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1.4 - Prognostik

Flechtheim-1987

 

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Die Voraussage oder Prognostik ist ein menschliches Bedürfnis, das sich in früheren, statischeren Zeiten auf die persönliche Zukunft des Individuums beschränkte. Wir sprachen schon vom "homo prognosticus" im Gegensatz zum Tier, das von seiner Zukunft nichts weiß. 

Jeder Mensch wußte und weiß heute genau, daß ihm gewisse Dinge bevorstehen, auf die er keinerlei Einfluß hat. Niemand zweifelt daran, daß er sterben wird, daß er sich innerhalb von Raum und Zeit bewegt, daß er essen, trinken und schlafen muß, und zwar nicht nur heute, sondern auch morgen und übermorgen. Voraussagen dieser Art beruhen allerdings auf Alltagserfahrungen, für die es keines wissenschaftlichen Apparats und keiner besonderen Terminologie bedarf, die aber dennoch die Voraussetzung für alle Wissenschaft sind und über die der Durchschnitts­mensch ebenso gut Bescheid weiß wie der Spezialist.

Mit der Entwicklung der Naturwissenschaften wurde es möglich, bestimmte Naturvorgänge vorauszusagen, die eintreffen werden, wenn bestimmte Voraus­setzungen bestehen. Das "Wenn etwas so ist, dann wird etwas so sein" bleibt in der Naturwissenschaft morgen ebenso gültig, wie es das heute ist, und dies trotz moderner Theorien von den Grenzen der Kausalität und der vielen Zweifel moderner Physiker an der eindeutigen Determiniertheit der Dinge.

Im täglichen Leben bleiben in der Natur und für den Menschen als einem Teil der Natur bestimmte wichtige Vorgänge und Umstände durchaus voraussagbar. Der Begriff der Prognose selbst stammt aus der Medizin, wo versucht wird, bestimmte Krankheitsverläufe oder Heilungsprozesse aufgrund einer Diagnose des biologischen Zustands des Patienten vorauszusagen.

Moderne gesellschaftliche und kulturelle Prozesse sind oft so komplex und dynamisch, daß sie mit dem "gesunden Menschen­verstand" allein nicht mehr erfaßt werden können.

Es bedarf alsdann besonderer wissenschaftlicher Anstrengungen, um die gesellschaftliche Realität so durchschaubar und voraussehbar wie möglich zu machen.

Seit dem Zweiten Weltkrieg wurden in den USA nicht zuletzt im Dienste der Streitkräfte und der großen Unternehmen die Techniken der Prognostik zu einer umfangreichen Disziplin entwickelt.

Es gibt eine Unzahl von Prognosekategorien. So hat man etwa unterschieden nach dem Prognoseobjekt, dem Prognoseumfang oder dem Prognosezeitraum, dem Prognosezweck und der Prognosemethode. Wichtig ist die Unterscheidung zwischen der intuitiven, phantasievollen Vorausschau und dem explorativen, analytischen und wissenschaftlich mehr oder weniger exakten Versuch, etwa das, was vor uns liegt, möglichst genau und äußerstenfalls sogar quantitativ vorauszusagen. Zwischen diesen beiden Prognoseformen gibt es zahlreiche Techniken, in denen das eine oder das andere Moment stärker hervortritt. Die Schätzungen variieren zwischen zwanzig Grundtypen und dreihundert speziellen Methodologien. Hier sollen nur einige wenige besonders beachtenswerte Verfahren kurz skizziert werden.

Bei der explorativen Vorausschau spielen insbesondere die Zeitreihen und Trendextrapolationen oder Projektionen eine große Rolle. Man unterstellt beispielsweise, daß sich die Bevölkerung um dieselbe Rate vermehren wird wie in der Vergangenheit. Oder man überträgt die Zuwachsrate einfach auf die Zukunft, so fragwürdig das sein mag, denn die Trends flachen in der Regel früher oder später ab. Eine unbegrenzte Vermehrung der Bevölkerung auf unserem begrenzten Planeten ist kaum vorstellbar, allein schon aus Platzmangel. Häufig beginnt Wachstum langsam, um sich dann zu beschleunigen und schließlich wieder zu verlangsamen. Graphisch dargestellt sieht die Kurve dann wie ein langgestrecktes großes "S" aus.

