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Einleitung

Flechtheim-1987

 

11-14

Die älteren von uns haben den größten Einschnitt in der Geschichte der Menschheit miterlebt, den diese je gekannt hat. Gemeint ist der Abwurf der Atom­bombe auf Hiroshima und Nagasaki am 6. und 9. August 1945. Seither liegt das Ende der Menschheit in der Hand einiger weniger Menschen. Man mag dies immer wieder vergessen — es bleibt dabei, daß die Menschheit mit den Nuklearwaffen unter der ständigen Drohung ihrer totalen Auslöschung dahinlebt.

Diese Existenzweise - das zeigt sich immer deutlicher - ist mit keiner früheren gleichzusetzen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Menschen, unser Mit-, Neben- und Gegen­einander, unser Wirken und Schaffen, Wachen und Träumen erscheinen in einem neuen Licht.

Selbst unsere epochale Leistung, die Bezwingung des Weltraumes, wird von Hiroshima überschattet. Als 1969 der erste Mensch auf dem Mond landete, war Hiroshima von vielen verdrängt. Damals schien es nur noch eine Frage der Zeit, bis Reise­gesell­schaften Mondfahrten in ihr Programm aufnehmen würden. Grundstücks­spekulanten sollen bereits Grund und Boden auf dem Mond verkauft haben. Ernsthafte Gelehrte machten sich Gedanken darüber, wann die erste Reise zu den Planeten stattfinden würde. Ja, ein bekannter Physiker meinte, das Bevölkerungs­problem auf der Erde könnte durch die Besiedelung der Planeten gelöst werden.  [detopia-2024: Vermutlich Hawkins gemein]

Nach 1945 war trotz des Kalten Krieges der Weltkrieg ausgeblieben. Die Supermächte schienen im Zeichen der Entspannung einander näher zu rücken. Kommunismus und Kapitalismus hatten für den jeweiligen Gegner etwas von ihrem Schrecken verloren. Mit der Wirtschaft war es wieder aufwärtsgegangen. Dank der wissen­schaftlich-technischen Revolution wurden die Menschen in den Industriestaaten mit immer mehr Waren und Dienst­leistungen überschüttet. Den unterentwickelten Ländern, so hoffte man, werde die sogenannte <Grüne Revolution> binnen kurzem Brot und andere Nahrungsmittel verschaffen. In Ost und West glaubte man, der Mensch werde seiner uralten Probleme - Hunger und Not, Krankheit und Tod - schon bald Herr werden. Die Lebens­erwartung würde weiter ansteigen, und der Lebensstandard würde sich überall verdoppeln und verdreifachen.

Trotzdem begann es hinter der Fassade dieser rosigen Zukunftsaussichten schon damals zu brodeln. Zu keiner Zeit war der Rüstungs­wettlauf gestoppt worden. Die Dritte Welt wurde ihrer Probleme nicht Herr. Die Vereinten Nationen konnten die Welt nicht einigen. Der erste Mensch auf dem Mond hatte dort nicht nur deren Flagge, sondern auch die der Vereinigten Staaten gehißt. Der Stimmungsumschwung in den siebziger Jahren, die sogenannte Trendwende, kam also nicht von ungefähr.

Heute fürchtet man den Dritten Weltkrieg wieder. Die Weltbevölkerung wächst unaufhaltsam und mit ihr der Hunger. Terrorismus breitet sich aus, die Staaten ziehen die Zügel an, um "Ruhe und Ordnung" zu gewähr­leisten. Im Westen kriselt es in der Wirtschaft, im Osten knistert es im ideologischen Gebälk. Multis und Ölmagnaten werden reicher — wenn auch seit kurzem mit immer neuen Strukturproblemen belastet —, die Massen werden ärmer. Man kämpft gegen eine Verknappung der Rohstoffe und der Energie, gegen Verschmutzung und Zerstörung der Umwelt. In den entwickeltsten Industriestaaten hat man die "Grenzen des Wachstums" entdeckt. Man fragt sich, ob der technische Fortschritt überhaupt so weitergehen kann wie bisher. Zum ersten Mal sinken hier und da schon der Lebensstandard und die Lebenserwartung. Die Jugend ist desillusioniert, die Frauen rebellieren, "die da oben" fühlen sich bedroht.

Manch einer erwartet noch etwas von der Zukunft, aber die Zahl derer, die sich fürchten, nimmt zu. Sollte man da nicht lieber an einer noch so unvoll­kommenen Gegenwart festhalten? Immer verzweifelter klammert sich der eine an diese; immer häufiger richtet der andere den Blick zurück auf die guten alten Tage: Nostalgie breitet sich aus, konservativ ist wieder gefragt. Wem es noch gutgeht oder wer an den Schalthebeln der Macht sitzt, möchte den jeweiligen Status quo verewigen und die Vergangenheit fortschreiben.

Im Westen verkündet man, die soziale Marktwirtschaft sei immer noch das Beste, was zu haben sei. Im Osten fragen dagegen die Wortführer die unzufried­enen Bürger, ob sie denn aus dem Westen Arbeitslosigkeit und Wirtschafts­krise importieren wollten. Schließlich garantiere "nur" ihr Sozialismus doch die Existenz eines jeden Bürgers.

Ob man die Dynamik der modernen Wissenschaft und Technik begrüßt oder beklagt, sicher ist, daß sie der alten Welt ein Ende bereitet hat, zugleich aber die neue Welt, die sie schuf, tödlich bedroht. Bleibt die Dynamik sich selbst überlassen, so kann sie den Menschen und seine Kultur hinwegspülen. Auch wenn die unvorstellbaren Massenver­nichtungs­mittel nicht eingesetzt werden sollten, zerstört schon deren Herstellung die Umwelt. 

Aber selbst wenn eine Totalkatastrophe ausbliebe, wenn die jahrhundertealten Institutionen der Menschen — der Nationalstaat, die überlieferte Privatwirtschaft, die patriarchalische Familie, die Schule und Armee — noch eine Weile standhalten und das Tempo des wissenschaftlich-tech­nischen Fortschritts etwas verlangsamen, würde eines Tages der reißende Strom über die Ufer treten und zu einer Versumpfung der Gesellschaft und Kultur führen. Die Weltwirtschafts­krise nach 1929 und die heutige schleichende Krise der westlichen Zivilisation deuten in diese Richtung.

Wollen wir weder hinweggespült werden noch im Sumpf versinken, so müssen wir unsere Institutionen verändern und den Strom der Wissenschaft und Technik in neue Kanäle leiten. Eine solche Kanalisierung setzt freilich auch voraus, daß der Mensch selbst sich ändert. Er muß welt- und zukunftsoffener denken und handeln lernen. Dazu braucht er zweierlei: einmal eine möglichst genaue Kenntnis dessen, was auf ihn zukommt, zum anderen den Willen und den Mut, eine Entwicklung aufzuhalten, die uns morgen vernichten könnte.

Die Zukunft ist niemals eindeutig festgelegt; innerhalb bestimmter Grenzen — oder, wie man heute sagt, Parameter — bleiben mehrere Wege offen. Deshalb hat die Pluralform "Zukünfte" ihre Berechtigung. Vieles mag unwiederbringlich verloren und in Zukunft nicht mehr möglich sein, aber noch können wir zwischen verschiedenen Zukünften wählen. Und wir sollten auf jene Zukunft hinarbeiten, die uns, unseren Brüdern, Schwestern und Kindern ein lebenswertes Leben ermöglicht.  

11-14

Ossip Kurt Flechtheim

 1987, Einleitung

 

 

 

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