtsstaat« von heute verbrieft das gesetzte Recht zwar ein bescheidenes Maß an formaler Freiheit, verhilft aber doch nicht, wie oft behauptet wird, einfach der Freiheit und der Vernunft, der Gerechtigkeit und der Gleichheit zum Sieg. 

Noch immer ist Anatole France nicht widerlegt, der einmal erbittert bemerkt hat, die majestätische Gleichheit der Gesetze untersage es dem Reichen ebenso wie dem Armen, unter den Brücken zu schlafen, auf den Straßen zu betteln und Brot zu stehlen.

Das Recht ist also keineswegs einfach unabhängig von wirtschaftlichen und politischen Machtstrukturen, was viele Juristen übersehen, wenn sie als »Rechtsdiener« allzu leichten Herzens die bestehende Rechts­ordnung unkritisch hinnehmen und ihren Staat als »Staatsdiener« legitimieren und glorifizieren, wenn er nur im Gegensatz zu extrem terroristisch-totalitären Willkürregimen das von ihm gesetzte Recht einigermaßen einhält.

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Heute neigen die Juristen bei uns dazu, das Recht mit dem positiven, d.h. dem im Augenblick geltenden Recht gleichzusetzen. Aber das Recht wandelt sich: Was heute Rechtens ist, kann morgen Unrecht sein — und umgekehrt. 

So hat man auch immer wieder gegen das geltende Recht ein höheres und allgemeineres Naturrecht angerufen. Nun ist das Naturrecht, wie fast jede menschliche Bewußtseinsform einschließlich des positiven Rechts selber vieldeutig, schillernd, widerspruchsvoll. Ähnlich wie die Religion hat es in der Vergangenheit allzuoft dazu gedient, dem mangelhaften positiven Recht eine höhere — etwa christliche — Weihe zu verleihen. 

Andererseits darf man auch die kritischen und utopischen, das mangelhafte positive Recht ablehnenden Naturrechtsschulen, die das geltende Recht reformieren oder gar revolutionieren wollten, nicht übersehen. In dem Maße wie heute das positive Recht des Durchschnittsjuristen dazu dient, den Vernichtungskrieg oder die Umweltzerstörung als »Rechtens« zu legalisieren, mag es nunmehr erst recht legitim sein, einem dieses positive Recht verteidigenden Kronjuristen ein radikales oder gar revolutionäres, auf Selbsterhaltung der Menschheit ausgerichtetes Naturrecht entgegenzuhalten.

Gemessen an den Werten der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Gerechtigkeit, wie sie heute verstanden werden, sind viele Staaten, die als Demokratie gelten, immer noch weit von diesem Ideal entfernt. Das trifft nicht nur auf die frühen Regime der Antike zu, die äußerstenfalls »Minderheitsdemokratien« waren (was ein offenbarer Widerspruch in sich selbst ist). In diesen regierte zwar eine größere Zahl von Bürgern als in den Oligarchien oder Monarchien, aber diese Bürger machten doch nur einen Bruchteil der Gesamtbevölkerung aus. Ausgeschlossen blieb die große Mehrheit der Sklaven und Knechte, der Fremden und Frauen. Selbst in der radikal-demokratischen Republik der französischen Jakobiner von 1792 bis 1795, die immerhin in ihren Kolonien die Negersklaven befreite, blieben die Frauen politisch rechtlos. Bis in unser Jahrhundert hinein ist die patriarchalische Grundstruktur gerade auch in den ältesten Demokratien deutlich erkennbar. Schließlich konnten ja auch nur die waffentragenden Männer ihre Demokratie gegen den äußeren Feind verteidigen.

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Im Laufe der Jahrhunderte und im Verlauf seiner großen Revolutionen demokratisierte das aufstrebende Bürgertum den Staat. Diese Demokratie sprach zwar vom »citoyen« oder Staatsbürger, sicherte zunächst aber nur dem Bourgeois, d.h. dem Besitzbürger, sowohl staatsbürgerliche Freiheiten als auch »Besitz und Bildung« zu. Sein Haus und Hof, sein Handel und Gewerbe, seine Schulen und seine Presse wurden gesetzlich geschützt.