Verfeinert wird die Methode, wenn man in die Berechnung z.B. des Zementzuwachses wichtige Bestimmungsfaktoren wie den durch Wohnungsbau, Straßenbau usw. verursachten Bedarf mit einbezieht. Diese Faktoren sind aber nicht unabhängig voneinander. Sie hängen zudem wiederum von anderen Einflußgrößen wie dem allgemeinen Konjunkturverlauf, dem Geschmack, den Erfindungen usw. ab. Auch diese sind nicht feststehende Größen; sie reichen so weit zurück, daß man irgendwo die Rückverfolgung abbrechen muß.

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Bei jeder Trendextrapolation setzt man voraus, daß die zukünftige Entwicklung der zu prognostizierenden Größe oder der als Hilfswerte herangezogenen Größen ganz in der Vergangenheit begründet ist. Je weiter wir aber in die Zukunft vorstoßen, um so geringer wird das Gewicht mancher vergangenen Größen. Selbst bei so relativ einfachen Extrapolationen wie der Zement­produktion oder dem Bevölkerungszuwachs bricht immer mehr Neues, Unvorhergesehenes oder gar Unvorhersehbares in die Zukunft ein. Denken wir nur daran, welche weitreichenden Veränderungen eine noch nicht bekannte Verknappung der Rohstoffe oder Energiequellen, eine grundlegende Erfindung, ein Klimaumschwung oder ein Erdbeben, von Katastrophen wie atomaren Kriegen ganz zu schweigen, mit sich bringen würden.

Aber es gibt auch auf Trends beruhende voraussehbare Entwicklungen verschiedenen Ursprungs, die, wenn sie aufeinander­stoßen, einander verändern, etwa einander verstärken oder bremsen. Um diese voraussehbaren Wechselwirkungen zu bestimmen, wurden sogenannte Wechselwirkungs-Matrix-Methoden entwickelt. Sie ermöglichen die Berichtigung der Voraussage von Einzelereignissen, die in einem bestimmten Bereich miteinander in Beziehung treten, oder auch die Voraussage neuer Einzelereignisse, die sich aus dem Zusammenwirken früherer Einzelereignisse ergeben.

So entstand der erste Atomreaktor aus einem Miteinander vorangegangener technischer, ökonomischer, politischer und wissenschaftlicher Entwicklungen und setzte seinerseits wieder eine Unzahl neuer Entwicklungen in Gang. Die mathematischen Berechnungsmethoden hier auseinanderzusetzen wäre zu schwierig. Wichtig ist nur, daß das Zusammenwirken vieler Einzelereignisse auch durch menschliche Entscheidungen beeinflußt wird. Um die Wirkung möglicher Entscheidungen vorauszusehen, wurden Entscheidungs-, Abhängigkeits- oder Bedeutungsbäume konstruiert. Es handelt sich um Diagramme, die die möglichen Ergebnisse alternativer Entscheidungen darstellen und dadurch demjenigen, der die Entscheidung zu fällen hat, die ihm verfügbaren Optionen aufzeigen.

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Umgekehrt ist es mittels der sogenannten projektiven Methode möglich, sich für ein bestimmtes Zukunftsziel zu entscheiden und dann rückwirkend nachzuforschen, welche Voraus­setzungen in der Gegenwart herzustellen sind, um die Verwirklichung dieses Ziels zu erreichen. Es ist dann zu prüfen, ob diese Voraussetzungen aufgrund der Wahrscheinlichkeit einzelner Teilfaktoren auch zu schaffen sind. Auch hier kämen die Wechselwirkungsmatrix und die Entscheidungsbäume zur Anwendung.

Auch die Technik der Morphologie gehört teilweise zur explorativen Vorausschau. Sie wurde schon 1942 von Fritz Zwicky in den USA entwickelt. Das zu lösende Problem wird zunächst genau umschrieben und die Lösung des Problems zweckmäßig verallgemeinert. Die wichtigsten bestimmenden Merkmale, die sogenannten Parameter, werden aufgezählt. Sie treten in verschiedenen voneinander unabhängigen Erscheinungsformen auf. Bei dem Lösungsversuch muß jeder Parameter in einer seiner Erscheinungsformen enthalten sein. Je mehr Erscheinungsformen die Parameter besitzen, um so zahlreicher die Veränderungs­möglichkeiten, die zuerst wertfrei festgestellt werden.