Mit der fortschreitenden Industrialisierung, die zu einer kapitalistischen Gesellschaft und Produktionsweise führte, setzte auch innerhalb der bürgerlichen Demokratien eine soziale Differenzierung ein. Es entstand im 19. Jahrhundert die neue Klasse des Industrieproletariats; zugleich festigte sich die Vorherrschaft der kapitalistischen Bourgeoisie gegenüber besitzlosen Proletariern, aber auch gegenüber einer nicht unbeträchtlichen Mittelschicht von Gewerbetreibenden, Bauern, Beamten und Angestellten. An die Stelle der Konkurrenz zwischen einzelnen relativ bescheidenen und gleichen Bürgern trat die wachsende Konzentration des Kapitals in den Händen relativ weniger Unternehmer. Diese neue ökonomische Ungleichheit bewirkte, daß die finanziell Stärkeren ihre Freiheit auf Kosten der beiden anderen Gruppen ausdehnten und jeglicher Brüderlichkeit den Boden entzogen. Die Macht dieser neuen »Feudalität« hätte alle demokratischen Ansätze wieder zerstört, hätten sich nicht die einfachen Waren­produzenten in Bauernverbänden, Gewerbeschutzverbänden, Berufsvereinen der Intelligenz usw. zusammengeschlossen, um ihre demokratischen Rechte zu verteidigen.

Entscheidend war jedoch die Geburt einer sozialistischen Arbeiterbewegung, die sich zutraute, den Klassen­kampf gegen das Industriekapital aufzunehmen, indem sie sich in Gewerkschaften und Parteien organisierte, und der es gelang, alte demokratische Grundrechte wie das allgemeine Wahlrecht und neue Rechte wie das Koalitions- und Streikrecht für sich zu erobern. Dieser neue demokratische Spielraum war jedoch nicht umsonst zu gewinnen. Je größer und einflußreicher ihre Organisationen wurden, um so mehr Macht konzentrierte sich in den Händen ihrer Bürokratien.

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Das konnte so weit gehen, daß der an Besitz und Bildung besonders unterlegene Arbeiter seiner eigenen Bürokratie gegenüber wieder relativ machtlos wurde — ein neuerlicher, unvorhergesehener Verlust an Demokratie.

Mit der steigenden Produktivität der Arbeit im Hochkapitalismus verbesserte sich der Lebensstandard der breiten Massen. Besonders für die Mittelschichten und die gehobenen Unterschichten eröffneten sich neue Bildungs- und Aufstiegschancen. Der Arbeiterbewegung gelang es, den Staat zu Sozialleistungen zu verpflichten, die ihm die Bezeichnung »Wohlfahrtsstaat« einbrachten. Insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg vollzog sich als Folge rasanter technischer Entwicklung und des sogenannten Wirtschaftswunders eine gewisse Angleichung der verschiedenen Gesellschaftsschichten in ihren Lebens­gewohnheiten und in der Konsumsphäre. Das Warenangebot für alle wuchs, wobei die Unterschiede bis heute mehr in der Qualität als in der Quantität des Angebots liegen. Die Massen werden als Konsumenten so umworben, daß man heute in der Tat von einem Sozialkapitalismus und einer Konsumentendemokratie sprechen kann.

Diese Entwicklung, die nach dem Zweiten Weltkrieg überall als demokratischer Fortschritt begrüßt wurde, weist jedoch Schattenseiten auf. Eine Fundamental­demokratisierung, wie sie von Konservativen oft beschworen wird, blieb in den Anfängen stecken. Fundamental­demokratisierung würde nämlich möglichst gleiche Beteiligung aller an der Macht in den entscheidenden politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereichen bedeuten, so daß auch in einer sich rasant verändernden Gesellschaft Freiheit und Gleichheit, Brüderlichkeit und Gerechtigkeit gewahrt blieben. Dazu bedürfte es dynamischer, demokratischer Bewegungen, die mit den technischen Veränderungen nicht nur Schritt halten, sondern sie auch unter Kontrolle bringen könnten. Gerade solche Bewegungen scheinen in unserer Zeit an Stoßkraft zu verlieren und zu versickern.

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Sicher besteht immer eine gewisse Gefahr, daß lebendige Massenbewegungen sich früher oder später institutionalisieren und bürokratisieren. Je größer und komplexer das demokratisch zu gestaltende Wirkungsfeld, um so umfangreicher der Apparat dieser Bewegungen, der arbeitsteilig funktioniert und so dem einzelnen die Übersicht über das Gesamtgeschehen erschwert. Massenorganisationen und Parteien entstehen, die stets in Gefahr sind, zu Dienstleistungs­betrieben oder sogar Herrschafts­instrumenten zu verkümmern. Wenige Quasi-Staatsparteien verdrängen die unabhängigen und dynamischen Kräfte. Innerparteiliche Demokratie und Willensbildung von unten nach oben drohen zu leeren Formeln und Fiktionen zu entarten.

Zu dieser Aushöhlung der Demokratie trägt auch der Umstand bei, daß das Großkapital sich in den Parteien und Parlamenten, aber auch bei der Exekutive und deren Bürokratie leichter durchzusetzen vermag als die Organisationen der sogenannten Arbeitnehmer. Großkonzerne — von den Multis ganz zu schweigen — verfügen über Milliardensummen, denen gegenüber die Millionen­summen der Massen­organisationen kaum ins Gewicht fallen.

Wollen die arbeitenden Massen etwas durchsetzen, so müssen sie auf die Straße gehen, d.h. die »Ruhe und Ordnung« gefährden. Die Konzernherren können die »Entscheidungsträger« unter vier Augen für ihre Anliegen gewinnen. Dabei können sie sich darauf verlassen, daß auch die Unterprivilegierten oft die herrschende Meinung teilen, wonach die »Wirtschaft« florieren und Gewinne machen muß, damit Löhne und Arbeitsplätze gesichert bleiben. Diese ihre Bereitschaft ist um so größer je mehr sie selber doch noch zu verlieren haben und je stärker sie sich zu Recht oder Unrecht von anderen noch ärmeren oder abhängigeren Schichten bedroht fühlen.

Die Masse der sogenannten Lohnabhängigen ist nun in der Bundesrepublik ähnlich wie in anderen Industrie­staaten gegenüber den Milliardenmassen in der Dritten Welt durchaus privilegiert — ein Grund mehr für sie, sich mit den eigenen Oberschichten zu identifizieren. Neu ist, daß die fortschreitende Computer- und Kommunikations­technik eine zunehmende Überwachung des einzelnen und seiner freien Gruppierungen durch Bürokratien, Technokratien und Plutokratien ermöglicht — Stichwort: »numerierter Bürger« oder »gläserner Mensch« á la Huxley oder Orwell.

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Zum anderen bedrohen Informationsmonopole und die Informationsschwemme die klassischen Freiheiten des Glaubens und des Gewissens, der Meinung und der Presse, ja letztlich sogar der Kunst und der Wissenschaft, der Forschung und der Lehre. Selbst ohne unmittelbare formal-juristische Einschränkungen wird diesen Freiheiten der Boden entzogen: Die Informations­schwemme kann den Bürger daran hindern, sich in der Welt, in der Gesellschaft und der Kultur überhaupt noch zurechtzufinden; er kann von Informationen abgeschottet werden, die zum Überleben wichtig sind.

Diese Gefahr besteht besonders dann, wenn die Quellen und die Mittel der Information von den Mächtigen monopolisiert werden. Dabei macht es wohl keinen so großen Unterschied, ob uns private Oligopole oder Multis, Konzerne oder Trusts oder staatliche und öffentlich-rechtliche Anstalten, Bürokratien usw. manipulieren. Hieraus folgt, daß wir nicht nur äußerst vorsichtig sein sollten bei der Einführung neuer Techniken und Technologien, sondern daß wir vor allem auch eine Gestaltung der Wirtschaft und der Gesellschaft in der humanen Zukunftsstruktur anstreben, die Macht und Reichtum möglichst gleichmäßig verteilt.

Das demokratisch-parlamentarische Regierungssystem hat in den letzten Jahrzehnten einen tiefgehenden Funktionswandel durchgemacht. Während vor 100 Jahren das Kabinett dem Parlament verantwortlich war und dieses die Minister zum Rücktritt veranlassen konnte, zwingt nunmehr das Kabinett oder sogar der Regierungschef dem Parlament oft seinen Willen auf. Dafür sorgt die straffe Partei- und Fraktionsdisziplin, die den »Hinterbänkler« zuweilen zu einem Abstimmungs­automaten herabwürdigt.