Als Beispiel: Ein neugegründetes Restaurant entwirft seine Speisekarte. Es möchte Menüs mit Vorspeise, Suppe, Hauptgang, Nachtisch und Getränken anbieten. Das aufzustellende Menü ist das Problem, die einzelnen Gänge sind die Parameter, deren Erscheinungsformen alle bekannten genießbaren Speisen und Getränke sein können. Aus der Unzahl der Möglichkeiten trifft der Restaurantbesitzer vereinfachend nach bestimmten Werten intuitiv eine Auswahl. Wenn er vorausberechnet, welche Zusammen­stellung von Speisen für seinen Betrieb erfolgreich sein wird, bedenkt er Faktoren wie Bekömmlichkeit, Geschmack, Kaloriengehalt und sicherlich nicht zuletzt den Preis. Dieses Beispiel wurde der Anschaulichkeit halber gewählt. Die morphologische Methode soll vor allem bei Prognosen über Erfindungen, technologische Neuerungen, Städteplanung usw. dienen.

Sicherlich überschneiden sich diese verschiedenen Methoden. Das gilt auch für die Spieltheorie, in der versucht wird, eine mathematische Formulierung von idealisierten Konfliktsituationen zu schaffen.

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Solche Situationen findet man bei den sogenannten Gesellschaftsspielen wie Schach oder den Kartenspielen, die tatsächlich den Überlegungen der Spieltheorie zugrunde liegen. Zwei oder mehrere Personen streben hier unter gewissen Beschränkungen, die durch Regeln auferlegt sind, nach unvereinbaren Zielen.

Die Spieltheorie klassifiziert Spiele nach den Problemen, die sich aus ihrer Analyse ergeben. So unterscheidet man zwischen Zwei-Personen-Spielen und N-Spielen, d. h. Spielen, an denen mehr als zwei Spieler beteiligt sind. Das Spiel wird als Null-Summen-Spiel bezeichnet, wenn der eine Spieler immer so viel verliert, wie der andere gewinnt. Ein solches "Spiel" wäre etwa die Auseinandersetzung im Rüstungs- und Abrüstungsbereich der Großmächte. Die Spieltheorie zeigt uns aber auch, daß es Spiele geben kann, bei denen der gemeinsame Gewinn der Spieler größer ist als der Verlust, den jeder erleidet. Für die Menschheit wäre der Gewinn aus einer totalen Abrüstung erheblich größer als der Verlust aller beteiligten Mächte an Einfluß, Sicherheit usw.

Von der Spieltheorie nicht zu trennen ist die Methode der Simulation. Auch hier werden erfundene, also simulierte Situationen "durchgespielt". Modelle werden konstruiert, die wirklich vorhandenen Systemen ähneln, und man experimentiert mit ihren Auswirkungen unter Voraussetzungen, die in der Realität nicht immer ausprobiert werden können, da ein wirkliches Experiment zu kostspielig oder moralisch nicht vertretbar wäre. Die Spieler lernen die für das Problem wichtigen Parameter, übernehmen eine zuvor fremde Rolle und treten in ein neues Verhältnis zueinander. Es werden also sozusagen auf dem Reißbrett menschliche Beziehungen erprobt, verändert und gelenkt.

Mit der Simulationsforschung will man bestimmte Wesenszüge echter Konflikte unter ähnlichen, aber vereinfachten Bedingungen aufhellen. Die Simulation kann nur der Formulierung von Hypothesen und der Gewinnung von Einsichten in gesellschaftliche Prozesse dienen. Absolute Aussagen über die Wirklichkeit läßt sie nicht zu. Dennoch geben Simulationen Impulse, die durch ständige Überprüfung zu neuen Impulsen führen können.

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Die elektronische Datenverarbeitung bietet der Simulationsforschung wesentliche Erleichterungen. Die rasche und sichere Verarbeitung der Daten bringt Zeitersparnis. Die Computer können sogar selber als Akteure eingesetzt werden.