Die Legislative gerät in Gefahr, ihrer Unrechte (Budgetrecht, Gesetzgebungsinitiative, Kontrolle der Regierung und Verwaltung) verlustig zu gehen — zugunsten der Exekutive, aber auch der mächtigsten Pressionsgruppen, die die Parteien und Fraktionen »unterwandern«. Dem Wähler bleibt manchmal nur das Recht, in einer Art von Plebiszit alle vier oder fünf Jahre den Regierungschef und seine »Mannschaft« zu bestimmen. Wieweit bei einer solchen Wahl noch Sachentscheidungen eine Rolle spielen, hängt dann wiederum davon ab, ob die Parteiführer noch an mehr als an Posten und Patronage interessiert sind. Zu diesem Bild des Spätparlamentarismus gehört auch ein Parlament ohne echte Opposition.

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Das Demokratiedefizit wächst noch mehr, sobald die Konjunktur abflaut und eine Wirtschaftskrise einsetzt. Dann verlieren die an sich schon den Unternehmer­verbänden unterlegenen Arbeiterorganisationen an Macht, da jeder Beschäftigte um seinen Arbeitsplatz bangt. Die konservativen Kapitaleigner nehmen die Gelegenheit wahr, die Staatsautorität für sich einzusetzen und die Massenbewegungen noch weiter zu domestizieren. Grundrechte wie das Demonstrations- und das Streikrecht bleiben zwar auf dem Papier bestehen, werden aber von einer allzu willfährigen Justiz ausgehöhlt.

So kann man von einer Tendenz zum A- und P-Staat sprechen: A steht sowohl für Atom- wie für Armee-Staat, P für Plutonium- wie für Polizeistaat. Der Atom- und Plutoniumstaat wäre die Antwort auf jene Supertechnik, die eine totale Überwachung des »inneren Feindes« durch einen Polizeistaat und eine totale Mobilisierung gegen den »äußeren Feind« durch einen Armeestaat erfordert und ermöglicht. Dabei verwandelt sich der demokratische Rechtsstaat unmerklich in eine statische »Staatsdemokratie«, die der »Volksdemokratie« des Ostens immer ähnlicher wird. Bei allen Unterschieden zwischen den Gesellschaftssystemen in Ost und West werden hüben und drüben die Bürger nicht ermutigt, sondern entmutigt, aktiv am politischen Geschehen teilzunehmen. Je passiver der Bürger dem Vater Staat zu Willen ist, um so eifriger preisen die Mächtigen ihre vorbildliche Demokratie. Der einst mündige Bürger wird wieder zum Landeskind.

Unter diesem Gesichtspunkt enthält auch die konservative Kritik an einem demokratischen Wohlfahrtsstaat wie etwa Schweden, wo den Bürgern ihr Glück gelegentlich schematisch von oben verordnet wird, ein Körnchen Wahrheit.

Diese bürokratische Entfremdung tritt noch viel drastischer in Erscheinung in Diktaturen oder Autokratien, in denen die kapitalbedingte Entfremdung unvermindert anhält. Als Beispiele mögen das Dritte Reich, das heutige Chile oder die Türkei dienen.

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Interessanter und auch überraschender ist das Phänomen der bürokratischen Entfremdung in den Ländern des sogenannten realen Sozialismus. Die ursprünglichen Schöpfer dieser neuen Gesellschaftsordnung hatten erwartet, daß der Sieg des Sozialismus in Rußland, aber auch in China, und die Errichtung einer »klassenlosen Gesellschaft« der Entfremdung, die sie nach Marx mit dem Kapitalismus identifizierten, in relativ kurzer Zeit ein Ende bereiten würden. In der Tat ist die klassische Form der Entfremdung mit der Aufhebung des Privatkapitalismus und der Verstaatlichung der Produktionsmittel zurückgedrängt worden, aber der Staat ist nicht, wie orthodoxe Marxisten erwartet hatten, abgestorben und durch die Selbstverwaltung autonomer Produzenten und Konsumenten ersetzt worden. Die Staatsmacht hat sich im Gegenteil ausgeweitet, verfestigt und zentralisiert. Es entstand eine neuartige Kombination aus Wohlfahrts-, Militär- und Polizeistaat, die die kreative Entfaltung der Individualität unterband und den Kultur- und Zivilisationsprozeß zentralistisch von oben nach unten zu planen versucht.

So vollzieht sich in West und Ost ein Entfremdungsprozeß zu Lasten jener Demokratisierung, die jedes System für sich beansprucht und gleichzeitig dem Konkurrenten abspricht. Wenn wir annehmen, daß der Abbau der Entfremdung mit dem Wachstum echter Demokratie identisch ist, die, wie schon angedeutet, eine Synthese aus Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Gerechtigkeit darstellt, so ist es bisher keinem System gelungen, dieses optimale Gleichgewicht zu erreichen. Im kapitalistischen Westen mag es mehr Freiheiten auf Kosten der Gleichheit geben, während im etatistischen Osten mehr soziale Gerechtigkeit auf Kosten der Freiheit besteht. In der Bundesrepublik ist es möglich, gegen Massenarbeitslosigkeit zu demonstrieren, in der Deutschen Demokratischen Republik gibt es kaum Arbeitslosigkeit, aber auch kein Demonstrationsrecht.

Zum innerstaatlichen Abbau der Demokratie von heute trägt auch der Umstand bei, daß sich diese Demokratie entgegen den einstigen menschheits­umfassenden Idealen mancher ihrer geistigen Vorkämpfer immer nur im Rahmen von Einzelstaaten durchzusetzen vermochte.

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Daher ist es dem noch so demokratischen Wohlfahrtsstaat bis heute nicht gelungen, den stets mit ihm konkurrierenden und ihn hemmenden nationalen Militärstaat zu verdrängen. Das wurde, wie bereits im Kriegskapitel angedeutet, seit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs besonders deutlich und führte, wie wir alle schmerzlich erfahren haben, sogar zur zeitweisen Vernichtung der Demokratie. Man denke an das Schicksal Rußlands nach 1917, an den Sieg des Faschismus in Italien nach 1922, an die Machteroberung des Nationalsozialismus 1933 und an den Zusammenbruch der Demokratie in Österreich 1934.

Auch in den Ländern, in denen die Demokratie die beiden Weltkriege überlebt hat, stellte die wieder neu einsetzende Militarisierung nach 1945 eine wachsende Bedrohung der demokratischen Lebensweise dar. Hiroshima und Nagasaki haben überall ihre Spuren hinterlassen. Diese extremsten Erscheinungsformen des brutalsten Militarismus rührten im demokratischen Westen zur Abstumpfung der Durchschnittsbürger gegenüber Greueltaten und trugen zu einer tiefen Skepsis gegenüber den Chancen einer weiterreichenden Demokratisierung bei. Diese Durchschnittsbürger finden sich allzuoft damit ab, daß sich ihre Regierungen aus außenpolitischen oder wirtschaftlichen Gründen mit Terrorstaaten verbünden oder sie zumindest unterstützen.

Schließlich darf nicht vergessen werden, daß die Entkolonisierung nach dem Zweiten Weltkrieg nicht überall zu der erhofften Demokratisierung der neuentstandenen Staaten in der Dritten Welt rührte. Viele dieser Länder folgten im wesentlichen ihren eigenen, oft wenig demokratischen Traditionen, obwohl sie nach außen hin die moderne, westliche demokratische Ideologie akzeptierten. So ist nach 1945 zwar die Zahl der sich verbal zur Demokratie bekennenden Staaten sprunghaft angestiegen, in Wirklichkeit hat sich echte Demokratie nur bei einer verschwindenden Minderheit durchgesetzt. Im Gegenteil werden furchtbare Verletzungen der Menschenrechte immer häufiger praktiziert.

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Verletzt werden nicht nur die klassischen Grundrechte wie Freiheit vor willkürlicher Verhaftung, Meinungs­freiheit, Pressefreiheit usw., sondern auch die neuerdings von den Vereinten Nationen anerkannten sozialen Menschenrechte wie das Recht auf Arbeit, auf Obdach usw. In der Sowjetunion wird immer wieder und nicht ganz zu Unrecht betont, daß dort im Gegensatz zu den kapitalistischen Ländern das Recht auf Arbeit das vornehmste Bürgerrecht sei und daß es nicht nur auf dem Papier stehe.

Amnesty International wirft 128 Staaten z.T. brutalste Verstöße gegen die Menschenrechte vor und spricht sogar von »Folterstaaten«. In neunzig Ländern würde systematisch gefoltert. Nach Ansicht der UN-Menschenrechts­kommission ist die Folter zur »Pest der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts« geworden. Zu den schlimmsten Folterstaaten gehörten nach dem Zweiten Weltkrieg Brasilien, Argentinien und Uruguay. Obwohl sich dort die Verhältnisse seither wieder gebessert haben, gibt es nach wie vor zahlreiche Länder, in denen gefoltert wird, Massenexekutionen an der Tagesordnung sind und Tausende von Menschen spurlos verschwinden. 