Die gesellschaftlichen Prozesse, aus denen diese neuen Techniken hervorgingen, haben hauptsächlich mit dem militärischen Bereich zu tun. Die Militärs haben auch früher schon immer mit dem Krieg "gespielt". Nach wie vor vertreiben sie sich auch im Frieden ihre Zeit mit Sandkasten- oder Kriegsspielen. Kostspielige Manöver werden durchgerührt, um den Verlauf kommender Kriege möglichst genau vorauszusehen (und natürlich zu gewinnen!). Ebensogut können die neuerarbeiteten Methoden aber auch lebenserhaltenden Zwecken dienen. Durch Computer-Simulationen wurden zum Beispiel die Komponenten, die zur Luftver­schmutzung führen, festgestellt und Möglichkeiten einer Verbesserung erprobt. Man könnte sich auch vorstellen, daß mit Hilfe von Simulationen Situationen geschaffen werden, welche die gesellschaftliche Arbeit oder das Einkommen so verteilen, daß Arbeitslosigkeit und Armut beseitigt werden.

Es hat in den letzten Jahren aufsehenerregende Versuche gegeben, Weltmodelle zu konstruieren, in denen die Hauptvariablen für das Überleben der Menschheit miteinander in Beziehung gesetzt werden. Mit Hilfe von Zahlenreihen über Bevölkerungs­wachstum, Lebensmittelproduktion, Rohstoffverbrauch, Umweltverschmutzung, Kapitalinvestitionen und sogar Lebens­qualitätsziffern wollte man herausfinden, was zu geschehen hätte, damit die Menschheit im nächsten Jahrtausend überlebt. Dabei ging man oft mehr von Zielvorstellungen als von reinen Extrapolationen aus. Die Ergebnisse sind widersprüchlich.

 

Wichtig ist noch die intuitive Vorausschau. In ihr vermischen sich Erfahrungen und Sachinformationen mit mehr oder weniger genialer Phantasie. Dazu gehört auch das sogenannte "brain storming", eine Art freier Assoziation, von Teilnehmern an einem Gespräch zu einem bestimmten Thema. Alles, was ihnen durch den Kopf geht, wird ungehemmt ausgesprochen, aber nicht im einzelnen analysiert und diskutiert.

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Aus vielen, zum Teil unsinnigen Ideen kristallisieren sich je nach dem Niveau der Teilnehmer mehr oder weniger brauchbare Anregungen heraus. Robert Jungk arbeitet in seinen bekannten Zukunftswerkstätten auch mit "brain storming".

Eine Verfeinerung dieser Methode stellt die von Olaf Helmer entwickelte Delphi-Methode dar. In Anlehnung an das berühmte griechische Orakel wird eine Anzahl sorgfältig ausgewählter Experten schriftlich nach ihrer Meinung zu einem genau formulierten Problem befragt. Diese Experten sehen einander nicht; so werden Rangunterschiede, emotionale Reaktionen und andere subjektive Faktoren möglichst ausgeschaltet. Zudem werden die von allen beantworteten Fragen den Teilnehmern noch zweimal zugeleitet, bevor bei größtmöglicher Übereinstimmung die endgültige Auswertung erfolgt. Ergeben die Antworten im ersten Durchgang, daß die Fragen nicht genau formuliert waren, so werden die Fragebögen vor der Wiederholung der Fragen noch korrigiert.

Berühmt geworden ist die Studie der U.S. Rand Corporation von 1963/64, in der prominente Zukunftsforscher mit Themen wie Wettervoraussagen, Automation, Bevölkerungsentwicklung, Raumfahrt, Kriegsverhütung usw. konfrontiert wurden. Freilich entpuppten sich nicht wenige der damaligen Voraussagen als Fehldiagnosen: So glaubte etwa die Hälfte der Befragten, daß es bis 1975 gelingen würde, das Wetter genau vorauszubestimmen. Andere prognostizierten eine Raumstation mit zehn Mann Besatzung für die Zeit von 1970 bis 1975.

Zu allen erwähnten explorativen und auch intuitiven Methoden der Vorausschau muß kritisch angemerkt werden: Die jeweilige Versuchsleitung geht fast immer davon aus, daß die gegenwärtigen Werthaltungen, Gesellschaftsstrukturen, Wirtschaftssysteme und politischen Machtkonstellationen im wesentlichen unverändert bleiben.

 

Am wenigsten anfällig für eine solche konservative, d.h. mehr oder weniger vergangenheitsorientierte Grund­haltung ist die Methode des Szenarios, die ebenfalls in den Vereinigten Staaten entwickelt wurde.