In China und insbesondere in Indonesien sind Zehntausende aus politischen Gründen umgebracht worden. In der Türkei wird seit Jahr und Tag systematisch gefoltert. In der Sowjetunion ist der Mißbrauch der Psychiatrie gegen politische Gegner kein Ausnahmefall. In Afrika sitzen besonders viele Menschen in Gefängnissen, ohne daß ihnen je ein Prozeß gemacht wird. Im Tschad, in Uganda und Zimbabwe haben Regierungstruppen schwere Massaker unter der Zivilbevölkerung angerichtet. In Südafrika erschießt die Polizei fast täglich schwarze Bürger.

Im letzten Bericht von Amnesty International werden wegen Anwendung der Folter, Verfolgung von Minderheiten oder anderen Menschenrechtsverletzungen besonders angeprangert: Südafrika, Uganda, Nigeria, Ghana, Somalia, Kenia, Kuba, Salvador, Guatemala, Kolumbien, Peru, Chile, Mexiko, Indien, Sri Lanka, Indonesien, Kambodscha, Vietnam, Laos, Afghanistan, UdSSR, Türkei, Polen, DDR, Iran, Irak. Aber auch die Bundesrepublik und Nicaragua werden wegen Isolationshaft bzw. Festnahme politischer Opponenten gerügt. Dem PEN-Club zufolge sind 349 Autoren in aller Welt inhaftiert. Laut dem internationalen Komitee des Roten Kreuzes kommen immer häufiger Mißhandlungen von Kriegsgefangenen, Bombardements von zivilen Zielen, Behinderungen des Roten Kreuzes und andere grobe Verletzungen des Völkerrechts vor.

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Millionen flüchten vor Krieg, Hunger und Verfolgung, berichtet der UN-Hochkommissar für das Flüchtlings­wesen. 2,7 Millionen flüchteten nach Pakistan, 2,3 Millionen in den Iran, mehr als eine Million aus Lateinamerika in die USA, 1,1 Millionen in den Sudan, 700.000 nach Somalia. Dagegen ist die Zahl der Flüchtlinge in Europa viel geringer: 174.000 in Frankreich, 135.000 in England, 132.000 in der Bundesrepublik, 90.600 in Schweden, 36.600 in Belgien und 30600 in der Schweiz.

Wie die Gesellschaft für bedrohte Völker berichtet, sind in der Dritten Welt in den letzten Jahren mindestens zehn Millionen Angehörige von Minderheiten wie Kurden, Südmolukker oder Eryträer durch Verfolgungen und Kriege gemordet worden.

Obwohl die Sklaverei uns als vorsintflutliche Institution erscheint und fast überall offiziell abgeschafft ist, sind nach Angaben des Kinderhilfswerks »Terre des Hommes« rund 150 Millionen Kinder in aller Welt gezwungen, täglich bis zu 15 Stunden zu arbeiten. So sind in Indien rund fünf Millionen Bauern durch die von den Vätern ererbten, stets wachsenden Schulden in Sklaverei geraten, die sie auch zwingt, die Arbeitskraft ihrer Kinder lebenslang an Geldverleiher zu verpfänden. Offizielle Angaben sprechen von etwa 2,6 Millionen solcher Kindersklaven. Auch werden laut Amnesty International Jugendliche und Kinder in vielen Teilen der Welt zunehmend zur Zielscheibe staatlicher Repressionen. Sie sind von willkürlicher Inhaftierung, von Mißhandlungen, Folterungen und Hinrichtungen nicht mehr ausgenommen. Zu den Ländern, die sich solcher unvorstellbaren Grausamkeiten schuldig machen, gehören u.a. Sri Lanka, Pakistan, Mozambik und Südafrika.

Auch unterstützen, wie schon erwähnt, Länder, die die Folter selbst nicht praktizieren und sie verurteilen, Folterstaaten, wenn diese außenpolitische Bundes­genossen oder begehrte Investitionsstätten sind. Ein ehemaliger Chef von »Volkswagen do Brasil« gab die Existenz der Folter seinerzeit in Brasilien zu, meinte aber, daß es »ohne Härte eben nicht vorwärtsgeht«.

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Die Zusammenarbeit von Geheimdiensten und militärischen Spezialeinheiten hat einen Grad erreicht, daß Amnesty International eine »Internationalisierung der Folter« anprangert. Zu einer solchen Entwicklung hat beigetragen, daß die Technik der Folter wie jede Technik in den letzten Jahren unheimlich perfektioniert wurde. Die Folter wird heute von Angehörigen riesiger Apparate arbeitsteilig praktiziert, so daß die Befehlshaber mit den Opfern nicht in Berührung kommen, während die eigentlichen Folterknechte ja »nur« auf Befehl handeln.

Fast so paradox und unbegreiflich wie die Zunahme von Folterungen in unserer Zeit ist der Fortbestand der Todesstrafe: insgesamt in 130 Staaten. Ihre langsame Abschaffung hatte unter dem Einfluß der Aufklärung im 18. Jahrhundert in Rußland begonnen, den Schweden 1821 nachgefolgt war. Erstaunlicherweise hinken die Republiken bei diesem Reformprozeß hinter den Monarchien her. In den USA schaffte als erster Staat Michigan erst 1847 die Todesstrafe ab, und einige weitere Staaten folgten. Schließlich verhinderte die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes der USA bis 1977 ihre Anwendung. Heute ist in den USA in 35 Staaten die Todesstrafe wieder legal; in sieben Staaten darf sie schon gegen vierzehnjährige Jugendliche und in Indiana gegen zehnjährige Kinder ausgesprochen werden.

In den USA sitzen über 1700 Männer und Frauen in den Todeszellen. 28 Staaten haben dagegen die Todesstrafe total abgeschafft, und zwar seit 1978 jährlich je ein Land. Frankreich, eine der ältesten Demokratien, entschloß sich erst 1981, auf die Guillotine zu verzichten. In Deutschland hob nach der November­revolution 1918 der Rat der Volksbeauftragten zwar die Gesindeordnung auf, »vergaß« aber, die Todesstrafe abzuschaffen. Erst 1949 hat das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland als Reaktion auf das mörderische Naziregime die Todesstrafe aufgehoben.

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Während man in einigen wenigen demokratischen Ländern heute bestrebt ist, Gefängnisse überflüssig zu machen, werden jedoch in anderen Demokratien so viele Freiheitsstrafen verhängt, daß die Gefängnisse überfüllt sind und das Personal, an dem immer mehr gespart wird, für humane Behandlung der Gefangenen keine Kraft und Zeit mehr hat. In den USA hat sich laut Angaben der American Civil Liberties Union die Zahl der Häftlinge in den letzten acht bis zehn Jahren von 300.000 auf fast 600.000 erhöht, was zu immer häufigeren Gefängnisrevolten führte. Auch in England befinden sich mehr Verurteilte in Gefängnissen als je zuvor, so daß, wie die National Association for the Care and Resettlement of Offenders berichtet, die Verhältnisse für Häftlinge und Aufsichts­personal gleichermaßen unerträglich geworden seien. 

Von den Mitgliedsländern des Europarats hat nicht zufällig der Folterstaat Türkei mit 0,171 Prozent Gefangenen der Gesamtbevölkerung die meisten Häftlinge. Es folgen aber schon Österreich mit 0,114 Prozent und die Bundesrepublik mit 0,104 Prozent. Am besten schneidet noch die Schweiz mit 0,062 Prozent ab. Wenn man bedenkt, daß z. B. in der Bundesrepublik über 43 Prozent der Gefangenen wegen Lappalien Strafen von weniger als einem Jahr abbüßen und daß 77 Prozent der Häftlinge zum großen Teil schon mehrmals vorbestraft waren, so kann man verstehen, daß die Kritiker der Justiz Gefängnisse als Brutstätten der Kriminalität ablehnen.

Die weltweite Zunahme der Repression seitens der Staatsmacht wird besonders deutlich, wenn wir bei Amnesty International lesen, daß es in der Welt etwa 1,5 Millionen politische Gefangene gibt; daß sich die Zahl der Hinrichtungen 1980/81 verdreifacht hat; daß zwischen 1968 und 1983 zwei Millionen Menschen Opfer schnellgerichtlicher oder willkürlicher Hinrichtungen geworden sind und daß mehr als eine halbe Million Personen »verschwunden« sind.