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Der Begriff ist der Film- und Theaterwelt entnommen und bezog sich zunächst auf das Filmdrehbuch. Es werden verschiedene Zukünfte durchgespielt, wobei auch versucht wird, die Wege in diese Zukünfte schrittweise zu erläutern und alternative Möglichkeiten aufzuzeigen. Dabei spielt die kreative Phantasie eine größere Rolle als etwa bei der Simulation. Insofern ist ein Szenario sogar der Utopie verwandt. Während jedoch der Utopist sich auf die Darstellung einer bestimmten, ihm vorbildlich erscheinenden Zukunftswelt beschränkt und der Anti-Utopist vor einer bestimmten Schreckenswelt warnt, versucht der Verfasser von Szenarios, dem Leser mögliche, wahrscheinliche und wünschenswerte Zukünfte näherzubringen. Man hat überspitzt formuliert, daß Utopien von Unzufriedenen oder gar Revolutionären erdacht werden, während die Szenaristen mit festem Gehalt in Denkfabriken oder Forschungsinstituten angestellt sind.

Wir haben im vorangegangenen nicht nur Prognose-Methoden analysiert, sondern auch auf die Bedeutung von Prognoseobjekten, Prognose-Bereichen und Prognose-Inhalten hingewiesen. Je weniger individuell geprägt das Prognose-Objekt, je begrenzter der Prognose-Umfang. Je kürzer der Prognose-Zeitraum, um so leichter läßt sich Genaueres voraussagen. Wir haben auch schon betont, daß es bei weitem einfacher ist, Naturvorgänge zu prognostizieren als gesellschaftliche Entwicklungen. Aber auch innerhalb des gesellschaft­lichen Bereichs macht es einen Unterschied, ob man wirtschaftliche, soziale oder politische Entwicklungen voraussagt. Wirtschaftliche und soziale Daten im engeren Sinne sind von rein persönlichen Entscheidungen und Zufällen weniger abhängig als politische Ereignisse. Sie lassen sich leichter statistisch erfassen, obwohl auch Konjunktur­prognosen oder Bevölkerungsbewegungen nicht selten wenig exakt prognostiziert werden.

 

Es wäre jedoch verfehlt, behaupten zu wollen, daß es in der Politik überhaupt keine Regelmäßigkeiten gibt und hier nichts vorauszusehen wäre. Evolutionäre Prozesse und kontinuierliche Trends, eindeutige Tendenzen und langsame Struktur­veränderungen, vor allem aber auch fixierte Verhaltensweisen, relativ stabile Gruppierungen und feste Institutionen, lassen sich ohne große statistische Kenntnisse voraussagen.

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Ähnlich steht es mit der Fortdauer von Parlamenten, Bürokratien oder Gerichtssystemen über längere Zeiträume hinweg. Epochale Gewichts­verlagerungen in der Weltpolitik wie der Aufstieg der USA und Rußlands kommen nicht ohne Warnung über Nacht. Darüber hinaus lassen sich Prozesse der Demokratisierung und Parlamentarisierung, der Sozialisierung und Entkolonialisierung in ihren wichtigen Zügen oft schon früh erkennen. Selbst dort, wo sich kein eindeutig vorherrschender Trend abzeichnet, vielmehr das Gegeneinander von Tendenzen wie etwa "Demokratisierung" gegen "Bürokratisierung" ins Auge fällt, wird man doch gelegentlich das relative Gewicht der antagonistischen Momente, wenn auch nur annäherungsweise, zu bestimmen vermögen. Quantitativ eindeutige Prognosen mögen in solchen Fällen nicht oder noch nicht möglich sein.

Die quantitativ ausgerichtete Technik der Wahlprognose hat dagegen in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte gemacht. Man kann zum Beispiel für England oder die Bundesrepublik Kurven für die Wahlerfolge verschiedener Parteien in die Zukunft projizieren. Es wäre aber natürlich falsch, daraus folgern zu wollen, daß eine Partei so wie bisher weiterwachsen müßte, ja schließlich sogar an die hundert Prozent aller Stimmen bekommen würde. Wir wissen, daß sie im Gegenteil früher oder später einen Sättigungsgrad erreichen und möglicherweise auch wieder zurückgehen kann. Wo, wann und wie — das hängt von einer ganzen Anzahl von Faktoren ab: der Wirtschaftsentwicklung, der Weltpolitik, der Strategie der verschiedenen Parteien, ja sogar von der Charakterstruktur, Mentalität und Ideologie der alten und neuen Wähler.

Einzelne Ereignisse lassen sich, wenn überhaupt, nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit voraussagen, wenn und insoweit sie Bestandteil eines allgemeinen Trends oder Zusammenhangs sind. 1952 hat der Verfasser die Ernennung eines Schwarzen zum Richter am amerikanischen Obersten Gerichtshof vorausgesagt, ebenso wie die Zunahme der Anzahl der Staaten auf fünfzig. Beide Prognosen haben sich inzwischen als richtig erwiesen. Ähnlich konnte man voraussehen, daß eines Tages unter den Richtern jenes Gerichtshofs auch eine Frau sitzen würde. Wann aber eine Frau Richterin würde und um wieviel Prozent das Budget wachsen würde, war kaum genau vorauszusagen.

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Allgemeine Trends und Zusammenhänge sind nicht immer offensichtlich. Es gibt unterirdische Strömungen, die nur wenige, sensible, von den vorherrschenden Meinungen unabhängige Geister intuitiv verspüren und auszusprechen wagen. So haben bereits im 19. Jahrhundert mehrere Autoren den Ausbruch des Ersten Weltkriegs richtig vorhergesagt. Friedrich Engels hat sogar nicht nur einige wichtige Aspekte des Ersten, sondern auch des Zweiten Weltkriegs zutreffend prognostiziert. Schon 1933 hat H.G. Wells den Beginn des Zweiten Weltkriegs fast auf den Monat genau vorausgesagt und sogar ausgeführt, der Krieg werde zwischen Deutschland und Polen anläßlich eines Konflikts um die Freie Stadt Danzig ausbrechen. 

Solche dem Durchschnitts­menschen unheimliche, fast prophetische Einfälle kommen auch Naturwissenschaftlern. Niels Bohr hat gesagt, er verdanke sein Atommodell vor allem dem Umstand, daß seine Abwehr gegenüber verrückten Ideen infolge seiner Müdigkeit geschwächt gewesen sei.

Hier erhebt sich die Frage, die offenbleiben muß, inwieweit es einzelnen Genies möglich ist, aus dem, was Robert Jungk das "Zeitgefängnis" genannt hat, auszubrechen und etwas total Neues vorwegzunehmen. In der Kunst mag das eher möglich sein als in der klassischen Wissenschaft; heute verschwimmen aber auch die Grenzen zwischen Kunst und Wissenschaft immer mehr — nicht zuletzt in der Futurologie.

Das Verhalten des Menschen ist Bestandteil der sich entfaltenden Zukunft. Menschliche Handlungen und Unterlassungen sind daher bei der Vorhersage möglichst genau zu berücksichtigen. Die Voraussagen selber beeinflussen aber auch oft merklich die Zukunft. Schon Kant wußte, daß eine "Geschichte a priori" möglich sei, "wenn der Wahrsager die Begebenheiten selber macht und veranstaltet, die er zum voraus verkündigt". Hitler sieht den Krieg mit Polen voraus, da er ihn selber entfesselt. Der Börsenspekulant antizipiert eine Hausse der Kurse, die er durch seine eigenen Käufe, möglicherweise aber auch durch die anderer Spekulanten, herbeiführt.

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Es ist also möglich, daß eine Voraussage andere veranlaßt, sich so zu verhalten, daß sie eintrifft. In der Fachsprache der Zukunfts­forschung nennt man diesen Vorgang eine sich selbst erfüllende Vorhersage (self-fulfilling prophecy). Als Beispiel diene der Schüler, der das Examen besteht, da die positive Voraussage des Lehrers ihn zu besseren Leistungen anspornt. Ein anderes Beispiel wären die Wähler, die aufgrund der Voraussage, daß eine Partei bei den nächsten Wahlen mehr als 50 Prozent der Stimmen erzielen wird, sich gerade für diese Partei entscheiden (bandwagon effect).