Mit diesen schreckenerregenden Zahlen ist der gegen die herrschenden Mächte gerichtete Terrorismus, der in den letzten Jahrzehnten häufiger geworden ist, quantitativ nicht zu vergleichen. Sein Ausmaß wird durch die Mächtigen und Besitzenden, die die öffentliche Meinung stark prägen und ihre eigenen Untaten zu verschleiern suchen, gewaltig übertrieben.

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Dennoch besteht kein Zweifel, daß dieser Terror bestimmter sprachlicher oder regionaler, politischer oder religiöser Minderheiten oder gar verzweifelter einzelner unter dem Druck der allgemeinen Krise von Gesellschaft und Staat stark zugenommen hat. Eine Minderheit innerhalb der Minderheiten reagiert ihre Verzweiflung mit sinnlosem Terror ab und richtet mit Hilfe der modernen Vernichtungstechnik verheerende physische und psychische Schäden an. So wird ein fehlerhafter Kreislauf in Gang gesetzt, da die Machthaber mit immer schärferen Repressionen antworten. Sie fühlen sich durch die sich ausweitende und vertiefende Krise verunsichert und sind daher immer mehr versucht, ihre Machtpositionen mit allen Mitteln aufrechtzuerhalten und auszubauen. 

Von ihrem Standpunkt aus scheint ein Maximum an Staatsterror und Repression rational und zweckdienlich, da sie sich so ihrer »Feinde« entledigen zu können glauben. Sie übersehen dabei, daß ihre Repressions­maßnahmen auf unerwarteten Widerstand stoßen und den Gegner stärken können, insbesondere wenn sich die Terrorapparate verselbständigen und ihre Handlanger die gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen ihrer Untaten verkennen.

So absurd es auch scheinen mag, verheimlichen die Terrorstaaten heute ihre Grausamkeiten und legen ohne jede Scheu Lippenbekenntnisse zu den Grund- und Menschenrechten ab. Diese Heuchelei ist vielleicht, um den französischen Moralisten des 17. Jahrhunderts La Rochefoucauld zu zitieren, der Tribut, den das Laster der Tugend zahlt. Immerhin mag es ein Fortschritt sein, daß man es nicht mehr wie im Mittelalter wagt, die Grausamkeiten öffentlich zur Schau zu stellen und sich ihrer noch zu rühmen, daß umgekehrt heute so gut wie alle Staaten einen ganzen Katalog von Menschenrechten, die von den Vereinten Nationen und anderen Weltorganisationen proklamiert worden sind, anerkennen. In New York oder Genf bekennen sich die Staatsmänner aus Ost und West, Nord und Süd feierlich zu den Prinzipien, die Eugen Kogon einmal »politische Weltmoral« genannt hat.

Diese Schizophrenie — demokratisch-humanistische Ethik auf der einen und inhumanste Grausamkeit auf der anderen Seite — spiegelt den heutigen Zustand der Menschheit wider, die einerseits in 160 Staaten, drei oder vier Welten und zwei Machtblöcke aufgespalten ist, sich aber andererseits bewußt zu werden beginnt, daß nur friedliche Koexistenz das Leben und Überleben aller zu sichern vermag.

In einer Welt, in der die Kulturen immer näher aneinander rücken, in der Entfernungen überwunden werden und technische Errungenschaften alle von allen abhängiger machen, wirken sich Gewalt, Repression und Terror immer zerstörerischer aus. Auf Dauer wird Gewaltsamkeit nicht auf einzelne Staaten beschränkt bleiben. Die Repression im Inneren der Terrorregime mag früher oder später in Aggressivität nach außen umschlagen und dadurch auch die Weltkriegsgefahr erhöhen.

Will man einer solchen Entwicklung entgegenwirken, muß man sich dafür einsetzen, daß der Demontage der Demokratie Einhalt geboten wird. Nicht nur gilt es, die vorhandenen demokratischen Institutionen innerhalb der Demokratien zu stärken und auszubauen, sondern auch demokratische Bewegungen in autoritären Staaten zu ermutigen und zu stützen. 

Das bedeutet u.a., daß die Menschen­rechte national und international sogar auf Kosten der Souveränität der Einzel­staaten durchgesetzt und zu einem unabding­baren Bestandteil des politischen Alltagslebens werden.

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https://de.wikipedia.org/wiki/Eugen_Kogon  *1903 in München bis 1987

 

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