Andererseits konnte Hitler zwar den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs richtig voraussagen, da er die Macht hatte, ihn zu entfesseln, doch wurden seine Sieges­prophezeiungen nicht zu einer sich selbst erfüllenden Voraussage, da die objektiven Widerstände zu groß waren. Vor dem Eintritt der Sowjetunion und der USA in den Krieg schien 1940 in der Tat der Sieg über Frankreich endgültig zu sein, und die meisten wissenschaftlichen Prognosen hätten damals wohl so oder ähnlich gelautet. Nicht zufällig hat sich ein Mann wie Laval, der als "Realist" stets mit den stärkeren Bataillonen zu marschieren pflegte, auf die Seite Hitlers geschlagen. Ein "Idealist", ein Mann mit Prinzipien vom Schlage eines de Gaulle, handelte entgegen aller Wahrschein­lichkeit anders und sollte dann schließlich sogar recht behalten. Trotz aller Prognostik zeigt sich hier, wie groß der Freiraum des Menschen bleibt; er hat unter Umständen die Möglichkeit, sich auch gegen eine große Wahrscheinlichkeit zu stellen und am Ende als Sieger dazustehen.

 

Es gehört zur Problematik der Prognose, daß sie unter Umständen das Verhalten des Prognostikers selber problematisch macht. Wenn er z.B. bei einer Wahl dem von ihm selber prognostizierten Ausgang nicht neutral gegenübersteht, vielmehr den Sieg einer Partei für verhängnisvoll hält, mag er versucht sein, die Bekanntgabe oder Verbreitung seiner Prognose zu unterlassen, um nicht einer gegnerischen Partei Wahlhilfe zu leisten. Eine solche Verheimlichung von Information mag früher an das Berufsethos des Wissenschaftlers gerührt haben. Heute hält man wissenschaftliche Aussagen nicht mehr für sakrosankt.

Doch würde er auch heute unethisch handeln, wenn er unter Verletzung des Gebots, nur der Wahrheit zu dienen, seine Wahlprognose verfälschte, um den "bandwagon effect" zu verhindern oder zu verringern. Auch der Wissenschaftler, dessen Dienst an der Wahrheit bisher für unproblematisch gehalten wurde, befindet sich in dem gleichen Dilemma wie der Alltagsmensch, der glaubt, lügen zu müssen, um einen Schaden zu verhindern. Bleibt vielleicht hier für beide nur der Ausweg, in solchen Situationen auf das Aussprechen der Wahrheit, d.h. auf total konsequentes Verhalten, wie es L. Kolakowski rät, zu verzichten?

Ähnliche Probleme ergeben sich bei der sich selbst vernichtenden Prognose (self-destroying prophecy). Einige einfache Beispiele: Der Schüler fällt knapp durch, da er sich so sehr auf die Prognose seines Erfolges verläßt, daß er nun zu wenig arbeitet. Eine Partei verliert den Wahlkampf, da ihre Siegesgewißheit sie allzu bequem und passiv macht. Auch hier stellen sich für Prognostiker ähnliche ethische Probleme. Sowohl bei der sich selbst erfüllenden wie bei der sich selbst vernichtenden Prognose kann bei bestimmten charakterlichen Voraussetzungen des Angesprochenen eine Reaktion erfolgen, die das Gegenteil der Voraussagen bewirkt.

Ob eine sich selbst erfüllende oder sich selbst vernichtende Vorhersage eintrifft oder ob jede Art der Voraussage sich als falsch erweist, hängt zwar vom Selbstvertrauen und Einfluß der Prognostiker, vor allem aber von objektiven Faktoren ab. 

Marx prophezeite das Ende des Kapitalismus und den Sieg des Sozialismus und Kommunismus. Er vertraute auf die Richtigkeit seiner Analysen und auf die überwältigende Unterstützung der Massen. In Wirklichkeit trug sein Wirken dazu bei, daß er Kapitalismus sich reformierte und regenerierte. Insoweit haben sich die Marx'schen Prognosen eher als sich selbst vernichtende Vorhersagen entpuppt. 

Ironischerweise ist es so auch der berühmtesten seiner Feuerbach-Thesen ergangen. Marx hatte erklärt: "Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt darauf an, sie zu verändern." Der Philosoph Marx hat in der Tat die Welt verändert — allerdings in einer Richtung, die er z.T. ebensowenig vorausgesehen hat wie seine Gegner.

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